WIERD RECORDS

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Cold waves over Brooklyn

Pieter Schoolwerth, Maler, DJ und Betreiber des Labels Wierd Records, ist in New York und den USA mittlerweile die Koryphäe in Sachen Minimal Electronic, Cold Wave und Minimal Synth. Er knüpft damit nahtlos an ein fast vergessenes Genre der frühen Achtziger Jahre an, das seine Wurzeln vor allem in Frankreich und Belgien hat. Bands wie MARQUIS DE SADE, KAS PRODUCT, TWILIGHT RITUAL, NORMA LOY, CLAIR OBSCUR oder ARTEFACT entwickelten in den Vororten großer französischer Städte einen sehr dunklen, klaustrophobisch wirkenden, schlichten Electro-Sound und schafften eine ganz eigene elektronische Subkultur. Sie ähnelt der Factory in Manchester zu Zeiten von JOY DIVISION, A CERTAIN RATIO und SECTION 25. In das Licht einer breiteren Öffentlichkeit gerieten diese Bands durch einen Artikel von Patrick Zerbib im französischen Magazin Actuel im Jahr 1980. Damals beschrieb er speziell Bands wie MARQUIS DE SADE, ARTEFACT und JACNO im Rahmen seines Beitrags „Les jeunes gens modernes aiment leurs mamans“ („Die modernen jungen Menschen lieben ihre Mütter“). Dabei nahm er Bezug auf die wesentlichen Fundamente und Wurzeln dieser Musik: Avantgarde, Konstruktivismus, Futurismus und Symbolismus, ja auch sozialer Realismus. Pieter Schoolwerth hat seit einigen Jahren um Wierd Records eine sehr lebendige Szene aus Musikern, Bands und Labelpartys in Brooklyn aufgebaut, die mittlerweile bis nach Paris, Berlin und Bochum reicht. Gerade zurück von seiner Ausstellung in Sachen figurativer Kunst und Malerei aus Paris, beantwortete Pieter Schoolwerth einige Fragen.

Die Spannbreite der Bands, die über Wierd Records veröffentlicht werden, ist sehr groß, angefangen bei BLACKLIST, die ein wenig an THE COMSAT ANGELS oder INTERPOL erinnern, bis hin zu klassischen Minimal-Electronic- und Cold-Wave-Acts wie AUTOMELODI und XENO & OAKLANDER. Kannst du die Entwicklungsgeschichte von Wierd Records schildern?

Die ersten Wierd-Partys begannen zunächst als wöchentliche Veranstaltungen und Zusammenkünfte von Künstlern, Schriftstellern, Designern und vielen anderen Kreativen in einer winzigen Bar unterhalb der bekannten Williamsburg Bridge in Brooklyn. Ich sammle seit vielen Jahren Musik aus den Bereichen Minimal Electronic, Cold Wave sowie Industrial und diese Musik zog Woche für Woche mehr Leute in die Bar. Auch zahlreiche unbekannte Bands kamen zunehmend zu uns und so entstand eine kleine verschworene Gemeinschaft. Die Partys wurden dann immer größer und wir mussten auf andere Clubs, Lagerhallen oder Galerien ausweichen und schnell etablierte sich eine eigene, sehr lebendige Szene in New York. Eines Abends, als ich beim Auflegen war, begannen einige der Besucher, mir ihre eigenen CDs zuzustecken, und zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass wir unser eigenes musikalisches Universum aufbauen würden. Etwas später dann kam Sean McBride von MARTIAL CANTEREL zu meinem DJ-Pult, gab mir ein eine Demo-CD von diesem unglaublich guten Minimal-Electronic-Killer „Nightfall in camp“, und dies war die Geburtsstunde von Wierd Records. Ab 2006 entwickelte Wierd Records dann einen Bekanntheitsgrad über die Grenzen von Brooklyn hinaus und mit der Veröffentlichung unserer ersten 3-LP-Compilation verlagerten wir die Partys in eine neue Location. Das war alles sehr improvisiert, aber eine Vielzahl von Musikern wurde auf uns aufmerksam, wie beispielsweise LED ER EST, die das Label mit neuer Energie bereicherten. Spannend ist, dass ihre musikalischen Einflüsse andere sind als die der „klassischen“ Wierd-Acts wie MARTIAL CANTEREL, XENO & OAKLANDER oder BLACKLIST. Sam und Shan von LED ER EST sind seit langem Fans deutscher elektronischer Musik der Sechziger und Siebziger Jahre, aber auch von frühem Italo House, und aus diesen Welten haben sie einen einzigartigen neuen Sound entwickelt. Der neue Wierd Sound ist emotional ähnlich dem Klang vieler Achtziger-Jahre-Cold-Wave-, Minimal-Electronic-und Industrial-Gruppen, aber ist moderner und entstanden aus einen anderen Ansatz musikalischer Herausforderung und sozialem Umfeld. Während die Achtziger-Jahre-Gruppen, speziell des britischen Post-Punk, auf die Entfremdung des repressiven Regimes unter Reagan und Thatcher reagierten, ist das bei den aktuellen Gruppen meines Erachtens Ausdruck einer ähnliche Frustration, die ich als die „Kultur der Isolation“ bezeichnen möchte. Eine problematische Entwicklung, die durch die negativen Auswirkungen der „Internet-Kultur“ auf neue Musik und Kunst entstanden ist. In der Welt im Allgemeinen und in New York, insbesondere in einer Zeit, da Menschen mehr und mehr nur über das Internet kommunizieren, entsteht ein Gefühl der Einsamkeit, aber auch der Wunsch nach einer echten Verbindung. Es ist ein Ausdruck der Sehnsucht nach echten menschlichen Verbindungen, vermittelt durch melancholische Sounds. Das ist der Geist von Wierd und gleichzeitig existiert ein sehr ausgeprägter D.I.Y.-Punk-Spirit, derAusdruck von Widerstand gegen diese Isolierung.

Das klingt für mich, als wären die Wierd-Partys sowas wie eine Fortsetzung der Factory-Partys in Manchester in den Achtzigern, speziell wenn man an Acts wie 52ND STREET mit ihrem Song „Cool as ice“ oder SECTION 25, mit „Looking from a hilltop“ denkt. Beide waren Anfang der Achtziger Club-Hits in New York. Siehst du Wierd als Weiterentwicklung oder Wiederbelebung dieses Sounds der Achtziger Jahre?

Alle bei Wierd Records haben eine enge Verbindung zu den Independent-Labels der Achtziger und Neunziger Jahren wie beispielsweise 4AD, Factory, Les Disques Du Crépuscule, Wax Trax, Some Bizarre oder Mute Records. Aber um ehrlich zu sein, alle diese Labels hatten es im Vergleich zu einem kleinen Label wie Wierd leicht, eine gewisse Einzigartigkeit herzustellen. In den Achtziger und Neunziger Jahren, vor dem Zusammenbruch der Musikindustrie aufgrund von Internet und iTunes, war die Dialektik in der Musikbranche „Die großen Majors gegen die kleinen Independent-Labels“. Heute sind nahezu alle Majors vom Markt verschwunden und der Überlebenskampf der Bands und Labels ist ein ganz anderer, da sie eben nicht mehr wie in den Achtzigern mehrere tausend Stück von einer Platteverkaufen, und so ist es den Bands kaum noch möglich, auf Tour zu gehen und sich langsam zu entwickeln. Heute haben die meisten junge Leute eine sehr problematische Ethik, die ihnen sagt, dass es in Ordnung ist, Musik kostenlos aus dem Internet zu ziehen, und das macht es unendlich schwieriger für kleine Labels zu überleben und mit den Bands, die sie unter Vertrag haben, zu wachsen und mit ihnen mehrere Alben zu produzieren. 2010 besteht der Kampf für die kleinen Labels darin, zu überleben und vor allem den negativen Auswirkungen, welche die „Internetkultur“ auf neue Musik und Kunst hat, zu widerstehen. Natürlich hat das Internet der Musik in vielerlei Hinsicht auch geholfen. Jeden Tag finde ich in meinem E-Mail-Account so viele neue und großartige Songs von Musikern aus der ganzen Welt und ich habe zahllose neue Freunde und Kontakte über MySpace gefunden. Aber meiner Meinung nach kann eine aktive und echt vernetzte subkulturelle Szene nicht allein vom Internet leben. Reale Kontakte können durch das Internet nicht ersetzt werden. Heute herrscht in Brooklyn aber durchaus ein Geist der Gemeinschaft, weil hier viele eine starke musikalische Begeisterung zu Minimal Electronic Music teilen.

Die Wierd-Veranstaltungen sind bisher auf New York fokussiert. Hast du Pläne, diese Veranstaltung auch verstärkt nach Deutschland zu bringen?

Wierd hatte bereits einige US-Touren hinter sich und einige Auftritte in Europa in den letzten fünf Jahren. Insbesondere Michael Wehmeier und sein Neon-Welt-Festival im Zwischenfall in Bochum waren hier sehr hilfreich, um unsere Idee von Musik und unsere Acts auch in Deutschland bekannter zu machen. So hatten beispielsweise XENO & OAKLANDER, MARTIAL CANTEREL und STACCATO DU MAL Auftritte im Rahmen der Zwischenfall-Partys. Das Zwischenfall ist mittlerweile auch in New York ein bekannter Name. Auch im Bang Bang Club in Berlin hatten wir bereits Konzerte unter anderem mit XENO & OAKLANDER.

Ursprünglich liegt die Wurzel von Cold Wave und zahlreicher Minimal-Electronic-Bands in Frankreich, mit Acts wie KAS PRODUCT, ASYLUM PARTY, SUICIDE ROMEO, Martin Dupont, NORMA LOY oder CLAIR OBSCUR. Wie bist du mit dieser Art von Musik in Kontakt gekommen?

Ich wuchs im Los Angeles der späten Achtziger, besuchte dort die Clubs und sammle seit 25 Jahren so ziemlich alles an Veröffentlichungen im Bereich Cold Wave, Minimal Electronic und frühe Industrial Music. Im unmittelbaren Wierd-Umfeld gibt es ein starkes Bewusstsein und eine ausgeprägte Wahrnehmung vor allem für die Geschichte der elektronischen Musik in Europa. Wie erwähnt, begannen die Wierd-Partys als DJ-Abende, bei denen sie speziell ihre favorisierte Musik auflegten und das war eben gerade diese Musik aus Europa. Cold Wave und Minimal Electronic war in seiner ersten Ausprägung ein nahezu vollständig kontinental-europäisches Phänomen der frühen Achtziger Jahre, bei dem die Bands ihre Songs in ihren Muttersprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Holländisch veröffentlichten und diese auch in aller Regel nur lokal vertrieben, so dass dieser Sound viele Jahre nicht in den USA oder auch Großbritannien bekannt wurde. Deshalb gerieten viele dieser Bands leider in Vergessenheit. Es war nicht immer einfach, diese Musik zu entdecken, und ich habe es zu meiner persönlichen, wenn du so willst: „Mission“ erklärt, dieser Musik in den USA eine breitere Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verschaffen. Cold Wave war zunächst eine Gitarren-beeinflusste Form der „Wave Music“, welche im Wesentlichen von den kalten und präzisen Drumtrackings des Factory-Records-Produzenten Martin Hannett, speziell in seinen Produktionen aus den Jahren 1979 bis 1980, beeinflusst wurde. Die Minimal-Electronic-Bands hatten einen ähnlichen musikalischen Ansatz und eine ähnliche emotionale Resonanz, verwendeten aber analoge Synthesizer, Sequenzer und Drum-Machines in einer Art und Weise, die stark unter dem Einfluss früher Industrial-Bands wie THROBBING GRISTLE, SPK oder CABARET VOLTAIRE sowie der deutschen Electronic-Bands der Sechziger und Siebziger Jahre, wie CAN und NEU! oder FAUST stand. Ich wollte mit den Bands und Acts auf Wierd nicht Kopien dieser sehr innovativen frühen Minimal-Electronic-Bands wie TWILIGHT RITUAL, OPERA DE NUIT oder Martin Dupont veröffentlichen, sondern etwas Eigenes, das aber klar unter diesem Einfluss steht. Ich mag speziell diese Sprachnuance von „La vage froide“, was ja erst später für das internationale Publikum zum Begriff „Cold Wave“ wurde, weil für jemanden mit englischer Muttersprache dieser wunderbare französische Sprachfluss einen ganz besonderen Reiz hat, er quasi wie ein eigenes Instrument im Gesamtsound wirkt. Diese Sprachmelodie schafft auch eine schöne Form der Melancholie, die Erinnerung an die großen französischen Dichter des 19. Jahrhunderts wie Stéphane Mallarme, Paul Ambroise Valéry oder auch Charles Baudelaire weckt. Das macht den speziellen emotionalen Reiz der französischen Wurzeln dieser Musik aus.

Du hast angefangen, mit anderen Labels in Brooklyn zusammenzuarbeiten, wie beispielsweise Captured Tracks, die gerade mit THE COSMETICS und deren Single „Soft Skin“ einen großartigen Track veröffentlicht und bereits mit WETDOG eine in Europa bekanntere Band unter Vertrag haben. Wie geht die Vernetzung der Labels in Brooklyn vonstatten?

Brooklyn hat ohne Zweifel eine der aktivsten und facettenreichsten musikalischen Szenen in den USA und einen wirklich lebendigen Underground. Es gibt so viele neue Bands und Musik hier zu entdecken. Mir ist es völlig unmöglich, all die Musik zu hören, die ich täglich bekomme und im Briefkasten finde. Mike Sniper von BLANK DOGS, der das Label Captured Tracks betreibt, und Caleb Braaten von Sacred Bones Records sind seit langen regelmäßige Gäste auf den Weird-Partys und unterstützen unsere Bands auf ihren eigenen Websites. Wir vertreiben auch über diese beiden Labels und haben gemeinsam verschiedene Events organisiert. Ich kann dir nur nahelegen, dir die Acts auf Captured Tracks und Sacred Bones Records genauer anzuhören, es lohnt in jedem Fall für Fans von guter Minimal-Electronic- und Cold-Wave-Musik.

Es ist offensichtlich, dass die Gestaltung der Coverdesigns bei Wierd eine zentrale Rolle spielt. Kannst du etwas zur Inspirationen und die allgemeine Einflüsse für das Coverartwork bei Wierd sagen?

Ich verdiene, seit ich Anfang der Neunziger Jahre von Los Angeles nach New York gezogen bin, meinen Lebensunterhalt im Wesentlichen mit figurativer Malerei. Mein Alltag in meinem Studio ist ziemlich isoliert, wenn ich mitunter Tag für Tag vor einer leeren Leinwand sitze. Schon als Teenager Mitte der Achtziger Jahre war Musik für mich ein absolut notwendiger Gegenpol zu dieser ruhigen und isolierten Welt, weil sie mich immer wieder dazu zwingt, unter Leute zu gehen, und ich habe es immer genossen in Bands zu spielen, als DJ aufzulegen und Partys in Brooklyn zu organisieren. So war mein Leben immer in einer guten Balance zwischen der introvertierten Malerei und der extrovertierten Lebensweise des Labelbetreibers und Veranstalters. Auf diese Weise kann ich aktiv an allen Facetten des künstlerischen Lebens in Brooklyn teilhaben. Gegenstand meiner Gemälde ist seit langem der Kampf, im Prozess des Malens Menschen und ihre physische Körperlichkeit auf die Leinwand zu bringen, um das Menschliche in die Kunst zurückzubringen, in einer Zeit, in der Körperlichkeit im Zeitalter des Internets an Bedeutung verliert und uns zunehmend vereinsamen lässt und wir isolierter leben, wir für andere eher auf dem Bildschirm existieren als real. Und so wie ich versuche, mit der Musik von Wierd Menschen zusammenzubringen, versuche ich auch in meiner Malerei und figurativen Kunst, Menschen in einem realen Raum zusammenzubringen, um ihnen auf der Leinwand die physische Körperlichkeit lebendig zu halten. Wenn ich meine Ausstellungen plane, versuche ich im Vorfeld immer, eine mehr oder weniger extravagante musikalische Veranstaltung in Verbindung mit der Eröffnung zu organisieren, wie wir es vor kurzem auf der Art Basel und in Miami gemacht haben und ich es auch gerade in Frankreich bei der Eröffnung meiner neuen Ausstellung in der Galerie Nathalie Obadia in Paris gemacht habe. Auf diese Weise kommen Musiker und Künstler aus unterschiedlichen Welten zusammen. Die einen verlassen ihr „Ghetto“ der Clubs, und die anderen kommen auf den Ausstellungen mit anderen und neuen musikalischen Welten zusammen, da sie bisher lediglich von der kommerziellen Pop- und Rock-Welt Kenntnis genommen haben.