GUTS PIE EARSHOT

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Grenzen sprengen! Revolution tanzen!

Eines kann man dem Duo, bestehend aus einem Cellisten und einem Schlagzeuger, sicher nicht nachsagen: es sei eingefahren und statisch. Über die Jahre fanden Patrick Cybinski und Jean Jacobi ihren eigenen Weg, sich von der Masse abzuheben und einen Sound zu erschaffen, der durch seine kompromisslose Vielseitigkeit Menschen verschiedenster Subkulturen und Generationen vereint. Was 1993 als Quintett begann, verdichtete sich mehr und mehr, bis sich die beiden vor etwa vier Jahren entschlossen, nur noch zu zweit auf den Bühnen und in den besetzten Häusern dieser Republik und über deren Grenzen hinaus unterwegs zu sein. GUTS PIE EARSHOT verführen ihr Publikum, eröffnen neue Sichtweisen und verschmelzen nebenbei Punk, Hardcore, Metal, Ambient, handgemachten Techno, sowie Orient und Okzident zu einem extrem tanzbaren Konglomerat.

Ihr habt euch über die Jahre ständig verändert. Wie seht ihr eure Entwicklung? Und was ist mit eurer Sängerin passiert?


Jean: Das ist ja schon zehn Jahre her, dass Anneke weg ist, wir treffen uns mit ihr auf jeden Fall immer wieder und es ist jedes Mal schön und vertraut. In den fast 16 Jahren von GUTS PIE EARSHOT hat sich jeder für sich durch verschiedene Musikrichtungen treiben lassen. Ich persönlich habe den Techno komplett mitgenommen, Drum’n’Bass und so weiter, aber auch die alten BLACK SABBATH Sachen gefallen mir sehr. Patrick macht Musik zu Theaterstücken, das beeinflusst uns natürlich. Wir sind beide über 40, ich habe zwei Kinder, wir leben von unserer Musik und diese Lebenssituationen verändern schon die Sicht. Seit 2004 sind wir ein Duo und haben gemerkt, dass uns das instrumentale Spielen ganz neue Freiheiten gibt, ähnliche wie einem DJ. Unsere Konzerte bekamen immer mehr eine Art Party-Choreografie, in die wir auch die punkigen Sachen je nach Stimmung integrieren, als ob wir uns selber auflegen würden – nur eben live gespielt. Dieser Ansatz gefällt uns im Moment am meisten, weil wir unsere Stücke eher wie Rohmaterial benutzen, die live erst richtig Gestalt annehmen. Insofern ist für uns die logische Konsequenz, immer mehr mit DJs zu spielen beziehungsweise sie für uns. Wir wollen die blödsinnige Trennung zwischen Live-Konzert und Auflegerei sprengen. Dabei ist unser einziges Tabu, dass wir keine Sampler und keinen Laptop benutzen. Es gibt immer wieder schöne Erlebnisse, zum Beispiel wenn wir vor Technoheadz spielen, die noch nie einen Berührungspunkt mit Szene oder Punk hatten und dann nach dem Konzert ankommen und erzählen, diskutieren, einfach interessiert sind an neuem Input, auch politischer Art.

Euer Stil ist ziemlich einzigartig und es fällt schwer, euch einem Genre zuzuordnen. Gibt es Vergleiche, die euch nerven oder die ihr besonders gelungen findet?

Jean: Wir haben selber keine wirklich gute Beschreibung von dem, was wir machen. Irgendwann haben wir es „Breakbeat.Punk“ genannt, damit die Leute nicht denken, wir machen Nachmittags-Jazz oder Frickel-Core mit Cello und Schlagzeug. Es ist halt schwer, wenn man einen sehr speziellen, aber auch massenkompatiblen Sound macht, der auch noch generationsübergreifend funktioniert. Zwischen 14 und 60 Jahren ist auf unseren Konzerten alles vertreten. Ich finde es gut, wenn die Leute sehr persönlich nach den Konzerten von ihren Erlebnissen und Gefühlen mit der Musik erzählen. Der Vergleich mit APOCALYPTICA nervt aber total, und ganz schlimm finde ich es, wenn die Leute unseren Sound „jazzig“, „krachig“ und „völlig abgedreht“ finden. Das ist für mich das Zeichen, dass der Sound scheiße war und die Bässe fehlten.

Patrick: Natürlich werde ich oft auf APOCALYPTICA angesprochen. Was die machen, finde ich super und würde nicht ablehnen, mal als Opener für sie zu spielen.

Eure Liste an Konzerten ist ja ganz schön beachtlich. Macht ihr noch was anderes, außer auf Konzerten und Festivals zu spielen?

Jean: Manchmal hab ich den Eindruck, dass wir eigentlich nichts anderes tun. Im Ernst, da wir alles komplett D.I.Y. machen, ist die Zeit zwischen den Konzerten voll mit Checken und Organisieren. Wir sind glücklich, dass wir im November 2008 eine Agentur gefunden haben, die uns sehr engagiert bookt, das heißt, wir haben, was das angeht, im Moment endlich Freizeit. Die Konzerte sichern eben auch unser finanzielles Überleben. Den Rest der Zeit steht an allererster Stelle die Familie, mit all diesen unpunkigen Dingen, wie einfach nur glücklich mit Kindern und Frau sein, Elternabende, auf Spielplätzen hängen, kochen, waschen, Fahrdienst spielen oder einkaufen. Andere musikalische Aktivitäten, wie mein SCHENG Projekt, andere Bands oder meine freiberufliche Tätigkeit sind auf Eis gelegt. Da wäre kein Platz mehr für Beziehung und Kinder. Bei ca. 70 bis 100 Konzerten im Jahr komme ich mir manchmal vor wie ein Fernfahrer. Erst recht, da Patrick in Münster lebt und ich in Berlin.

Patrick: 2007 habe ich drei Monate im Sinfonieorchester in Bielefeld gespielt und im September hatte an den Hamburger Kammerspielen das Theaterstück „Mobbing“ nach einem Roman von Annette Pehnt Premiere, ein tolles Theatersolo mit der Hamburger Schauspielerin Gilla Cremer. Die Musik habe ich gemacht und spiele sie auch live. Ich versuche auch hin und wieder mal zu Hause in Münster zu sein, wo ich ja mit 33 Leuten in der Wagenburg zusammenwohne.

Es scheint, als seid ihr in den besetzten Häusern Europas zu Hause. Unterscheiden sich die Auftritte in einem besetzten Haus von denen in kommerziellen Läden?

Jean: Uns ist es wichtig, erkämpfte Freiräume zu unterstützen. Es ist einfach essentiell, dass es besetzte Häuser gibt, die sich dem Kommerzdiktat widersetzen. Ich bin durch solche Freiräume politisiert worden, sie sind ein großer Teil meiner Geschichte. Aber wir wollen auch Leute erreichen, die sich niemals in ein besetztes Haus trauen würden. Wir versuchen da, die Waage zu halten. Natürlich sind wir am Ende auch kommerziell in dem Punkt, dass wir von unserer Musik leben. Aber wenn wir ein paar gut bezahlte Konzerte spielen, können wir es uns auch eher leisten, wieder komplett ohne Gage für ein Projekt zu spielen.

Patrick: Kommerziell versus unkommerziell als Abgrenzung in der Szene finde ich bescheuert. Natürlich ist es super wichtig, dass es Leute gibt, die im unkommerziellen und auch antikommerziellen Rahmen Veranstaltungen machen. Allerdings können wir da, ehrlich gesagt, oftmals nicht mehr mithalten, wir müssen und wollen von unserer Musik leben, und manche verstehen das schon als kommerziell.