SICK OF IT ALL

Zwei Jahre sind seit dem letzten Album "Call To Arms" vergangen. Mit "Yours Truly" meldet sich das New Yorker Hardcore-Urgestein SICK OF IT ALL eindrucksvoll zurück, um allen Zweiflern endgültig zu beweisen, dass guter Old School Hardcore nicht zwangsläufig altbacken klingen muss. Von Frontmann Lou Koller gab´s Antworten auf die drängendsten Fragen, auch wenn sein Gesundheitszustand zum Zeitpunkt dieses Interviews nicht gerade rosig war...

Oh, du hast auch gerade die Grippe", erwidert ein leicht angeschlagen klingender Lou Koller, der seit drei Tagen das Bett hütet, während ich vor Kälte bibbernd mit Fieber vor meinem Telefon im Keller hocke. Die Grippe kennt eben keine Grenzen. Grund zum Feiern gibt es trotzdem im Hause SICK OF IT ALL, weil die New Yorker ihr sechstes Album im Kasten haben, das qualitativ an das sagenhafte ´94er "Scratch The Surface"-Album anknüpfen kann, wie ich finde. "Ja, da hast du wohl Recht, die beiden Platten sind sich in gewisser Weise wirklich ähnlich." Womit zweifelsfrei der Abwechslungsreichtum der beiden Werke gemeint ist. Denn auf "Yours Truly" hören sich SICK OF IT ALL so experimentierfreudig und offen wie nie zuvor an, weshalb die Band auch kollektiv vom ihrem besten Album überhaupt spricht. "Ich denke, dass es sich um unsere aufregendste Scheibe handelt", kommentiert Lou. "Wir haben uns im Bereich des Songwritings unheimlich verbessert, obwohl wir uns schon immer von Platte zu Platte weiterentwickelt haben. Aber diesmal war der Sprung besonders groß."

Was nicht zuletzt an der toleranten Geisteshaltung der Viererbande aus dem Big Apple liegt, die sich fremden Einflüssen gegenüber nicht verschließen möchte: "Wir haben unser Soundspektrum auf "Yours Truly" bedeutend erweitert, weil wir ganz bewusst andere Musikstile integrieren wollten." Doch keine Angst, SICK OF IT ALL sind nicht von einer Old School-Band zu einer angesagten Crossover-Kapelle mutiert. Sie sind nur etwas abwechslungsreicher, strukturierter und streckenweise auch melodischer geworden, wie man anhand von Stücken wie zum Beispiel "America" oder "Souvenir" gut nachvollziehen kann. "Melodischer sind wir geworden, das stimmt. Aber wie eine Hardcore-Band aus Kalifornien klingen wir deshalb noch lange nicht", schränkt Lou ein. In solchen Sätzen schwingt der Gegensatz zwischen der Ost- und Westküste dann doch noch ein wenig mit, obwohl sich die Mannen aus dem Big Apple sich mit Fat Wreck Chords auf einem kalifornischen Label befinden.

Besonders zufrieden sind SICK OF IT ALL diesmal mit der Produktion des Albums: Mit Steve Evetts (u.a. SNAPCASE, TURMOIL) wurde ein alter Hase im Hardcore-Geschäft verpflichtet, der für einen maßgeschneiderten Sound sorgte. "Steve hat aus uns allen das Beste herausgeholt", versichert Lou. "Speziell meinem Gesangsstil hört man das an. Bei manchen Gesangslinien hat er mir durch seine Verbesserungsvorschläge sehr geholfen." Dieser Aussage kann kaum widersprochen werden, weil sich der Frontmann der New Yorker Hardcore-Legende in der Tat noch nie so klar und kraftvoll angehört hat.

Mit dem Plattentitel "Yours Truly" verbeugt man sich vor den zahlreichen Fans weltweit, die der Band jahrelang treu die Stange gehalten haben. ""Yours Truly" ist allen Anhängern gewidmet, die etwas ganz bestimmtes von SICK OF IT ALL erwarten. Wir wollen wie jede andere Band wachsen und möglichst viele Leute erreichen. Aber deswegen werden wir unseren alten Fans niemals den Rücken kehren, weil uns diese Leute erst zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Auch wenn die neue Scheibe etwas anders als noch "Call To Arms" klingt, so handelt es sich trotzdem immer noch hundertprozentig um SICK OF IT ALL." Eng verknüpft mit dem Plattentitel ist "The Bland Within", das dritte Stück auf dem Album. "Gut beobachtet", lacht Lou, "der Song sollte ursprünglich sogar den Titel "Yours Truly" bekommen. Letztendlich haben wir ihn dann aber doch anders genannt, weil Armand "Yours Truly" unbedingt als Albumtitel haben wollte, aber keinen gleichnamigen Song." Als persönliches Lieblingsstück nennt Lou jedoch "Blown Away", das erste Stück des Albums, das einen sehr nachdenklichen Hintergrund hat. "Das Stück entstand, als ich mir Gedanken über die nachfolgenden Generationen machte. Die Jugendlichen sind doch mittlerweile völlig apathisch und denken nur noch an Partys, Geld und irgendwelche Drogen. Das Weltgeschehen und soziale Probleme scheinen nicht großartig zu interessieren. Ich sage ja nicht, dass sich die Kids den ganzen Tag den Kopf über die Probleme der Welt zerbrechen sollen, aber ein bisschen mehr Interesse an der Umwelt wäre bestimmt nicht verkehrt. Und wenn mal eine politisch aktive Band wie zum Bespiel RAGE AGAINST THE MACHINE Erfolg hat, dann kommen LIMP BIZKIT mit Texten über Partys, Saufen und Autos daher. Mit dem traurigen Resultat, dass solche Bands dann noch wesentlich mehr Erfolg haben. Das will mir einfach nicht in den Kopf." Klare Worte an Fred Durst & Co., die sich mit ihrem Rockstargehabe nicht nur bei manchen Fans immer unbeliebter machen.

Womit wir durch RAGE AGAINST THE MACHINE auch schon beim Thema Politik angelangt wären, schließlich liegt der Präsidentschaftswahlkampf zum Zeitpunkt dieses Interviews gerade in den letzten und entscheidenden Zügen. Wen bevorzugt Lou? Bush oder Gore? Bei einem Treffen vor drei Jahren hatte er mir gegenüber erwähnt, dass er 1996 für den unabhängigen Kandidaten Ross Perrot gestimmt hatte. "Puh, das ist verdammt schwer zu beantworten, weil zwischen den Demokraten und Republikanern so gut wie keine Unterschiede bestehen. Ich habe mir die letzte Fernsehdebatte angesehen, bei der Bush einen sehr intelligenten Eindruck gemacht hat. Aber wenn man etwas genauer hinsieht, bemerkt man, dass beide Parteien Schmiergelder von der Industrie bekommen, oft sogar von den selben Firmen! Und letztendlich erzählen beide ja auch nur das selbe. Ich sehe da echt keine großen Unterschiede. Ich interessiere mich grundsätzlich eher für soziale Dinge und Angelegenheiten." Systemkritisch erscheint auf den ersten Blick auch "Nails", der zweite Song des Albums. ""Nails" ist nicht nur gegen das System gerichtet, sondern gegen alles", lacht Lou. "Armand hat den Text geschrieben. Im Prinzip geht es darin um das Brechen von Normen. SICK OF IT ALL entsprechen sicherlich nicht allen Normen der Hardcore-Szene, sonst wären wir alle von oben bis unten tätowiert und würden über Straßenkämpfe oder Straight Edge singen. Nein, mit diesen Klischees haben wir nichts zu tun. Und mit dem Rest der Musikszene haben wir erst recht nichts zu tun, weil wir uns an keinen Trends orientieren. Im Gegenteil sogar, wir machen oft das, was gerade nicht angesagt ist. Wir werden immer der unbequeme Nagel im Hintern der Leute sein." Ähnlich unbequem klingt auch der Songtitel "Disco Sucks F**k Everything", der an einen Titel der Kanadier von D.O.A. erinnert. "Ja, ich kenne den Song", schmunzelt Lou, "aber es handelt sich um keine Coverversion. Den Titel dieses Songs haben wir von Will Shepard geklaut, der bei AGNOSTIC FRONT und MADBALL Schlagzeug gespielt hat. Als Craig damals auch noch bei AGNOSTIC FRONT tätig war, entdeckte er diese Zeile an Wills Zimmerwand. Will hat diese Zeile im zarten Alter von elf Jahren dort hin geschrieben. Es steckt soll viel jugendlicher Hass in diesen Worten, dass wir sie unbedingt verwenden mussten - es ist mein Lieblingssongtitel."

Apropos Kinder und Jugendliche: Wie verträgt sich das ständige Touren mit dem Familienleben? Lou ist zwar nicht verheiratet, hat aber einen siebenjährigen Sohn. Sein Bruder Pete (Gitarre) ist verheiratet, ebenso wie Schlagzeuger Armand, der gerade zum zweiten Mal Vater geworden ist. Normalerweise befinden sich SICK OF IT ALL ja den Großteil des Jahres auf Tour. "Für mich persönlich ist das kein Problem, wobei ich vielleicht dazu sagen sollte, dass wir im Jahr 2000 wegen der neuen Platte kaum Konzerte gegeben haben. In der Zeit, in der ich zu Hause bin, kann ich meinen Sohn fast immer sehen. Wenn ich einen normalen Job hätte, könnte ich ihn höchstens ein, zwei Stündchen pro Tag sehen, aber so kann ich viel mehr Zeit mit ihm verbringen." Tja, das ungeregelte Leben eines Musikers hat so manche Vorzüge. Es kann aber auch ganz schöne Nachteile haben, wie die Jungs vor nicht allzu langer Zeit in Kanada feststellen mussten. Dort wurden sie nämlich von den kanadischen Grenzbeamten schikaniert: "Die kanadischen Grenzbeamten durchsuchen grundsätzlich alle Bands, die ins Land wollen, weil sie Angst haben, dass die bösen Musiker Drogen schmuggeln könnten. Wir hatten damals gerade eine Menge Geld im Tourbus, weil wir nach einer langen Tournee gerade ausgezahlt worden waren. Und diese Herrschaften waren der Meinung, dass wir viel zu viel Kohle bei uns haben, was damit endete, dass sogar das FBI eingeschaltet wurde. Wir bekamen das Geld erst nach zwei Monaten aus Kanada zurück." Da kann man nur noch hoffen, dass ihnen eine Erfahrung dieser Art in Deutschland erspart bleibt. Denn dass SICK OF IT ALL demnächst auch wieder in unseren Gefilden zu bewundern sein werden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Eine abschließende Frage habe ich noch an Lou, der sich im letzten Ox-Interview vor knapp zwei Jahren als großer Fan der GET UP KIDS outete. Mag er die GET UP KIDS und ähnliche Bands immer noch so gerne? "Ja, im Prinzip schon, aber gerade um die GET UP KIDS wird hier in Amerika in letzter Zeit ein so großer Wirbel gemacht, dass es nicht mehr schön ist. Die werden hier wirklich als das nächste große Ding gehandelt. Ansonsten höre ich zur Zeit sehr gerne solche Sachen wie HOT WATER MUSIC, A.F.I. und AT THE DRIVE-IN." Kein schlechter Geschmack...