STATE

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„Die Seele ist im Chaos, so sei auch dein Lied“

Mut zur Lücke, auch wenn sie ärgerlich ist: STATE aus Ann Arbor/Detroit gibt es schon seit den späten Siebzigern, auch einige Platten haben sie bereits gemacht, doch irgendwie waren sie mir bislang unbekannt. Das ist schade, denn ihr hektischer Hardcore-Punk, der mich an frühe CIRCLE JERKS, ADOLESCENTS und BLACK FLAG erinnert, gefällt mir ausgesprochen gut. Lärmig, rücksichtslos, auf die Fresse – so muss Punkrock sein! Richtig interessant sind allerdings die beiden aktuellen 7“-EPs, die von der Band selbst veröffentlicht wurden und die mir Frontmann Preston Woodward mit den Worten „It’s a punk record about pop music, Germany and Detroit City“ ankündigte. Der Clou: Ein Teil der Stücke hat deutsche Texte, und zwar keine, die mit Google „übersetzt“ wurden, sondern richtig gute, über „Spießbürger“, „Gassengesindel“, „Wüste Deutschland“ – alle sind sowohl mit englischen wie deutschen Texten versehen, wobei auch teilweise auf Deutsch gesungen wird. Was sagt Preston dazu? „Why German? We’re trying to break into the German punk scene. Kind of a Detroit-Berlin bridge. I know German, and the STATE has always had a couple few German songs floating around. The concept is a bit eccentric, but we thought we’d put out an intercontinental ,novelty‘ 7-“ of sorts.“ Dem wollte ich mal auf den Grund gehen und bekam meine Antworten auch noch in perfektem Deutsch.

STATE gibt es schon seit über 30 Jahren. Gebt mir bitte eine Zeitrafferversion der Bandgeschichte.

Art: 1978: Jim Campbell/Bass, Aaron Jones/Schlagzeug und ich an der Gitarre fangen an in Ann Arbor Lärm zu machen. 1980: Die ursprüngliche Band hat sich aufgelöst, ich gebe Konzerte mit vielen verschiedenen Leuten, mache Studioaufnahmen mit Ron Asheton als Produzent. Ron spielt „I’m on the outside“. 1982-1983: Keir/Schlagzeug, Preston/Gesang und Chris Day/Bass treten der Band bei und wir nehmen die „No Illusions“-Single auf. Wir geben Konzerte mit MISFITS, SS DECONTROL, DISCHARGE, IRON CROSS, NEGATIVE APPROACH, NECROS, J.F.A., REAGAN YOUTH und vielen anderen. 1983: Wir spielen CBGB’s in New York. 1986: Wir veröffentlichen das „False Power“-Album. 1988: Die Band löst sich auf. 2003: Die Band vereinigt sich wieder mit Jeff Navarre am Bass. 2006: Wir veröffentlichen das „All Wrong“-Album. Der Rest ist Geschichte!

Preston: In der Zwischenzeit verbrachten Keir und ich die Neunziger als THE BITTER PILLS – er am Schlagzeug und ich als Sänger/Gitarrist. Erwähnen wir auch die sechs Singles, die STATE seit 2007 herausgebracht hat. Und ich würde hinzufügen, der ursprüngliche „Staat“ war eine zu der Zeit so genannte „Chaosband“ – das heißt ungeplant, spontan, ziemlich wild, was besonders bis in die Gegenwart übertragen wird. Als Gitarrist zeichnet sich Art dadurch aus, dass er immer aus dem Stegreif und im jetzigen Moment spielt: Jede Aufführung eines Liedes ist also entschieden anders. Unsere Einflüsse, frühe Ann Arbor/Detroit-Punkbands wie MC5 und die STOOGES waren vom Jazz, besonders von Coltrane und Miles Davis beeinflusst, und die Improvisation war bei ihnen ein musikalisches Ideal. Wir sind also in dem Sinne immer noch eine Chaosband und das ist wirklich die Brücke zwischen dem „Proto-Punk“-STATE und unserer „Hardcore-Punk“-Inkarnation.

Wie kam es dazu, dass STATE teilweise deutsche Titel und Liedtexte haben?

Art: Ich glaube, Preston wollte sein Deutsch zur Schau stellen. Andererseits fasziniert Deutschland ihn seit je her. Es fasziniert uns alle, glaube ich. Vielleicht waren es für mich Ron Ashetons Uniformen, ich weiß nicht. Ich glaube, für Preston geht es ein bisschen tiefer. Er hat dieses wirklich geile Lied in den Achtzigern geschrieben, eins von vielen, die wir nicht veröffentlicht haben, das „Germania“ hieß. Ein schönes Lied!

Preston: Es ist zum größten Teil aus Zufall entstanden. Als Student im ersten Jahr wollte ich Literatur studieren und ich sah bald ein, ich musste Sprachen lernen. Die ersten Sprachschallplatten, die ich unter dem Kram meines Vaters fand, waren ausgerechnet die deutschen. Ich habe danach mehrere andere Sprachen studiert, und am Ende kriegte ich einen Master in deutscher Literatur. Wenn es die Zeit gäbe, würden wir auch vielleicht Französisch und bestimmt Spanisch benutzen. Jedenfalls hat Art Recht: die deutsche Dichtung zumindest ist meine Faszination.

Die Texte sind sehr lyrisch – man merkt, dass sich da jemand sehr mit ihnen beschäftigt hat. So etwas in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache zu bewältigen, ist sehr schwer – man sieht das daran, wie viele schlechte englische Texte deutsche Bands haben, die auf Englisch singen.

Art: Ich finde, viele amerikanische Bands, die auf Englisch schreiben, haben schlechte englische Texte! Liedtexte sind uns sehr wichtig – vielleicht für mich besonders. Mir scheint, ich habe viel Glück, dass ich mit jemandem arbeite, dessen Texte ich fast immer gut finde. Ich bin sehr wählerisch! Ich finde es unglaublich, wie blöde diese Texte von so genannten alternativen Bands sind, die man zum Beispiel in Rolling-Stone-Rezensionen liest. Zu der Scheiße könnte ich nie spielen. Aber wenn Texte von Herzen kommen, macht es einen großen Unterschied. Auch wenn sie unklar ausgedrückt sind. Aber ich denke, Prestons Texte sind oft beides. Das heißt, von Herzen und zugleich klar.

Preston: Gute Lieder brauchen gute Texte – so ist es seit je her. Innerhalb der Punkwelt sind es aber Bands wie die RAMONES, die ich liebe, deren Texte bewusst etwas stumpfsinnig sind, oder die MISFITS, die ich auch liebe, die auf Teenager-Obsessionen abzielen wie Gruselfilmthemen. Oder man beschränkt es auf die rein persönlich-emotionale Sphäre, was am Ende natürlich auch ziemlich nichts sagend ist. Das alles haben wir von Anfang an abgelehnt. Wir waren sehr beeindruckt von Bands wie DISCHARGE und MINOR THREAT, die sehr ernsthaft, sehr kritisch, sehr kaustisch und voller Wut sangen. Eine andere Sache ist, die meisten aktuellen Hardcore-Bands sind völlig unverständlich – besonders live. „Wozu soviel Geschrei? Warum dieses höllische Gebrüll?“, mag man sich fragen. Und man weiß es nicht! Es ist unbestimmbar. Wir hingegen wollen, dass der Zuhörer etwas davon hat, dass die Musik auch Inhalt hat. Punkrocker sind halt intelligente Manschen und das Erlebnis eines Punk-Konzertes sollte sinnvoll sein. Aber was wir zu sagen haben, ist schier Negatives. Wir predigen nicht – die Liebe zum Beispiel, auch wenn wir zum Teil daran glauben mögen. Unsere Rolle ist es eher, die Ungerechten anzuklagen, die Mächtigen anzugreifen. Aber auch unter unseren Liedern sind es einige, die lyrisch etwas verworren sind wie zum Beispiel „All wrong“, wo man nicht immer weiß, was gemeint ist. Das gehört auch dazu: „Die Seele ist im Chaos, so sei auch dein Lied“, sagt der altgriechische Dichter Alchaeus. Das ist mir zum Motto geworden. „State“ heißt „Zustand“ sowie „Staat“ auf Englisch und das fasst den Grundbegriff unserer Band zusammen. Es ist im Grunde ein chaotischer Geisteszustand, ein tief gestörter, ein politisch empörter, der in musikalische Explosion ausartet.

Was sind eure musikalischen und textlichen Vorbilder, sowohl aus den USA wie aus Deutschland?

Art: Musikalische Einflüsse für mich – ich weiß nicht. Wie Preston einmal sagte: „Die Geschichte des Rock’n’Rolls.“ Ich mag viele verschiedene Dinge. Auf jeden Fall die STOOGES mit Ron, er filterte Jimi Hendrix und das ging in den Delta-Blues hinein. Ich will nicht anmaßend sein oder so was: Ich weiß, wo meine Schranken sind. In der Tat kommen viele von meinen „musikalischen Einflüssen“ von dem Kick, den ich von unseren Zuhörern bekomme. Von Menschen, die ich gekannt habe, von Menschen bei unseren Shows.

Preston: Für mich sind die wichtigsten musikalischen Vorbilder John Lee Hooker, Screamin’ Jay Hawkins, ROLLING STONES, STOOGES, Jimi Hendrix, NEW YORK DOLLS, RAMONES, SEX PISTOLS, DISCHARGE, MOTÖRHEAD, COCKNEY REJECTS, MINOR THREAT, VOID, GERMS, CHRISTIAN DEATH und etliche andere bekannte und völlig unbekannte Punkbands. Die Texter, die mich am meisten beeinflusst haben, sind wahrscheinlich Mick Jagger, Iggy Pop und Ian MacKaye von MINOR THREAT. Um noch tiefer zu greifen: Ich pflege einen kompakten, bilderreichen Stil, wofür die Hauptvorbilder Folgende sind: das englisch-schottische Volkslied; in der klassischen Dichtung Ovid; und vor allen anderen der absolut geniale Heinrich Heine. Letzterer dichtet zugleich sehr imaginativ und sehr beißend. Seine halluzinatorische Lyrik verhehlt immer die Dolchklinge des wirklichen Leidens, und oft eine rasiermesserscharfe Sozialkritik. Einige seiner besten Gedichte sind lauter Albträume. Ja, als Hardcore-Punk-Sänger muss man albtraumhafte Verse dichten, die aus vollem Hals zu schreien sind.

Zum Schluss: Was verbindet Detroit und Deutschland, abgesehen von der Abhängigkeit vom Automobil?

Preston: An erster Stelle würde ich sagen, Detroit und Deutschland sind beide auf eine Weise Wiegen des Punkrocks. Wir sind uns als Rock’n’Roller sehr bewusst, dass die jungen BEATLES in Deutschland ihren ersten Erfolg hatten, ja dort über Nacht eine Sensation wurden. Und wenn ich gefragt werde, warum ich denn Lieder auf Deutsch schreibe, ist die kurze Antwort: „Deutsch ist Punk!“ Warum sonst gibt es Titel wie „Belsen was a gas“ und „California über alles“? Man denkt an die frühe Nina Hagen, an Iggys Aufenthalt in Berlin, an den Expressionismus, an die „dunkle“ Romantik. Es hat mir einmal jemand gesagt: „Jetzt verstehe ich, warum du immer in Schwarz gekleidet bist: Du bist Deutschlehrer! Schwarz ist sehr deutsch.“ Schließlich heißt „Gothic“ so viel wie „German“, nicht wahr?

Art: Von einer freilich seichten amerikanischen Perspektive, als jemand, der ich in Michigan im dem Schatten Detroits und des Kalten Krieges aufgewachsen bin, würde ich sagen: ein leidenschaftliches Stärkegefühl, eine Unverwüstlichkeit. Eine Art dunkler Dekadenz, die ich mit meinem Bild von dem Vor- und dem Nachkriegsberlin assoziiere. Respekt vor der Aufrichtigkeit, Verachtung der Vorspiegelung. Seele, der Sorte, die vom Überleben der schwierigen Zeiten kommt. Und dann gibt es das gewisse Etwas, das Hamburg den BEATLES gab. Aber eigentlich sind die Menschen im wesentlichen überall gleich.