KEITH MORRIS (BLACK FLAG, CIRCLE JERKS, OFF!)

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Generation Ü55

Die Interviewsequenzen in der „American Hardcore“-Doku beeindruckten mich: ein irgendwie verpeilt aussehender Mann Anfang 50 mit beeindruckenden Dreadlocks erklärte Hardcore und wirkte dabei einerseits reflektiert, andererseits aber so begeistert, als sei er Anfang 20. Kein abgeklärter oder verbitterter Ex-Sänger, der mit seiner Jugendkultur gebrochen hat, sondern einer, der immer noch „brennt“. 2010 dann meldet sich Keith Morris, dessen CIRCLE JERKS wohl immer noch existieren, aber bedingt durch die Verpflichtungen Greg Hetsons bei BAD RELIGION eher auf Sparflamme agieren, mit einer neuen Band zurück: OFF! Eine Vierer-Serie von 7“-EPs wurde veröffentlicht, diese 16 Songs zusammengenommen sind das erste Album, und die knapp 20 Minuten Spielzeit entsprechen auch ungefähr der Länge der Auftritte der Band. Zusammen mit seinen Mitstreitern Steven McDonald (REDD KROSS) als Bassist, Dimitri Coats (BURNING BRIDES) als Gitarrist und Mario Rubalcaba (ROCKET FROM THE CRYPT, HOT SNAKES) als Drummer kehrt Morris, Jahrgang 1955, musikalisch zu seinen Wurzeln zurück: BLACK FLAG, jene Band, die er 1976 mit Greg Ginn gründete und 1979 verließ. Ich schaffte es nach monatelangem Bemühen, Morris zu einem Interview zu bewegen, indem ich ihm versprach, zuerst über seinen 1996 verstorbenen Freund Jeffrey Lee Pierce (THE GUN CLUB) zu sprechen – ein Thema, das ihm am Herzen liegt, wie der OFF!-Song „Jeffrey Lee Pierce“ beweist. Aus einem kleinen Interview wurde ein Gespräch von über 100 Minuten über Los Angeles-Punkrock ganz allgemein, das mich zu keiner Sekunde langweilte.

Keith, hier schneit es und ist kalt. Wo lebst du, wie ist das Wetter bei dir?

Ich lebe im wundervoll warmen, sonnigen Südkalifornien, in Los Feliz, nahe Downtown Los Angeles und Hollywood. Die ganzen Celebrities leben hier in der Nachbarschaft, etwa der Typ von SYSTEM OF A DOWN, oder William J. Bratton, der Ex-Chef des Los Angeles Police Departments, Gwen Stefani und ihr Mann, einer von den RED HOT CHILI PEPPERS, Jack Black, und viele andere. Die Gegend hier hat sich leider in den letzten Jahren immer stärker zu einer Yuppie-Neigborhood entwickelt, all die jungen, reichen Pärchen ziehen hierher, parken die Straßen zu, führen ihre Hunde aus und lassen sie in unseren Vorgarten scheißen. Eine wundervolle Entwicklung. Ich lebe hier seit über zehn Jahren.

Sprechen wir über deinen 1996 verstorbenen Freund Jeffrey Lee Pierce, den Sänger von THE GUN CLUB, dem du mit dem gleichnamigen OFF!-Song huldigst. Was für ein Mensch war er?

Er war verrückt, er war lebenshungrig und abenteuerlustig. Wir haben eine Weile zusammen gewohnt, damals in Inglewood, der südwestlichen Spitze des South Central-Bezirks von Los Angeles, der Heimat des Gangsta-Rap. NWA kamen von drei Blocks weiter in Compton, ebenso ICE-T. Wir wohnten direkt in der Einflugschneise des Flughafens, die ganzen Gangs wie die Crips und Bloods waren von da aktiv. Jeffrey hatte damals schon seine wilde Frisur, hatte seine Haare blondiert, was daran lag, dass er in Debbie Harry verliebt war, er war ja sogar mal der Präsident des BLONDIE-Fanclubs. Ein Großteil seiner Welt drehte sich um BLONDIE, er wollte wohl einfach selbst ein „Blondie“ sein, deshalb die gebleichten Haare. Jeffrey war ein sehr intelligenter Mensch, wir hörten oft zusammen Musik – kein Punk, kaum Rock, sondern Blues, Reggae, etwas Jazz. Und wenn wir Rock hörten, waren es die PRETTY THINGS, FLAMIN’ GROOVIES, Garage-Rock. In der letzten Phase von GUN CLUB spielte er auch Gitarre, und sein großes Vorbild war Jimi Hendrix, deshalb spielte er auch eine Stratocaster. Wir hatten vor seinem Tod auch noch Pläne für eine gemeinsame Band, und er spielte mir ständig Liedideen vor. Ich war damals sowohl sein bester Freund als auch so was wie sein Chauffeur, fuhr ihn in Hollywood herum, wenn er Songbooks und Notenblätter kaufen wollte. Zu der Zeit interessierte er sich sehr für das Gitarrenspiel von Jimmy Page, Stephen Stills und David Crosby.

Beim Konzert in Chicago hast du THE GUN CLUB als sehr wichtige Band bezeichnet und damit „Jeffrey Lee Pierce“ angekündigt.

Das Lied ist das Verbindungsglied zwischen Jeffrey und meiner neuen Band, es ist eine musikalische Verneigung vor ihm. Das Lied basiert auf einem der letzten Songs, die er vor seinem Tod für mich spielte. Er spielte mir dieses Riff vor und sagte, dazu sollte ich einen Text über Deborah Harry schreiben, doch ich mag BLONDIE zwar, aber ich bin kein wirklicher Fan. Keine Frage, Debbie ist attraktiv, eine sexy Lady, ich mag die Musik, aber ich verspürte damals kein Bedürfnis, einen Text über sie schreiben. Und so schrieb ich Jahre später stattdessen einen Text über meinen Freund.

Jeffrey starb 1996 mit 38 Jahren an schweren gesundheitlichen Problemen, die mit Alkohol und Drogen zu tun hatten – viel zu jung, viel zu früh. Wie hast du diese Zeit erlebt?

Ich spiele seit Ewigkeiten in Bands, ich weiß genau, wie sich Leute wie unsereins die Zeit vertreiben – ich nenne es mal „extrakurrikuläre Aktivitäten“: Trinken, Drogen, Frauen, die ganze Nacht unterwegs sein, Sauftouren über drei, vier Tage, ohne Schlaf, danach der Absturz ... Wenn du in einer Band bist, ist so was unvermeidbar. Was nun den Zeitpunkt seines Todes betrifft, so stirbt jeder von uns eines Tages, aber in Jeffreys Fall denke ich, dass man beinahe von einem eingebauten Selbstzerstörungsmechanismus reden kann, einer Todessehnsucht. Du hast die ganze Welt bereist, hast alle Orte gesehen, die du sehen wolltest, du hattest gute Freunde, warst verheiratet und wurdest geschieden, hattest tausende Freundinnen, warst 70-mal auf Tour – und irgendwann läufst du gegen eine Wand. Vielleicht war das bei Jeffrey der Fall, ich habe ihn immer wieder bei unglaublich verrückten und dummen Aktionen erlebt, und irgendwie waren die alle wie Verkehrsschilder, wie Stop-Schilder, wie rote Ampeln, die er einfach ignorierte. Er lebte ein sehr schnelles Leben.

Live fast, die young?

So jung war er auch nicht mehr. Wenn wir davon reden, dass jemand jung stirbt, dann denke ich an jemand in seinen Teenagerjahren. Einer der OFF!-Songs dreht sich um meine Jugend in Hermosa Beach. Ein Freund in der Junior High School – wir waren da 15, 16 – war Epileptiker, der hatte immer wieder Anfälle, die sich aber leicht vermeiden ließen, indem er einfach morgens eine Pille nahm. Immer wieder nahm er die aber nicht, er vergaß es, er hatte keine Lust, er dachte, es sei nicht nötig, er hielt sich für „kugelsicher“, für unsterblich, was auch immer. Ich habe mehrfach mitbekommen, wie er einen Anfall hatte. Er war ein Surfer, und eines Morgens ging er mit ein paar von unseren Freunden surfen, ohne seine Pille genommen zu haben. Er hatte auf dem Brett einen Anfall, fiel ins Wasser und ging unter, und durch großes Glück konnte ein Freund nach ihm tauchen, ihn retten. Eine Woche später passierte das wieder – und geriet in eine starke Strömung, die ihn ins Meer hinaus zog. Ein paar Wochen später wurde sein Körper dann angespült, es war schrecklich. All die kleinen Krebse und Fische hatten seine Finger, Ohren, Nase, Lippen und Augen weggefressen, sein Gesicht war nicht mehr vorhanden, bei seiner Beerdigung war der Sarg geschlossen. Und der Rest von ihm sah auch nicht mehr besonders frisch aus, das Salzwasser weicht die Haut total auf, das wäre kein schöner Anblick gewesen ... Was das mit Jeffrey zu tun hat? Er war ähnlich drauf wie Jahre zuvor mein Jugendfreund, dem es egal war, seine Pille zu nehmen. Jeffrey lag nichts daran, seinen Kurs zu ändern. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Tag bei seiner Mutter in West-Hollywood. Als ich gegen Mittag da ankam, hatte er schon ein paar Flaschen Corona gesoffen und lag in einem alten aufgeblasenen Lkw-Schlauch im Pool in der Sonne. Als Hausmeister der Wohnanlage hätte ich mir da schon Sorgen gemacht – ein Besoffener treibt halb bewusstlos in meinem Pool ... So war Jeffrey.

Was hat dich davor bewahrt, so zu enden?

Ich hatte einfach irgendwann keine Lust mehr auf all das. Ich war davor in einer Clique unterwegs gewesen, deren Programm immer gleich war: erst die Drogen, dann Saufen, dann zum Liquor Store, Biernachschub holen, und irgendwie bis zehn, elf Uhr morgens durchsaufen, dann zum Dealer, neuen Stoff kaufen, wobei ein paar unserer Dealer Leute aus unserem Szeneumfeld waren. Und dann ging es wieder von vorne los. So sah mein Leben bis vor 23, 24 Jahren aus, bevor ich beschloss, mit all dem aufzuhören. Manchmal habe ich noch Träume, wo ich das noch spüre, wie das damals war, aber ich verspüre nicht die geringste Lust, das noch mal zu erleben – ich vermisse es nicht. Gerade auch deshalb, weil ich ja immer noch von solchen Leuten umgeben bin, die in Bands sind, die saufen, die Drogen nehmen, die mir erzählen, dass sie ja eigentlich sauber seien, aber dann diesen alten Freund getroffen hätten, und zwölf Bier und etwas Koks später würden sie sich jetzt richtig schlecht fühlen, sie hätten ja Frau und Kind, das müsse echt aufhören, blablabla ... Das ist alles eine Frage deiner Willenskraft. Willst du damit aufhören, dann tu es. Wenn nicht, dann wirst du zu einem dieser „Hollywood Vampires“, die den coolen Rock’n’Roll-Lifestyle leben, up all night, sleep all day. Mich hat das irgendwann gelangweilt, die immer gleichen Sauftouren über vier, fünf Tage, von denen man sich dann zwei Wochen erholen muss.

Der Einzige, der diesen Lifestyle durchhält, ist wohl Lemmy. Ich habe kürzlich die Doku über ihn gesehen.

Lustig, dass du das erwähnst, ich habe auch gestern davon gelesen, wie der Filmemacher Lemmy in seinem „Büro“, dem Rainbow, getroffen hat. Ich mag MOTÖRHEAD, aber ich bin kein Fan von Rock-Movies, von „Spinal Tap“, „Rock’n’Roll High School“ und „The Decline of Western Civilisation“ mal abgesehen. Und Lemmy ist ein cooler Typ, unglaublich, was der alles mitgemacht hat. In dem Film sieht man Lemmy wohl, wie er im Rainbow sitzt und Bourbon und Coke in sich reinschüttet. Später dann stellt sich heraus, dass er Diabetiker ist, und ich frage mich nun, ob er Diet Coke in sein Glas kippt oder normale Coke.

Soweit ich weiß, kann man das als Diabetiker mit direktem Spritzen durchaus steuern.

Na ja, wenn man das von klein auf als Typ-1-Diabetiker gelernt hat, mag das angehen. Ich habe selbst eine Typ-2-Diabetes, seit zwölf Jahren, und ich bin immer noch dabei herauszufinden, wie das alles funktioniert: Wann kann ich was essen und was nicht, was sagt mir mein Körper und was nicht? Manchmal ist das echt krass, wie man plötzlich anfängt zu zittern, wie man schlecht gelaunt wird, komische Gedanken hat, und dann ist es höchste Zeit, sich zu spritzen oder was zu essen. Wenn man älter wird, wird man ja angeblich auch abgeklärter, ruhiger, ist mehr mit sich im Reinen, aber wenn man dann unvermittelt anfängt zu schwitzen und zu zittern, desorientiert ist, dann merkt man deutlich, wie es um einen bestellt ist und dass man dringend was essen muss.

Gab es für dich einen bestimmten Auslöser, mit Alkohol und Drogen aufzuhören – und wann hast du damit angefangen?

Los ging es mit zwölf, und ich war um die 30, als ich damit aufhörte – jetzt bin ich 55. Der Grund, damit aufzuhören, war die Erkenntnis, dass es Zeit ist, den ganzen Scheiß bleiben zu lassen. Ich war auf einer Party in Beverly Hills bei Freunden eines Freundes. Das war Mike Martt, der bei THELONIOUS MONSTER spielte. Die Eltern einer Freundin waren in China im Urlaub, und auf was für eine Idee kommt man da wohl? Wir haben ein großes Haus oben in den Hügeln, wir machen eine Party, mit all unseren Freunden und einer Band, die Leute können sich im Pool vergnügen! Ich schlief dann auf einer Luftmatratze im Pool ein, nackt und besoffen. Siehst du die Parallele zu Jeffrey? Als ich am nächsten Morgen wieder zu mir kam, hatte ich einen üblen Sonnenbrand, mein Mund war trocken, ich hatte einen fiesen Kater, der sicher noch viel fieser gewesen wäre, wenn ich nicht Kokain und Schnaps gemischt hätte. Ich stritt mich dann heftig mit meiner Freundin, und plötzlich merke ich, wie ich meiner Freundin vor all unseren Freunden eine reinhaue. Meine Freunde zogen mich weg, zerrten mich ins Auto – und brachten mich zu meinem Dealer! Ich war zu dem Zeitpunkt seit vier, fünf Tagen auf einem Sauftrip gewesen, und der Moment in der Küche war, als ich gegen die Wand lief. Ich merkte, dass der ganze Scheiß an dem Punkt zu Ende sein muss. Eine Frau schlägt man nicht, außer sie ist doppelt so groß wie du und Bodybuilderin, oder sie hat ein Messer in der Hand und will dir was antun. Ich hatte mich selbst zum Affen gemacht vor all unseren Freunden, wobei mir das noch gar nicht mal so viel ausgemacht hat, denn als Sänger einer Rock’n’Roll-Band darf einem das nichts ausmachen. Wie auch immer, in dem Moment war Schluss für mich.

Sprechen wir über OFF!, deine neue Band, die den Namen eines bekannten Insektensprays trägt, was eine interessante Parallele zu BLACK FLAG ist, denn es gibt auch ein Insektenspray namens „Black Flag“, das aber seinerzeit nicht Namenspate deiner Band war.

In der Tat, es wird immer wieder vermutet, das Insektenspray habe etwas mit dem Namen der Band zu tun, zu deren Gründern ich gehörte. „Black Flag kills ants“ – „Black Flag tötet Ameisen“ – war damals ein lustig gemeinter Slogan, der eine Anspielung auf ADAM & THE ANTS war. Die hatten 1981 einen Auftritt bei Tower Records, wir und all unsere Freunde gingen da hin und sorgten für ordentlich Chaos – unter diesem Slogan. Es war ein großer Spaß, aber der Slogan, mit dem wir da spielten, hatte überhaupt nichts mit unserer eigentlichen Namensgebung zu tun. Die vier Balken unseres Logos, die „Schwarze Flagge“, stehen für Anarchie, für das Piratentum, für Chaos – dafür, dass wir tun, was wir wollen, ob das nun jemand anderem gefällt oder nicht. Normalerweise schaut man sich eine schwarze Flagge an und denkt dabei nicht an Freiheit, aber die Sache mit Punkrock ist eine andere, und ich habe da in letzter Zeit wieder viel darüber nachgedacht, da ich mit Menschen zu tun hatte, die sich egoistisch verhalten haben. Punkrock stand damals für „wir gegen die“, dafür, dass wir machen, was wir wollen, ohne uns an Regeln zu halten, und das ist genau das Gegenteil von dem, was mir heute begegnet. Da regen sich Leute bei Facebook darüber auf, dass OFF! ein Konzert mit einer „neuen, trendy“ Band wie NO AGE spielen, die hätten ja so ein blödes Publikum, und so weiter ... Da muss ich fragen, ja, hast du sie noch alle? Darüber regst du dich auf? Und was ist überhaupt Punkrock? Wie wäre als Definition mit „Die Freiheit, alles zu tun, worauf man Lust hat“? Ich bin 55, und ich denke, ich habe mir das Recht verdient, Musik zu machen, mit wem auch immer ich will, zu spielen, mit wem ich will. Wenn ABBA eine Reunion planen und uns als Vorband für ihre Welttour haben wollen, dann mache ich das! Warum nicht vor neuen Leuten spielen, die etwas offener sind? „Punkbands dürfen nur für Punkrocker spielen“ – wer sagt das? Nein! Ich bin jemand, der sich einfach auf die Bühne stellt und seine Musik spielt für jeden, der sie hören will. Woodie Guthrie, der amerikanische Folk-Sänger, stellte sich auf eine Lkw-Ladefläche und sang für die Landarbeiter auf dem Feld.

Warum denken Menschen so eingleisig, wie du es beschrieben hast?

Das hat sicher was mit dem Etikett zu tun, das allem und jedem verpasst wird. „Das ist Punkrock!“ Ach ja? Und was, wenn nicht? So ein Etikett weckt bestimmte Erwartungen, und ich habe keine Lust darauf, mich nach den Erwartungen von irgendwem zu richten. Für mich sind nur meine eigenen Erwartungen an mich relevant. Ein Beispiel: Wir wurden gefragt, ob wir beim Coachella-Festival außerhalb von Los Angeles spielen wollen. Ein schönes Festival, das Leute veranstalten, die ich schon sehr lange kenne, auf dem aber viele Bands spielen, die sicher nicht Punkrock sind. Mich stört es nicht, wenn unsere Fans auch ARCADE FIRE hören. Gary Tovar von Goldenvoice, einem großen Konzertveranstalter aus Los Angeles, legte ein gutes Wort für uns ein, deshalb wurden wir von Coachella gebucht. Er hatte seinerzeit die Firma gegründet, um Konzerte von Bands wie BLACK FLAG, TSOL, ADOLESCENTS, SOCIAL DISTORTION, AGENT ORANGE, BAD BRAINS, GBH, TOY DOLLS, EXPLOITED, DISCHARGE und so weiter zu veranstalten. Diese Bands verbindet, dass ihre Musik laut, aggressiv und aufregend ist, die ihr Publikum dazu bringt, wild herumzuspringen, sich anders zu benehmen als bei einem normalen Pop-Konzert. Unter ihren Fans und Freunden waren und sind hier in Südkalifornien viele Skater und Surfer und BMX-Fahrer und so weiter, eben Leute, die eine gewisse Mentalität vereint, dieses „Go for it!“-Denken, deren Tun von einer gewissen Aggressivität geprägt ist, aber auch von Athletik, da steckt viel Adrenalin drin. Und die Musik der Bands, die ich eben nannte, wirkt bei solchen Leuten und solch einer Einstellung wie ein Katalysator. Gary Tovar erkannte das, es sprach ihn an, und als immer mehr Clubs hier in der Gegend sich Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger wegen der Wildheit des Publikums und der Bands weigerten, solche Konzerte zu veranstalten, es für Punks unmöglich wurde, Hallen anzumieten, und professionelle Veranstalter Angst hatten vor kaputten Spiegeln und Toiletten, da sprang Gary ein. Er fand Orte, an denen man Punk-Konzerte machen konnte, und dafür gründete er Goldenvoice. Er war Teil der „Third Wave of Punk Rock“.

Was war die erste Welle, was die zweite?

Die erste Welle war in den Sechzigern, als all die Kids auf dem Sunset Boulevard verprügelt wurden – man kennt das unter dem Namen „The Riot on Sunset Strip“. Die Bands, auf die die Kids damals standen, waren zwar nicht unbedingt das, was unsereins heute als Punkband bezeichnet – ich rede von den BYRDS, THE MAMAS & THE PAPAS, BUFFALO SPRINGFIELD und so weiter –, aber sie hatten alle etwas von dieser „Wir gegen die“-Mentalität, die sich auch schon bei Elvis und Hank Williams findet, und auch bei Benny Goodman, im Swing. In all dieser Musik gibt es Elemente, die dafür sorgten, dass zu jener Zeit die Eltern junger Menschen diese Musik nicht mochten. Erwachsene sprach diese Musik nicht in der Weise an, wie die es von „ihrer“ Musik gewohnt waren. Wenn ich jetzt also von dieser ersten Welle von Punk rede, dann beinhaltet das Garage-Bands wie die SEEDS, die sich auch im Kontext eben erwähnter Bands bewegten. Die sangen „You’re pushing on me / You’re pushing too hard on what you want me to be“. Oder THE MUSIC MACHINE, THE MUSIC EXPLOSION, das waren Bands, die die RAMONES massiv beeinflussten, musikalisch wie vom Look her. Und da waren LOVE mit „My little red book“, die STANDELLS mit „Dirty water“, und so weiter. Das waren die Sechziger, da gerieten überall die Jugendlichen mit den Autoritäten in Konflikt, und damit hatte auch Rock’n’Roll etwas zu tun. Diese Bands aus den Sechzigern also waren die Saat der Punkrock-Bewegung, die erste Welle.

Und dann kam in den Siebzigern die zweite Welle.

In Los Angeles zähle ich dazu die SCREAMERS, die WEIRDOS, THE DILS, THE BAGS, THE EYES, X, GERMS, FEAR ... die allerdings etwas später kamen. Wir gründeten uns ungefähr zur gleichen Zeit wie FEAR, dennoch zähle ich uns nicht zur zweiten, sondern zur dritten Welle. Und als unsere Welle kam, mit all den Teenagern, war das wirklich eine Welle, denn wir kamen von der Küste, von da, wo all die Surfer und Skater wohnten, und diese Leute kamen mit uns in die Szene, da liegt die Wurzel von Slam-Dancing und Stagediving, und vom Pogo entwickelte sich das damals zum Circle Pit, vor dem Hintergrund der Surfer und Skater. Und mit großen Sprüngen kommen wir nun wieder zu Goldenvoice und Gary Tovar, der damals Konzerte mit all diesen wilden Bands machte, zu Goldenvoice als Veranstalter von Coachella, und damit zu unserem Auftritt dort mit ARCADE FIRE, KINGS OF LEON, THE STROKES und so weiter. Was soll’s, es ist ein Festival, da muss ich nicht alle Bands dort mögen. Und im Ausgleich dazu spielen wir ja auch in kleinen Clubs, auf Partys, wo immer man uns haben will, ganz so wie damals, als wir mit dieser Musik anfingen.

Ich sah euch im Oktober 2010 in Chicago im Double Door live, und euer Auftritt, dein Auftreten als Sänger, hat mich echt weggeblasen. Was treibt dich an, mit 55 nochmal so die Sau rauszulassen mit dieser Band?

Na ja, wie du weißt, hatte ich noch eine andere Band, die CIRCLE JERKS. Dimitri, der bei OFF! Gitarre spielt, kam vor einer Weile auf uns als CIRCLE JERKS zu und meinte, es sei an der Zeit, ein neues Album aufzunehmen, und er würde das gerne produzieren. Jeder in der Band war begeistert von der Idee, und so begannen wir an neuen Songs zu arbeiten, die allerdings – meiner Meinung nach – nicht mal mittelmäßig waren. Ich war froh, dass Dimitri uns bei diesen Vorbereitungen begleitete, denn er war ein Puffer, ich neige nämlich dazu, gleich loszubrüllen, wenn ich jemandem sagen will, dass sein Song schrecklich ist. Ich lege gleich los mit: „Wie kannst du es wagen ...?! Wie kannst du glauben, wir könnten so was jemals aufnehmen?“ Ich hatte schon ein paar Songs auf diese Weise erledigt, und nun ja, so eine Band soll ja eigentlich eine Demokratie sein, aber so, wie der Präsident in den USA ein Vetorecht hat, nehme ich mir als Sänger das auch heraus: Wenn ich keinen Text zu einem Stück schreibe, wird der Song auch nicht verwendet. Die paar Songs, die ich zu hören bekam, wies ich zurück, dazu konnte ich keine Texte schreiben. Dimitri wirkte da ausgleichend, schlug vor, dieses oder jenes Element zu verwenden und aus verschiedenen guten Parts etwas entstehen zu lassen. Ich sagte, ich möge aber den ganze Song nicht, er warf mir vor, den Songs keine Chance zu geben, und er brachte mich dazu, Texte zu Songs zu schreiben, die ich sonst nicht geschrieben hätte. Im weiteren Verlauf schrieb Dimitri dann in seiner Funktion als Produzent an die drei anderen in der Band, dass die Aufnahmen über die Bühne gehen müssten, bevor einer der drei Herren, der auch noch in einer anderen, bekannten Punkband spielt, den ganzen Sommer lang auf Tour geht. Das war nicht so ganz fair, ich weiß, aber CIRCLE JERKS mussten ihre Aktivitäten schon immer nach denen von BAD RELIGION richten, bei denen Greg Hetson ja auch Gitarre spielt. Ich hatte davon einfach genug: Ich bin 55, warum muss sich mein Leben als Musiker immer an den Plänen eines anderen Musikers orientieren, die immer Priorität haben? Greg verdient damit seinen Lebensunterhalt, und das nicht schlecht, und ich? Das mag jetzt so klingen, als sei ich neidisch, aber vor allem störte mich einfach, dass ich mich immer nach seinen Plänen richten musste.

Und was passierte dann?

Dimitri machte allen klar, dass sechs Songs nicht reichen, dass für ein Album mindestens 16 gebraucht werden, dass wir also hart an weiteren Songs arbeiten müssten. Deshalb: Wir treffen uns bei Keith, der wohnt zentral. Ein guter Plan, denn einer von den anderen CIRCLE JERKS wohnt zehn Minuten Fußweg entfernt, der andere ist in fünf Minuten mit dem Fahrrad bei mir, und der dritte setzt sich in sein Auto und ist da, bevor zwei BEATLES-Songs vorbei sind, und der vierte muss auch nur 20 Minuten mit dem Auto fahren. Tja, und was war? Zu den vereinbarten Terminen kamen nur ein oder zwei – oder auch keiner. An dem Punkt war mir und Dimitri klar, dass die anderen aus der Band kein Interesse an einer Zusammenarbeit haben. Dabei lief das Songwriting zwischen mir und Dimitri wirklich hervorragend, ich war glücklich und begeistert, und eines Tages sagte ich zu ihm, dass wir einen Plan B brauchen. Ich merkte, dass das CIRCLE JERKS-Material mich nicht begeisterte, die Energie stimmte nicht, die Einstellung, das war alles so egoistisch, nach dem Motto „Wir können doch machen, was wir wollen, wir sind die CIRCLE JERKS und die Leute werden es mögen, weil wir seit zwölf Jahren kein Album gemacht haben.“ Aber wie armselig ist denn so eine Einstellung? Mir genügte das nicht, mich muss eine Sache, an der ich mich beteiligen soll, richtig euphorisieren, mich dazu bringen, vor Begeisterung von einem zehnstöckigen Haus zu springen, in der Hoffnung, dass da schon ein Sprungkissen auf mich warten wird. Und so zog sich das alles endlos hin, die Deadline kam immer näher, und die anderen in der Band sagten letztlich, dass sie nicht mehr mit Dimitri arbeiten wollen. Das war es dann für mich. Da sagt mir abends am Telefon derjenige in der Band, der einer meiner ältesten Freunde ist, mein Bruder, mit dem ich die Band vor über 30 Jahren gegründet hatte: „Keith, ich weiß, dass du wegen dieser Entscheidung gegen die Arbeit mit Dimitri die Band verlassen wirst.“ Ich war außer mir vor Wut! Auch darüber, dass er nicht den Mut hatte, mir das ins Gesicht zu sagen. Hätte er vor mir gestanden, gut möglich, dass ich zugeschlagen hätte – und mir dabei die Finger gebrochen hätte. Dabei bin ich weder groß und kräftig noch gewalttätig. Dieser Moment war aber jener, der in mir etwas zündete, wie wenn man in den Western diesen Sprengstoffzünder herunterdrückt. Und ich antwortete: „Stimmt, ich bin raus!“

Und was kam dann?

Eine halbe Stunde später hatte ich mich wieder beruhigt und aufgehört zu zittern, und sagte mir: Ich muss die Band gar nicht verlassen, ich habe diese Band gegründet! Ich gründe einfach eine neue, andere Band! Ich mache das, was die anderen bei den CIRCLE JERKS schon seit Jahren machen, nämlich auch in anderen Bands spielen. Und so entstanden OFF!, und es ist unglaublich, was seitdem passiert ist – wir schaffen es kaum, Schritt zu halten mit den Ereignissen, es ist unglaublich. Das positive Feedback ist unglaublich! Dave Grohl von den FOO FIGHTERS ist begeistert, Anthony Kiedis und die Jungs von den RED HOT CHILI PEPPERS, meine Freunde von MASTODON, und so weiter. OFF! sind eine neue Band, wir haben noch nicht mal ein Dutzend Shows gespielt und dann diese Begeisterung, das ist überwältigend!

Irgendwas macht ihr also richtig. Was genau?

Wir sind vorsichtig. Wir wissen, was wir wollen, und wie wir’s bekommen. Und wem nicht passt, was wir machen – egal, man kann es ja nicht jedem recht machen. Wenn das unser Ziel wäre, würde ich dieses Interview auch nicht selbst machen, sondern irgendwen dafür bezahlen, dass er meine Art zu reden nachahmt und die Interviews gibt, haha. Oder noch viel schlimmer, wir würden es machen wie die großen Bands: Keine individuellen Interviews mehr, sondern eine große Frage-und-Antwort-Runde mit vielen Journalisten, mit der Folge, dass alle Storys in allen Magazinen gleich sind. Und natürlich würde ich sicherstellen, dass kein Artikel über unsere Band, kein Interview mit uns gedruckt wird, ohne dass wir es gegengelesen und freigegeben haben. So kann man sicherstellen, dass nichts Negatives über die Band geschrieben wird, sondern überall zu lesen ist, wie großartig und wohltätig wir sind.

Ich könnte darüber lachen, wüsste ich nicht wie du, dass solche Arbeitsweisen heute üblich sind. Dazu gehört auch, dass man bei einem Konzert nur bei den ersten drei Songs Fotos von einer Band machen darf, damit hinterher keiner zu verschwitzt und fertig aussieht.

Genau, so ist sichergestellt, dass das Make-up nicht verwischt ist.

Raymond Pettibon, der einst die Plattencover für BLACK FLAG gestaltete und sich später zu einem bekannten Künstler entwickelte, hat für OFF! die Cover gestaltet. In der BLACK FLAG-Biographie „Spray Paint The Walls“ nun konnte man lesen, dass Pettibon, der jüngere Bruder von SST- und BLACK FLAG-Gründer Greg Ginn, vor vielen Jahren schon sagte, er habe keine Lust mehr darauf, Plattenhüllen zu gestalten. Wie hast du ihn überzeugt, es doch zu tun?

Raymond ist ein Lügner. Wenn du ihn mal triffst, richte ihm Grüße von mir aus und sag ihm, ich habe gesagt, er sei ein Lügner, hahaha. Die Sache ist die: Jeder von uns ist auch mal von irgendwas frustriert oder wütend. Ich etwa hatte eine Phase, in der ich keinen Punkrock mehr hören wollte. Wenn man diese Musik schon so lange macht wie ich, wenn man jahrelang tagein, tagaus Konzerte spielt mit Vorbands, die alle gleich klingen, dann verschwimmt irgendwann alles, man merkt, dass seine Aufmerksamkeit nur für ein bestimmtes Pensum reicht und es nur wenige Bands gibt, die aus der Masse herausragen. Ich wuchs mit den BEATLES, den HOLLIES, THE WHO, ROLLING STONES, THE KINKS und THE TURTLES auf, mit Stax und Motown, mit CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL, THE GUESS WHO ... All diese Bands zeichnet ihre Musikalität aus, wohingegen im Punkrock alles einer fixen, engen Kategorie entspricht, die auch strikt eingehalten werden muss – mit der Folge von identischen Bands, die sich so ähnlich sind, als habe man sie mit dem gleichen Plätzchenausstecher geformt, als gäbe es es irgendwo eine Punkband-Fabrik. Irgendwann hatte ich dann einfach die Schnauze voll von diesen Bands, und zu Hause höre ich auch nicht viel solchen Punkrock. Stattdessen höre ich THE SPARKS, BLUE OYSTER CULT, TELEVISION und Alice Cooper. Und THE JESUS LIZARD, DEEP PURPLE, SONIC YOUTH, DEERHUNTER. Die Palette von Musik, die ich mag, ist also sehr bunt, und das ist gut so. Äh ... ja, und was wollte ich jetzt eigentlich sagen? Hahahaha.

Raymond Pettibon.

Ach ja, genau, also der Kreis schließt sich bei Raymond wieder. Wir beide hatten eine lange Pause in unserer Freundschaft. Nicht, dass wir uns nicht mehr gemocht hätten, aber wenn man in einer Band spielt, die viel unterwegs ist, dann ist man eben immer wieder monatelang unterwegs, zwischendurch mal zwei Wochen zu Hause, und das führt dazu, dass man den Kontakt zu Menschen verliert, die einem mal viel bedeutet haben. Raymond war damals, als ich noch bei BLACK FLAG war, ein wichtiger Teil unserer „Familie“, doch während ich unterwegs war, um die Welt zu sehen, lebte Raymond sein Leben weiter. Und er wurde als Künstler ausgebeutet und übervorteilt, bis er genug davon hatte. Über die Jahre trafen wir uns immer wieder mal, redeten ein paar Sätze miteinander, aber mehr war da nicht. Dabei war er einst ein wichtiger Mensch für mich gewesen, und ich verspürte das Bedürfnis, wieder intensiver mit ihm zu tun zu haben. Und so trafen wir uns vor nicht allzu langer Zeit endlich mal, frischten unsere Erinnerungen auf, und bei der Gelegenheit erzählte ich ihm von meiner neuen Band. Er hatte sich früher schon dafür interessiert, was ich so mache, ich war der Kerl aus der Band seines älteren Bruders, an der er auch irgendwie beteiligt sein wollte. Er spielte bei ein paar BLACK FLAG-Proben Bass, fand dann aber seine Rolle in der des Künstlers, der die Covergestaltung übernahm, und so wurde er zu einem Mitglied der Band, auch wenn er kein Instrument spielte, keine Songs oder Texte schrieb. Nachdem wir unsere Freundschaft also aufgefrischt hatten, fragte ich ihn eine Weile später, ob er für OFF! nicht das Artwork gestalten wolle. Sein Interesse war anfangs nicht groß, ich rechnete mir eine 50%-Chance aus, dass er ja sagt.

Und er sagte ja.

Letzten Endes. Ihm war bewusst, dass ich Teil des inneren Zirkels von BLACK FLAG und SST war, und dieser Kreis besteht heute eigentlich nur aus schlechtgelaunten alten Männern, die sich ständig beklagen und mit dem Finger aufeinander zeigen, deren Gespräche sich daran erschöpfen, wer wann angeblich dies oder das getan hat, blablabla ... Raymond nun ist sich bewusst, dass sowohl er wie ich in all dem Wirrwarr um BLACK FLAG nicht fair behandelt wurden, so gesehen sitzen wir beide in einem Boot. Und deshalb sagte er zu mir, er werde alles tun, worum ich ihn bitte. Nun war es aber nicht so, dass ich ihn direkt gefragt hätte, ob er mir dies oder jenes zeichnen könne. Stattdessen besuchten Dimitri und ich ihn, um ihm unsere Musik vorzuspielen. Während die Musik lief, beobachtete ich Raymond genau, und ich sah genau, wie er spürte, dass in dieser Musik meine ganze neugewonnene Energie steckt. Er sah es, er fühlte es, er hörte es, und daran hat Dimitris Gitarrenspiel einen großen Anteil. Dimitri hat seine eigene Technik, und irgendwie schaffte er es, seine Gitarre in ein Instrument zur Zeitreise zu verwandeln, mit dem er Raymond und mich an den Ausgangspunkt unserer gemeinsamen musikalischen Reise brachte: nach Hermosa Beach, Ende 1976, Anfang 1977. Und das brachte Raymond dazu zu sagen: „Was immer ihr beiden vorhabt, ich bin dabei!“ Und ich machte ihn dann zum fünften Bandmitglied – vielleicht darf er sogar mal live Tamburin spielen, hahaha.

Welchen musikalischen Kurs verfolgen Dimitri und du mit OFF!, und wie bist du an Steven McDonald und Mario Rubalcaba gekommen?

Einen Kurs, den ich in den letzten Jahren mit anderen Bands nicht einschlagen konnte. Mario rief mich an, nachdem er gehört hatte, dass Dimitri und ich eine neue Band haben. Der wusste es von meinem Freund Sean Carlson, der das FYF-Festival in Los Angeles veranstaltet und Mario von seiner anderen Band EARTHLESS her kennt – er wollte bei uns Schlagzeug spielen, ohne vorher auch nur einen einzigen Song gehört zu haben. Ich habe Mario einige Male als Drummer von ROCKET FROM THE CRYPT gesehen, und auch seine anderen Bands wie SULTANS, HOT SNAKES, CLIKATAT ICKATOWI oder THE BLACK HEART PROCESSION habe ich immer geschätzt – der hat einfach nie in einer schlechten oder mittelmäßigen Band gespielt. Steven war dann einer von denen, die Dimitri und ich ganz oben auf unserer Bassisten-Wunschliste hatten. Steven traf ich auf einem Jay Reatard-Konzert – rest in peace, Jay! –, und als wir nach dem Konzert alle noch miteinander plauderten, erzählte ich ihm von meiner neuen Band mit Dimitri von den BURNING BRIDES. Er machte zunächst allerdings nicht den Eindruck, als ob ihn das wirklich interessiere, bis ich den Namen Mario Rubalcaba erwähnte. Ich kenne Steven schon ewig, seit seiner Zeit bei REDD KROSS, ich weiß, dass er ein guter Songwriter und Produzent ist. Er hat schon in zig Bands gespielt, ich habe ihm Produzentenjobs vermittelt, unter anderem mit einer Band namens NEON, die klang wie eine Mischung aus CHEAP TRICK und NIRVANA, und BE YOUR OWN PET. Damals arbeitete ich bei dem Label V2 Records. Steven war es übrigens auch, der mich anrief, ob ich nicht bei der letzten TURBONEGRO-Platte, die er produzierte, Backing Vocals singen wolle. Unsere Freundschaft basiert darauf, dass ich ihn schon kenne, seit er elf ist. Er kommt aus Hawthorne, hatte 1978 mit THE TOURISTS seine erste Band, aus der dann REDD KROSS wurden, sie hingen in der legendären Church ab, probten da, mit einem gewissen Ron Reyes am Schlagzeug, der dann der Sänger von BLACK FLAG wurde. In dieser Szene kannte jeder jeden. Ein paar Wochen später traf ich Steven wieder bei einem Konzert, und plötzlich stand Steven neben mir, sagt, dass dieser Club hier ideal wäre für eine Live-Aufnahme. Ich bin ein großer Fan von live eingespielten Alben, und das hatte ich auch für OFF! im Sinn. Ich hatte zufällig eine CD dabei mit ein paar Aufnahmen, die Dimitri und ich im Wohnzimmer gemacht hatten, die gab ich ihm und bat ihn um einen Rückruf. Der kam ein paar Tage später, und er fragte nur: „Keith, wann fangen wir an zu proben?“ Damit stand die Band, mit einer genialen Rhythm Section – keine typische Punkrock-Rhythm Section, denn Mario hat Latino-Blut in sich, der spielt nicht Schlagzeug wie ein typischer Punkrock-Drummer, dieser immer gleiche Polka-Rhythmus – sein Spiel ist viel komplexer.

Damit war die Band komplett – wo, denkst du, wird die Reise von OFF! hingehen?

An Orte, an denen ich noch nicht war. Wir haben schon Angebote für Konzerte in Norwegen, Italien, Spanien, Griechenland und Frankreich, alles Länder, wo ich noch nie mit einer Band gespielt habe, das finde ich spannend. Auch aus Südamerika, Australien und Japan haben wir schon Einladungen, und ich will da überall hin!

Mir scheint, als habe dir deine neue Band eine zweite Jugend verschafft.

So fühlt es sich an, und ich bin richtig begeistert von allem, was sich da gerade tut, es tun sich so viele neue Möglichkeiten auf. In den letzten Jahren war das anders und frustrierend: Da gab es zwar immer wieder interessante Angebote an die CIRCLE JERKS, aber ich hatte das Gefühl, die anderen unternähmen alles, damit aus nichts etwas wird, genauer gesagt, speziell einer von uns, der das Leben eines Rockstars führt, während wir anderen alle Arten von Scheißjobs machen mussten, um über die Runden zu kommen.

Ich erwähnte vorhin schon „Spray Paint The Walls“. Hast du das Buch gelesen, und denkst du, dass es eine zutreffende Beschreibung von BLACK FLAG liefert?

Falls du darauf gehofft hast, eine negative Aussage von mir über Henry Rollins zu bekommen: Vergiss es. Scheinbar wollen die Leute hören, dass Henry ein Arschloch ist, wollen an allem, was er getan hat, etwas Negatives finden, doch Henry ist einer der intelligentesten, ehrlichsten, geradlinigsten Menschen, die ich je getroffen habe. Ich habe großen Respekt vor ihm, auch wenn mich nicht alles begeistert, was er künstlerisch leistet. Vor dem, was er bei BLACK FLAG leistete, verbeuge ich mich aber. Stevie Chick hat mit dem Buch einen echt guten Job gemacht, ich kann mich über nichts beklagen. Und als er mich besuchte, bezahlte er mir ein Essen in meinem armenischen Lieblingsrestaurant – besten Dank dafür!

Zum Schluss des Interviews nochmal eine Frage zu Jeffrey Lee Pierce: Welches sind deine drei Lieblingssongs von THE GUN CLUB?

Das hängt von meiner Stimmung ab, das kann ich so nicht beantworten. Wenn sich jemand für THE GUN CLUB interessiert, empfehle ich zum Einstieg das erste Album „Fire Of Love“, das liebe ich, jeden einzelnen Song. Mit dem begründete Jeffrey ein Genre, das mal als „Cow Punk“ bezeichnet wurde, andere reden von „Blues Punk“. Ich würde es aber auch als das beste Americana-Album überhaupt bezeichnen. Ich glaube, nach diesem Interview werde ich erst mal die Platte auflegen und mir „For the love of Ivy“ anhören – und unbedingt „Port of souls“ vom „Mother Juno“-Album, das seltsamerweise von Robin Guthrie von den COCTEAU TWINS produziert wurde.

Keith, besten Dank für deine Zeit.

Joachim Hiller

 


KEITH MORRIS – DIE DISKOGRAPHIE

BLACK FLAG Nervous Breakdown EP (SST) 1978 | Everything Went Black (SST) 1982 | The First Four Years (SST) 1983

THE CIRCLE JERKS Group Sex (Frontier) 1980 | Wild In The Streets (Porterhouse) 1982 | Golden Shower of Hits (Allegiance) 1983 | Wonderful (Combat) 1985 | VI (Combat) 1987 | Gig (Relativity) 1992 | Oddities, Abnormalities and Curiosities (Polygram) 1995

OFF! First Four EPs (Vice) 2010

GASTAUFTRITTE

BAD RELIGION Against The Grain (Epitaph) 1990 (Gastgesang bei „Operation rescue“) | BUGLAMP Gabba Gabba Hey: A Tribute to the Ramones (Triple X) 1991 (Gastgesang bei dem Song „Sha-La-La howling at the moon“) | Roadside Prophets (1992) (schrieb BUGLAMPs Song „Eldorado“ zum Soundtrack des Films „Roadside Prophets“) | Welcome To Our Nightmare - Tribute To Alice Cooper (Triple X) 1993 (Song - „The ballad of dwight fry“) | ALKALINE TRIO Good Mourning (Vagrant) 2003 (Gastgesang bei „We‘ve had enough“) | MY CHEMICAL ROMANCE Three Cheers for Sweet Revenge (Reprise) 2004 (Backing Vocals bei dem Song „Hang ’em high“) | WRANGLER BRUTES Zulu (Kill Rock Stars) 2004 (Vertonte Gott bei dem Track „Driving“) | TURBONEGRO Party Animals (Burning Heart) 2005 (Sang bei dem Song „Wasted again“ mit) | THE BRONX Social Club#1 2006 (Performte die Lead Vocals bei dem Song „Witness (can I get a)“) | CHINGALERA Dose (CD Baby) 2008 (Übernahm den Hauptgesang bei „Twenty three“) | KLOVER Dose(2008) (Sang die Backing Vocals zu „Brain“) | TRASH TALK East Of Eden (2009) (Übernahm den Hintergrundgesang zu „East of eden“ und „Son of a bitch“

 


Raymond Pettibon: Von BLACK FLAG zu OFF!

Es wird oft übersehen, dass es sich bei Raymond Pettibon, 1957 als Raymond Ginn in Tucson, Arizona geboren, um den jüngeren Bruder von Greg Ginn handelt, den Gründer des legendären (oder sollte man inzwischen besser „berühmt-berüchtigten“ sagen?) Labels SST und der damit eng verbundenen, nicht weniger legendären Band BLACK FLAG, die Mitte der 80er Jahre wie kaum ein anderer Vertreter des kalifornischen Westküsten-Punkrocks den Übergang zu Hardcore markierte. Aus der damaligen Kultfigur Ginn ist inzwischen bekanntlich einer der meistgehasstesten Typen des Musikbiz geworden, und so verwundert es kaum, dass auch Pettibon angeblich schon seit Jahren kein Wort mehr mit diesem gewechselt hat.

Dabei fing alles sehr harmonisch an, denn schließlich gründete Pettibon – der auf der UCLA einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaft machte und kurze Zeit als Mathematiklehrer arbeitete – damals zusammen mit seinem Bruder SST, spielte in dessen Band den Bass, als diese sich noch PANIC nannte (dummerweise gab es schon eine Band mit diesem Namen), und entwarf später das bekannte, gerne tätowierte Logo von BLACK FLAG, eine aus vier schwarzen Balken bestehende, stilisierte Anarchisten-Fahne. Ganz zu schweigen von den unzähligen Flyern und Plattencovern, die Pettibon für die Bands der Punkrock-Szene in und um Los Angeles herum entwarf, vor allem für die Künstler des SST Labels, darunter MINUTEMEN und BLACK FLAG. Zu seinen bekanntesten Motiven dürfte allerdings das Cover des „Goo“-Albums aus dem Jahr 1990 zählen, mit dem SONIC YOUTH ihren Einstand beim Major Geffen Records gaben. Eine kantige Schwarzweiß-Tusche-Zeichnung mit einem jugendlichen Killer-Pärchen, versehen mit einem krakeligen Text, der dem Ganzen erst Sinn gab. Unverkennbar Pettibon, verstörend, brutal, poetisch und kryptisch zugleich, und mehr an bizzare Comic-Panels erinnernd als an zeitgenössische Kunst, nicht weit entfernt von einem Ralph Steadman.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Pettibon allerdings abseits seiner Wurzeln im Punkrock schon längst einen Namen in der Kunstszene gemacht, arbeitete Genre übergreifend auch im Bereich Film, wobei seine recht amateurhaften Werke dieser Art bevölkert waren von alten Bekannten aus dem Umfeld des SST-Labels. Seit den Neunzigern ist Pettibon in den Galerien dieser Welt sicherlich präsenter als in der Musikszene, die ihn maßgeblich prägte, hatte Ausstellungen im Museum of Modern Art in New York oder im Museum of Contemporary Art in Los Angeles und nahm 2002 an der Documenta XI in Kassel teil, inklusive zahlreicher Künstler-Monografien zu seinem bisherigen Schaffen. Seit 2009 macht Pettibon sogar wieder Musik und spielte unter dem Namen THE NICHEMAKERS ein Album (Vinyl only) namens „Soul Sealed The Deal“ ein, mit sehr schönem, entspannten „Cajun-Jazz“ (myspace.com/thenichemakers). Dreimal darf man raten, wer das Cover der Platte gestaltet hat. Mit dem Artwork zu den vier OFF!-7”-EPs ist Pettibon nun musikalisch wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt.

Thomas Kerpen