TON STEINE SCHERBEN

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„Der Kampf geht weiter“

Ohne TON STEINE SCHERBEN wäre die deutsche Musiklandschaft sicherlich eine andere. Die legendäre, von 1970 bis 1985 bestehende Berliner Anarchokombo hat nicht nur quasi im Alleingang die deutschsprachige Rockmusik erfunden und mit Songs wie „Keine Macht für Niemand“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ den Soundtrack zu jeder linken Protestkundgebung seit den Siebzigern geschrieben, sondern dürfte ganz nebenbei auch noch so ziemlich jede Deutschpunk-Band der letzten 30 Jahre entscheidend beeinflusst haben. Obwohl die Band seit über 25 Jahren aufgelöst ist, wirken ihre Texte gerade in Zeiten einer von den Medien herbei geredeten „neuen Protestkultur“ (Stuttgart 21, Castor-Blockaden etc.) aktueller denn je. Da erscheint es geradezu ironisch, dass die nach dem Tod von Frontmann Rio Reiser im Jahr 1996 verbliebenen Protagonisten in den letzten Jahren mehr damit beschäftigt waren, sich zu zerstreiten, als das musikalische Erbe gebührend zu pflegen. Kürzlich wurde nun auch noch der legendäre Band-Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen aufgegeben. Was bleibt also nach 40 Jahren Scherben? Und wie geht es weiter? Beginnen wir mit einem Rückblick ...

Sommer 1996. Ich bin 14 und höre auf einem Mixtape einen Song, der mich umhaut. Es geht um ein besetztes Haus. „Ihr kriegt uns hier nicht raus!“, schreit der Sänger in schnoddrigem Berliner Idiom und man spürt seine Wut in jedem Wort. Wer ist der Typ? Wie heißt die Band? Haben die noch mehr so großartige Songs?

Ich stelle bald fest: Ja, haben sie. Und diese Songs werden ab sofort mein Leben begleiten. TON STEINE SCHERBEN sind eine echte – was für ein bescheuertes Wort – Institution der deutschen Musiklandschaft. Mittlerweile zumindest. Scherben-Songs laufen schon mal als zwinkernd-ironische Untermalung, wenn der Altkommunarde Rainer Langhans durchs RTL-Dschungelcamp irrlichtert. Claudia Roth, Grünen-Vorzeige-Ulknudel, nutzt jede sich ihr bietende Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass sie die Gruppe mal gemanaget hat. Und „König von Deutschland“, der größte Soloerfolg von Scherben-Frontmann Rio Reiser, genießt eine zweifelhafte Zweitverwertung auf unzähligen NDW-Samplern. Wie konnte es nur so weit kommen?

TON STEINE SCHERBEN verstanden sich von Beginn an als Musikerkollektiv, das klar politische Position beziehen wollte – aber nicht nur: mindestens genauso wichtig war von Beginn an die Musik. Sie waren nicht nur die erste Band, der es gelang, unpeinliche deutsche Rock-Songs zu schreiben – sie waren auch die erste deutsche Punkband. Ihre Songs handeln von Unterdrückung, Ungerechtigkeit, politischen Missständen und formulieren Auswege und utopische Träumereien: „Der lange Weg, der vor uns liegt, führt Schritt für Schritt ins Paradies“ und „Die letzte Schlacht gewinnen wir“.

Aber Rio schrieb auch die vielleicht schönsten Liebeslieder in deutscher Sprache: „Komm schlaf bei mir“ etwa, oder „Halt dich an deiner Liebe fest“. Gerichtet waren sie an männliche Empfänger – aus seiner Homosexualität machte Rio nie ein großes Geheimnis. „Die Texte der Scherben sind relativ zeitlos“, erklärte mir Rios Bruder Gert Möbius: „Rio fühlte sich nicht als elitärer Dichter, er erdachte vielmehr von der Realität beeindruckt Fantasien für eine bessere Welt. Von der musikalischen Seite her wurde sehr viel experimentiert und Songs wurden in verschiedenen Stilen arrangiert – Reggae, Jazz, Beat, Rock, Punk. Deshalb ist der musikalische Ausdruck von TON STEINE SCHERBEN heute noch aktuell“.

Gert Möbius ist mit dabei, als sich die Scherben 1970 in West-Berlin gründen – quasi als musikalischer Arm der autodidaktischen Laienspielgruppe „Hoffmann Comic Teater“, in der die drei Möbius-Brüder Peter, Gert und Ralph alias Rio erste Bühnenerfahrungen sammelten. Der Kern der Band besteht zunächst aus Rio, Gitarrist R.P.S. Lanrue und Bassist Kai Sichtermann, hinzu kommen zahlreiche Gastmusiker und Kurzzeitmitglieder – eine große Musikkommune, die schon mit ihrer ersten LP „Warum geht es mir so dreckig“ und der programmatischen Vorabsingle „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ zur Haus- und Hofband der Anarcho- und Hausbesetzerszene avanciert. Ganz nebenbei gründen die Scherben auch noch das erste Indielabel Deutschlands: Von Beginn an veröffentlichen sie ihre Tonträger über die bandeigene David Volksmund Produktion. 1972 erscheint ihre wohl beste Platte „Keine Macht für Niemand“, die auch den legendären „Rauch-Haus-Song“ enthält, durch den ich einst auf die Band aufmerksam wurde.

Nach dem Doppelalbum „Wenn die Nacht am tiefsten ...“ von 1975 flüchtet die Musikerkommune von der Großstadt aufs Land: Im nordfriesischen Fresenhagen beziehen die Scherben ein altes Bauernhaus und nehmen ab sofort hier ihre Platten auf. Mit der unbetitelten „Schwarzen LP“ von 1981 entsteht dabei auch ihr wohl ambitioniertestes Projekt: Das Doppelalbum enthält 22 Songs, in denen die Band statt auf Parolen eher auf verrätselte, teils geradezu fragmentarische Lyrics setzte. Nach einer weiteren Platte kommt es 1985 nicht zuletzt aus finanziellen Gründen zur Auflösung. Rio macht anschließend als Solointerpret Karriere und verkauft sich dafür – wie er selber einmal sagte – „mit Haut und Haaren“ der Industrie. Immerhin: Mit Songs wie „König von Deutschland“ und „Junimond“, die beide ursprünglich für Scherben-LPs gedacht waren, gelingt es Rio, die Schulden der Band abzutragen.

Nach sechs Soloalben stirbt er 1996 in Fresenhagen an den Folgen seines jahrelangen, übermäßigen Alkoholkonsums. Dort, auf dem Bauernhof kurz vor der dänischen Grenze, wurde er auch begraben. Ein Novum, für das eine kurzfristige Sondergenehmigung der damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis eingeholt werden musste.

Frühjahr 2010. Fresenhagen, Kreis Nordfriesland. Endlich habe ich die Zeit gefunden, mir den legendären Kommunenhof der Scherben mal persönlich anzuschauen. Es ist schon komisch: Ich bin niemand, der viel von Legendenbildung und Überhöhung hält, aber das hier ist irgendwie doch ein mythischer Ort: Das Bauernhaus, in dem die Bandmitglieder gewohnt haben, bis sie einer nach dem anderen ausgezogen sind. Der Proberaum im Garten – ein alter Schuppen –, in dem bei meinem Besuch gerade die Hamburger Band KETTCAR Songs einstudiert. Und schließlich Rios Grab, direkt hinter dem Haus gelegen. Verwaltet wurde Fresenhagen seit Rios Tod von seinen Brüdern Gert und Peter Möbius.

2010 war das Jahr der runden Jubiläen für TON STEINE SCHERBEN: Vor 40 Jahren, 1970, die Gründung der Band. Vor 25 Jahren, 1985, dann die offizielle Auflösung. 2011 folgt das nächste traurige Jubiläum: Im August jährt sich Rio Reisers Todestag zum 15. Mal. Seitdem hat sich viel getan, die Scherben-Parole „Der Kampf geht weiter“ scheint sich in letzter Zeit vor allem auf die Protagonisten selbst zu beziehen: Zwischen den Möbius-Brüdern und den ehemaligen Scherben-Musikern, von denen viele heute unter dem Namen TON STEINE SCHERBEN FAMILY wieder auf Tour sind, herrscht schon länger Streit.

Ein besonderer Zankapfel stellt dabei die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem musikalischen Erbe dar. Als Gert im Jahr 2007 dem Elektrohändler Media Markt erlaubte, mit der Melodie von „König von Deutschland“ zu werben, gab es einen durchaus nachvollziehbaren Aufschrei an der Scherben-Basis. „Wir bekommen keine Unterstützung für unsere Kulturarbeit – und wenn ich was mit Sponsoren mache, gibt es gleich einen Aufschrei in der Szene“, klagte Möbius damals laut Spiegel. Als schier unendliche Geschichte erweisen sich auch die Auseinandersetzungen über die Verteilung der Lizenzrechte an den Scherben-Tonträgern. Als unschöne Folge sind die Alben derzeit gar nicht mehr offiziell im Handel erhältlich. Die Schuld dafür schoben sich die Rio-Erben und die Family-Mitglieder regelmäßig gegenseitig in die Schuhe. „Alle lebenden Musiker der Band TON STEINE SCHERBEN haben sich als Lizenzgeber der Scherben-Tonträger auf neue Lizenzvereinbarungen geeinigt. Allein die Erben von Rio Reiser verweigern dieser Vereinbarung ihre Zustimmung und verlangen Rechte für sich, die weit über das hinaus gehen, was Rio zu seinen Lebzeiten für sich beansprucht hat. Aus diesem Grund, sind unsere Tonträger bis auf weiteres nicht im Handel erhältlich“, erklärte die Family im August 2010 auf ihrer Homepage.

Mir gegenüber schob Gert Möbius den schwarzen Peter zurück an die Musiker: R.P.S. Lanrue, der kein Mitglied der „Nachfolgeband“ ist, habe gemeinsam mit ihm „2004 die David Volksmund Produktion und den dazugehörigen Verlag wieder neu gegründet. Wir haben die Scherben-Compilation ,18‘ und das Gesamtwerk von TON STEINE SCHERBEN produziert. Das war eine große Herausforderung: Wir haben Udo Arndt, den besten Tontechniker Deutschlands, für dieses Vorhaben gewonnen, haben viel Geld, Kraft und Herzblut in dieses Projekt investiert. Kurze Zeit später haben vier von elf Lizenzgebern ihren Lizenzvertrag mit uns gekündigt. Ihre Gründe waren für uns nicht nachvollziehbar. Bei der DVP liegt Ware im Wert von über 100.000 Euro auf Halde, aber wir dürfen sie nicht verkaufen – obwohl wir aus der Gesamtwerk-Produktion noch Schulden haben. Für mich sieht die Sache so aus, dass ein Teil der Scherben-Family unbedingt die Macht über die Verwertung von Scherben-Produkten erhalten will. Mittlerweile haben sie bereits eine ,Notpressung‘ von ,Keine Macht für Niemand‘ widerrechtlich auf den Markt gebracht. Erst kürzlich habe ich Mitgliedern dieser ehemaligen Band einen sehr fairen Vorschlag zu einer gütlichen Einigung unterbreitet. Wenn sie diesen Vorschlag ablehnen, wird es in Bälde keine TON STEINE SCHERBEN-Tonträger mehr zu kaufen geben.“

Ob es dieser Vorschlag war, der zu einer Entspannung der Situation führte? Mittlerweile scheinen sich die beiden Parteien wieder aufeinander zubewegt zu haben. Angeblich soll noch in diesem Jahr eine CD-Box mit Scherben-Aufnahmen erscheinen, auf der Homepage der Family heißt es: „Zur Zeit verhandeln wir mit dem neuen Vertrieb und hoffen, alle Platten bald wieder in den Handel geben zu können.“

Januar 2011. „Rio Reiser wird umgebettet“ – unter dieser Überschrift berichtet Spiegel Online über eine Entscheidung, die in der Scherben-Szene schon lange erwartet wurde und letztlich doch überraschend kam: Der Band-Bauernhof, Rios Refugium und letzte Ruhestätte, wurde nach jahrelangem Ringen verkauft.

„Die Familie von Rio kann diese Immobilie allein finanziell nicht mehr bedienen. Und die Region Nordfriesland hat überhaupt kein Geld. Mir wurde häufig angeraten, bekannte Rockmusiker um Unterstützung zu bitten. Ich kann das nicht, und ich will es auch nicht. Ich werde niemals Grönemeyer oder Lindenberg fragen, ob sie Fresenhagen finanziell unterstützen wollen. Alle Größen im deutschen Rock wissen um die Krise von Fresenhagen, aber keiner hat bisher Hilfe angeboten“, hatte mir Gert Möbius schon Ende 2010 erklärt. Der Zuschlag ging letztlich an eine Jugendeinrichtung aus der Region Nordfriesland, zukünftig soll hier eine Initiative für betreutes Wohnen ihre Arbeit aufnehmen.

„Was muss das für ein schönes Weihnachtsfest bei Familie Möbius gewesen sein. Endlich wieder Geld im Haus“, ätzte der Möbius-kritische Blog „Fresenhagen-Watch“ und legte nach: „Wieso haben die Möbius-Brüder den Hof nicht an die Scherben-Musiker verkauft? Entgegen der Behauptungen von Gert und Peter Möbius versuchten die Musiker seit mehreren Jahren, den Hof zu pachten oder zu kaufen. Die Möbius-Brüder aber sind auf keines der Angebote auch nur im Geringsten eingegangen. Sie verweigerten jedes konstruktive Gespräch.“ Es wird deutlich, trotz aller scheinbaren Einigungen im Streit um die Lizenzrechte: Die Zeiten der solidarischen Scherben-Community sind unwiederbringlich vorbei. Als der Verkauf noch nicht beschlossene Sache war, schloss Gert Möbius ein Konzert der Family in Fresenhagen wie in früheren Jahren kategorisch aus: „Ich denke mal eher nicht. Zudem tritt ja diese Formation nur recht selten auf. Und ihren Sänger Marius del Mestre finde nicht nur ich als Rio Reiser-Notersatz doch sehr peinlich.“

Herbst 2010. Kulturzentrum Pumpe, Kiel. Auf der Bühne: Die TON STEINE SCHERBEN FAMILY mit Gründungsmitglied Kai Sichtermann, Langzeit-Drummer Funky Götzner und Kurzzeit-Gitarrist Marius del Mestre. Peinlich ist es nicht, was die älteren Herrschaften dort auf der Bühne zeigen. Ich bin viel eher überrascht, mit wie viel Power und Dynamik sie die alten Scherben-Gassenhauer und Rio-Balladen spielen. Der „Rauch-Haus-Song“ steht zwar nicht auf der Setlist, dafür so ziemlich jeder andere Klassiker aus dem Backkatalog. Selbst Ex-Manager Nikel Pallat darf mal ans Mikro – der sorgte einst für eine echte TV-Sternstunde, als er mitten in einer lauen Diskussionsrunde urplötzlich den Studiotisch mit einem Beil attackierte.

Die Talkshow stand damals unter dem Motto „Die andere Musik zwischen Protest und Markt“ – ein geradezu prophetischer Titel, der die Geschichte der Scherben nahezu perfekt auf den Punkt bringt. Das, was allerdings unabhängig von allen hässlichen Lizenzdeals und Streitereien bleibt, zeigt sich an diesem Abend in Kiel: Die großartigen kämpferischen, träumerischen, bewegenden Songs und Texte vom besten Songwriter, den dieses Land hervorgebracht hat. Und der jetzt seine hoffentlich wirklich letzte Ruhe auf einem Friedhof in Kreuzberg gefunden hat. Gut, dass du vieles nicht mehr miterleben musstest, Rio!