TALCO

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Quo vadis, Italia?!

Zehn Jahre haben die Italiener TALCO aus Marghera, Venedig bereits auf dem Buckel. Beeinflusst von Bands wie SKA-P, MANO NEGRA oder GOGOL BORDELLO arbeiten sie an ihrem ganz eigenen Stil, den sie selbst als Patchanka bezeichnen. Energischer Punk mit treibendem Schlagzeug und messerscharfen Gitarren bildet die Grundlage ihrer Musik. Die kämpferischen italienischen Texte ähneln Maschinengewehrattacken. Das alles, kombiniert mit Balkan-, Folk- und Ska-Einflüssen, mit Trompeten, akkordeonähnlichen Keyboards und auch mal einer Geige, verleiht TALCO einen sehr individuellen Sound. Mit „La Cretina Commedia“ veröffentlichen sie nun ihr viertes Album. Es handelt sich um ein Konzeptalbum, das das wahre Leben des Anti-Mafia-Kämpfers Giuseppe „Peppino“ Impastato erklären soll. Während TALCO auf Tour waren, war ich mit Sänger Dema und Schlagzeuger Nick in Kontakt, um über das musikalische Vorgehen gegen die Mafia mehr zu erfahren.

Euer Coverartwork erinnert stark an MINOR THREAT und RANCID. Was habt ihr mit den beiden Bands gemeinsam, wo ist da der Zusammenhang zum eigentlichen Thema des Albums, nämlich Giuseppe „Peppino“ Impastato?

Nick: Über all die Jahre hat man uns stilistisch in die verschiedensten Genres von Folk über Ska, Punk bis hin zu Polka, Klezmer, Balkan eingeordnet. Einerseits fühlten wir uns dadurch geehrt, andererseits verwirrte uns das auch gehörig. Also nannten wir es „Combat Punk-chanka“. Unter Patchanka versteht man eine Mischung von verschiedenen Musikrichtungen und Sprachen. Genau das spiegelt unsere Musik wider. Aber Punk war immer der wichtigste Ausgangspunkt für uns, der Rest sind nur weitere Zutaten. Unsere Texte sprechen dann noch eine italienische Folk-Ader an, aber Punk ist immer unsere wichtigste musikalische Wurzel ... Wir dachten, dass eine Parallele zu MINOR THREAT und RANCID dabei helfen könnte, diese Wurzel zu betonen und eine Person wie Peppino Impastato in einen Punk-Kontext zu bringen.

Peppino Impastato wurde 1978 von der Mafia ermordet. Warum ist er so bekannt?

Dema: Peppino wurde erst posthum durch den Film „100 Schritte“ von 2000 bekannt. An seinem Todestag wurde auch der von den Roten Brigaden entführte Ministerpräsident Aldo Moro ermordet, deshalb wurde Peppinos Tod 1978 kaum wahrgenommen. Peppinos Aktivitäten wurden damals als extremistisch dargestellt. Es wurde kolportiert, dass er bei einem selbst verübten terroristischen Sabotageakt verunglückt war. Die Kommunistische Partei Italiens, PCI, engagierte sich nicht bei der Aufklärung, sondern überließ es lieber der Justiz, der Familie Impastato selbst und Anti-Mafia-Organisationen, die Wahrheit aufzudecken. Leider ist jenseits der Filmstory über sein wirkliches Leben nur sehr wenig bekannt. Deshalb wollten wir uns nur an die großen Taten von Peppino halten, mit Hilfe seines Bruders Giovanni, um die „wahre Geschichte“ zu erzählen. Peppino Impastato ist der italienische Che Guevara, ein Revolutionär. Er bekämpfte die Mafia politisch und auch privat. Sein Vater war ein Mafioso, doch Peppino wollte aus dieser Welt raus, und das macht ihn so groß und einzigartig. Er war ein Vorreiter mit seinem Kampf gegen die Mafia, doch das weiß kaum jemand. Darum wollten wir in „La Cretina Commedia“ davon erzählen.

Nick: Viele Menschen kämpften gegen die Mafia und viele verloren dabei ihr Leben. Organisationen wie Libera kämpfen immer noch gegen sie, aber die Situation in Italien ist sehr ernst. Menschen wie der Schriftsteller Roberto Saviano, Anti-Mafia-Vereinigungen oder Geschäfte, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen, all diese Menschen werden alleine gelassen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Forza Italia, die zur Zeit regierende Partei, als Ableger der Cosa Nostra entstanden ist, was sogar ihr Gründer Dell’Utri bestätigt hat.

Über solche Geschäfte, die nichts mit der Mafia zu tun haben wollen, sah ich kürzlich im Fernsehen einen Bericht. Haben die Betreiber eine reelle Chance?

Nick: Die machen einen richtig guten Job und verdienen jegliche Bewunderung, denn sie riskieren damit ihr Leben. Ich kann nicht sagen, ob sie eine Chance haben, aber sie folgen dem Beispiel Peppinos.

Was passiert derzeit in Italien?

Dema: Ob Politik oder Gesellschaft, alles wird von der Mafia beherrscht, ermöglicht durch das Gesetz des Schweigens und der Gleichgültigkeit der Menschen. Die beiden großen italienischen Parteien vertreten nicht das Volk. Sie sind von Lobbyisten und populistischen Demagogen gesteuert, für einen Sitz im Parlament tun sie alles. Junge Menschen interessieren sich immer weniger für Politik. Und genau das will Silvio Berlusconi, der unsere Kultur mit seinen Fernsehsendern plattgewalzt hat. Das System Berlusconi wird noch auf die nächsten 30 Jahre Auswirkungen haben. Natürlich gibt es auch einige politisch aktive junge Menschen, aber ihr Engagement ist so oberflächlich und phrasenhaft, dass sie dem Kampf gegen das System eher schaden – denn dieser ist trotz allem noch lebendig. Die Krise ist hauptsächlich im Süden des Landes spürbar: Armut und Arbeitslosigkeit sind die Folgen. Diese Probleme sind eine direkte Folge der Mafia-Herrschaft und einer für die Entwicklung des Südens katastrophalen Nachkriegspolitik.

Inwiefern ist euer eigenes Leben von der Mafia beeinflusst?

Nick: Eine Mafia-Mentalität ist allgegenwärtig. Das bedeutet Selbstsucht, das bedeutet, Moral und Ideale über Bord zu werfen für den eigenen Vorteil, das bedeutet, sich hoch zu kämpfen, auf dem Rücken von anderen. Die italienische Bevölkerung wächst mit dieser Einstellung auf. Leider verstehen nur einige wenige, wie beschämend und hinterlistig das eigentlich ist. Tatsache ist, dass die Menschen jemanden wie Saviano beschimpfen, weil er „die Schönheit Italiens befleckt“. Für mich ist Italien ein großartiges Land, das aber gelenkt wird durch eine herrschende Klasse, die in ihrer Denkweise der Mafia sehr ähnelt. Die meisten Italiener sind doch Opportunisten und handeln verantwortungslos. Saviano und all die anderen, die der Sache auf den Grund gehen, wären Helden in anderen Ländern. Mancherorts wären sie gar nicht nötig, denn Kämpfe gegen die Mafia sind außerhalb Italiens nicht nötig.

Die russische Hardcore-Band WHAT WE FEEL wird sich wegen zahlreicher Repressionen aus der Neonazi-Szene auflösen. Müsst ihr aufgrund eurer Aktivitäten gegen die Mafia mit Ähnlichem rechnen?

Dema: „La Cretina Commedia“ ist unser erstes Album, auf dem wir offen über die Mafia sprechen. Freudige Zustimmung erwarten wir aus den ehrenwerten Kreisen nicht. Wir werden sehen ... Aber bestimmt werden wir weitermachen, denn dieses Thema ist uns sehr wichtig.

Nick: Bislang gab es noch keine wirklichen Repressalien, vielleicht auch nur, weil wir im Ausland bekannter sind als in Italien. Natürlich werden unsere Botschaften in Italien nirgends gesendet. Aber dafür gibt es ja schließlich Internet, Konzerte und andere Veranstaltungen. Wenn das italienische Volk versteht, dass es falsch ist, Vorteile durch faule Kompromisse zu erlangen, wenn es sich aktueller Probleme und solcher Werte wie Solidarität und Kampfbereitschaft bewusst wird, dann wird es vielleicht besser werden.

Italien ist ein beliebtes Urlaubsland. Was kann man als deutscher Tourist im Land tun, um nicht die Mafia zu unterstützen?

Nick: Schwierig, da es sich hier ja um eine Mentalität handelt. Ich denke, dieses Problem können die Italiener nur selbst bewältigen. Auf Sizilien, in Kampanien und Kalabrien ist die Mafia ein politisches und wirtschaftliches System. Es basiert auf Gewaltandrohung, um Geldwäsche zu betreiben. So funktioniert es in Süditalien und darüber hinaus.

Dema: In diesem Zusammenhang will ich auf den exzellenten Filmemacher Mario Monicelli hinweisen, der über seine Landsleute folgendes sagte: „Die Italiener unterstützten Mussolini. Als Italien ruiniert war, kündigten sie ihm die Treue auf und hielten sich selbst für unschuldig. Aber waren sie nicht genauso schuldig wie er, hatten sie ihn doch erschaffen und ihm die Macht gegeben, um der Duce zu werden. Nach genau dem gleichen Schema lief das mit der christdemokratischen Partei und Craxi ab. Und nun mit Berlusconi. Wenn sie Berlusconi aus Italien davonjagen werden, werden sie sich für unschuldige Opfer halten.“ So denkt die Mafia und so denkt die italienische Bevölkerung. Und davon handelt auch unser Song „La mia terra“, von all den Italienern, die „ihre Hände in Unschuld waschen“. Ob in Deutschland oder anderswo, die Mafia schlägt dort Wurzeln, wo der Boden es zulässt, wo der Geist schwach ist und die Angst stärker wird. Siehe die USA ...

Glaubt ihr an die Demokratie?

Dema: Ich glaube an die Demokratie in ihrer ursprünglichen Bedeutung: „Alle Macht geht vom Volk aus.“ Ich glaube, dass jeder Mensch gleich ist, und betrachte mich selbst als Linken. Was politische Systeme angeht, scheint es mir offensichtlich, dass die oligarchischen Diktaturen und Demokratien versagt haben. Keine Ahnung, welches System besser ist. Aber es gibt Grundwerte. Solidarität und Gleichheit an Rechten, eine ökologische und nachhaltige Wirtschaft, Religionsfreiheit, Integration, gerechtere Verteilung von Gütern ... Also nichts Neues. Viel einflussreichere Menschen als ich haben all diese Dinge bereits vor 100 oder 200 Jahren geschrieben, das meiste davon ist völlig falsch angewandt worden.

Für was sollte eurer Meinung nach die deutsche Bevölkerung kämpfen?

Nick: Letztlich doch für die gleichen Dinge, für die wir hier in Italien kämpfen. Die neue Rechte ist überall auf dem Vormarsch und die politische Linke kommt gegen diese Bedrohung nicht an. Es liegt an uns, wir müssen raus aus dem Parteiengeklüngel und zurück auf die Straßen, um diese neue Welle von Fremdenfeindlichkeit und Faschismus zu stoppen. Faschismus und Nationalsozialismus sind genau so entstanden, in Krisenzeiten und von der Politik und der Bevölkerung zu wenig beachtet, bis sie alles überrollten. Derartige Beispiele kennen wir aus unserer Vergangenheit. Wenn wir nur endlich aus unseren Fehlern lernen und jetzt ein Zeichen dagegen setzen würden!