ROIR

Interviews nicht nur mit Bands, sondern auch mit den "Machern" hinter den Kulissen gibt´s des öfteren im Ox, doch dieses hier ist eine Ausnahme, wegen des Labels, um das es geht, und auch wegen des Mannes, der dahinter steckt. Die Rede ist von Reachout International Records und Neil Cooper, und wer jetzt zu überlegen beginnt, ob sich das Weiterlesen wohl lohnen wird, dem sei zur Überzeugung empfohlen, sich den Katalog des New Yorker Labels am Ende dieses Interviews anzuschauen. ROIR wurde Ende der Siebziger in New York als ein Tapelabel gegründet, von Neil Cooper, der damals schon Ende vierzig war, aber einen Scheiss drauf gab, dass die Bands und Musiker, die sich in seinem Club die Klinke in die Hand gaben allesamt seine Kinder hätten sein können. Über die Jahre, vor allem bis ca. Mitte der Achtziger, entwickelte sich ROIR zum Ausnahmelabel, dessen Release-Liste sich wie einWho´s Who der besten und innovativsten Underground-Bands der Siebziger und frühen Achtziger liest, und auch heute noch, da das MC-Format mausetot ist und man im Hause ROIR mit CD-Wiederveröffentlichungen beschäftigt ist, lohnt es sich absolut, mal in die Frühphase von Punkrock und New Wave vorzudringen.

Neil, es freut mich, dieses Interview führen zu können.


"Mich auch, denn die letzten Interviews in deutschen Magazinen sind schon zehn Jahre her. Damals war ich in Deutschland und habe unseren damaligen Vertrieb Semaphore besucht ..."

... der vor ein paar Jahren bankrott gegangen ist.

"Ja, und wir haben Geld verloren, aber hatten davor auch ein paar gute Jahre. Wir sind mit dem Label seit 21 Jahren im Geschäft, da haben wir schon viele Vertriebe kommen und gehen sehen, sowohl in den USA wie in Europa. Und wir sind immer noch da."

Oft ist der Tod des Vertriebs aber auch der Tod des Labels.

"Oh ja. Vor allem, wenn ein Label einen Exklusivdeal mit einem Vertrieb hat. Wenn dann, gerade hier in den USA, der Vertrieb zumachen muss und dem Label noch viel Geld schuldet und auch noch die ganzen Platten bei sich im Lager stehen hat, ist es schnell vorbei mit einem Label. Mit Semaphore lief es lange sehr gut, bis sie Probleme bekamen und dann war es schnell vorbei. Das Problem des ganzen Independent-Musikgeschäfts ist der Mangel an Kapital. Alle sind davon abhängig, dass ständig und regelmässig Geld fliesst, und wenn der Geldfluss ins Stocken gerät, ist schnell Schluss."

Was ist dein "Trick", nach 21 Jahren immer noch im Rennen zu sein?

"Ich habe gelernt mit dem Teufel zu tanzen. Es gibt da dieses indianische Inititations-Ritual, wo der Neue vor seiner Aufnahme in den Stamm barfuss über glühende Kohlen laufen muss. Wir hier bei ROIR machen das jeden Tag, und das versetzt uns in die Lage, in diesem Geschäft klar zu kommen. Wir haben die letzten 21 Jahre überlebt, weil wir Glück und Durchhaltevermögen hatten. Und ausserdem würde mich sowieso keiner mehr einstellen, wenn ich mir einen Job suchen müsste. Sowieso hat mir niemand in meinem Leben je einen Job angeboten."

Apropos andere Jobs: du hattest ja schon diverse andere Tätigkeiten in deinem Leben.

"Oh ja. ROIR habe ich mit 49 gegründet, und davor hatte ich natürlich schon die eine oder andere Erfahrung gemacht. ROIR nun wurde 1979 als Firma angemeldet, die erste Veröffentlichung kam aber erst 1981. Davor habe ich zwei Nachtclubs besessen, einen in Florida und einen in New York City. Ich bin also ein Spätzünder in Sachen Label, und manchmal tut es mir auch leid, nicht zwanzig Jahre früher mit dem Label begonnen zu haben."

Witzig, das von jemandem zu hören, der Ende sechzig ist.

"Ich muss dich korrigieren, ich bin im Juni siebzig geworden."

Glückwunsch!

"Danke. Ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werde. Übrigens sitze ich seit 21 Jahren auf dem gleichen Stuhl am gleichen Schreibtisch und habe das gleiche Telefon. Ich bin jeden Tag hier und kümmere mich um vieles, aber mittlerweile führt mein Sohn Lucas, der seit zehn Jahren dabei ist, die Geschäfte. Er ist besser und klüger als ich, finde ich."

Dein Job ist es jetzt, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen?

"Lange Zeit war es so, doch mittlerweile hat er alles gelernt, was ich ihm beibringen konnte, und er weiss sogar schon mehr als ich. So höre ich oft mehr ihm zu als er mir."

Und wie kam er dazu, in deine Firma einzusteigen?

"Lucas hat hier mit ´nem Teilzeitjob angefangen, als er mit dem College fertig war, hatte aber nicht die Absicht, hier zu bleiben. Naja, noch vor drei Jahren kam er an und meinte, er sei sich nicht sicher, ob er diesen Job hier wirklich wolle und er nicht besser was eigenes anfangen solle: "Das Ganze ist ein Neil Cooper-Business, ich will was machen, das später meine Handschrift trägt", meinte er. Er ging dann drei Monate nach Europa, reiste nur mit dem Rucksack und schaute sich alles an, und als er zurück kam, sagte er zu mir, er wolle in der Firma weitermachen. Das war schön, und wir beide kommen sehr gut miteinander klar."

Ist er denn sehr viel jünger als du?

"Ja, er ist 31."

Dann ist er ja im richtigen Alter, um Punkrock zumindest Anfang und Mitte der Achtziger als Teenager mitbekommen zu haben.

"Nein, das war ich! Obwohl, da war ich ja schon Ende vierzig. Mit 49 hing ich mit den BEASTIE BOYS rum, mit den BAD BRAINS, den STIMULATORS, den ganzen Leuten aus der New Yorker Hardcore-Szene. Das Coole war ja, dass ich einen Nightclub besass und die Bands, die mir gefielen, in meinem Laden spielen lasse konnte. Vor und nach den Shows hing ich mit den Bands rum, wir tranken zusammen Bier und das beseitigte den Altersunterschied ziemlich."

Das Alter spielte also keine Rolle.

"Nein, gar nicht, wichtig war nur das gemeinsame Interesse an der Musik und die gleiche Begeisterung dafür."

Vor dieser Zeit hattest du aber auch schon ein paar interessante Sachen gemacht.

"Meine "Karriere" begann mit 24 als "Talent-Agent". Ich arbeitete damals für MCA und buchte für die verschiedensten Anlässe Zauberer, Alleinunterhalter, Tänzer und solche Leute. Danach wechselte ich dann in die Film-Abteilung bei MCA und arbeitete sowohl in Hollywood wie in New York. Mit 27 wurde ich dann der stellvertretende Geschäftsführer von Famous Artists Corporation und arbeitete mit Leuten wie Jane Fonda, Warren Beatty, Fellini und noch einige andere. Ich arbeitete dann fünf Jahre lang mit den grössten Agenturen in den USA zusammen, doch das war nur meine erste Karriere. Danach wechselte ich nämlich ins Brauereigeschäft. Mein Vater besass nämlich mehrere kleine Brauereien, und so arbeitete ich dann eine Weile für ihn, bis er mich feuerte."

Und was hast du dann gemacht?

"Ich gründete eine Firma mit meinem Bruder. Wir spezialisierten uns darauf, für ausländische Regierungen Sondermünzen zu prägen. Dieses Geschäft führte mich vor allem nach Afrika, ich reiste sehr viel und das Geschäft lief auch sehr gut. Ich lebte auch zwei Jahre in Äthiopien, und diese Erfahrung sollte mir dann später sehr viel weiterhelfen, als ich mit ROIR mit diversen Reggae-Musikern zusammenarbeitete. Denn im Gegensatz zu den ganzen Reggae-Leuten habe ich Haile Selassie mehrfach persönlich getroffen, ihm sogar die Hand geschüttelt. Den Reggae-Leuten bedeutet das sehr viel und sie interpretieren das so, dass jemand, der Haile Selassie die Hand geschüttelt hat, sie niemals betrügen würde. Ich lasse sie einfach mal in dem Glauben, hahaha! Die denken, eine direkte Begegnung mit Haile Selassie muss für mich eine Begegnung von tiefer religiöser Bedeutung gewesen sein. Ich meine, ich habe Selassie persönlich getroffen, er wusste, wer ich war und war auch mit ihm auf offiziellen Reisen, doch wir waren nie sowas wie Freunde, es war eine sehr formelle Begegnung."

Ich habe nie verstanden, warum die Rastafaris auf Jamaica und anderswo Haile Selassie verehren wie einen Gott, während der Herr in Realität ein übler Diktator war, der sein Volk ausbeutete und unterdrückte.

"Die Rastafaris lagen bezüglich der Person von Haile Selassie von Anfang an völlig falsch. Selassie war ein übler Demagoge, ein Faschist und er und seine Familie regierten Äthiopien mit eiserner Hand. Haile Selassie hat nie verstanden, was die Rastafaris eigentlich von ihm wollten, und es hat ihm auch nicht gepasst, dass sie ihn so verehrten. Er hatte keinerlei Bezug zu dieser Bewegung, sie interessierte ihn nicht und er kümmerte sich auch nicht weiter darum. Als er Jamaica besuchte, weigerte er sich zunächst das Flugzeug zu verlassen, denn der Flugplatz wurde von Tausenden Rastas belagert. Erst als die zwölf "Häuptlinge" der Rastafaris an Bord des Flugzeugs mit ihm verhandelt hatten, war er bereit auszusteigen. Er hatte einfach Angst vor dieser Menge und verstand nicht, was da überhaupt vor sich ging."

Ich nehme an, du hast diese Geschichte auch schon überzeugten Rastafaris erzählt.

"Die kennen diese Geschichte schon, es ist mittlerweile allgemein bekannt, dass man Selassie richtig aus dem Flugzeug locken musste. Aber viele Rastas bevorzugen es, solche Aspekte zu ignorieren."

Was war der erste Musikstil, für den du dich begeistern konntest?

"Um das zu beantworten, muss ich etwas weiter ausholen. Ich war in der Schule nie ein guter Sportler und immer der letzte, der für eine Mannschaft gewählt wurde. So habe ich mich früh einem anderen Hobby zugewandt, nämlich dem Schallplattensammeln. Meine erste Liebe galt dem New Orleans Jazz, und später entdeckte ich dann für mich den Punkrock, aber auch Reggae und Dub. Ausgelöst wurde das durch die New Wave-Bewegung ab 1978. Ich hatte damals einen Club in Florida, zu dem später noch einer in New York kam, und dort hatte ich zwei Partner, die aber beide verheiratet waren und Musik generell hassten, was dazu führte, dass ich mich um die Bands kümmern musste und sowieso die meiste Zeit im Club zubrachte. Ich bekam damals mit, dass da musikalisch etwas Neues abgeht, das "New Wave" heisst und sogar schon bis Florida vorgedrungen ist. Die ganze Musikszene dort war aus dem Häuschen, kaufte die Singles, las Melody Maker und Sounds und den NME. Alles war neu: die Musik, die Kleidung, der Tanz, der Blick auf Rock´n´Roll an sich. Alles war sehr exzentrisch, ich liebte es und beschäftigte mich immer mehr damit, was letztendlich dazu führte, dass ich einen zweiten Club in New York eröffnete, der sich vor allem um New Wave drehen sollte. Für mich war es nach Jahren anderer Jobs der Wiedereinstieg in die Musik."

In wie fern war für dich das wichtig, was über die Musik hinausgeht, also der ideologische oder politische Anspruch?

"Rock´n´Roll bedeutete schon immer Rebellion. Sei es die Übernahme der schwarzen Musik Anfang der Sechziger durch die weisse Musik, oder die "Entdeckung" schwarzer Musik durch Weisse wie Sunny Boy Williams, Leadbelly oder Otis Williams. Später verwandelte sich der Rock´n´Roll dann in diese Glam-Rock-Kultur mit fetten Limousinen und unnahbaren Stars. Mich sprach am New Wave das Gegenteil davon an: man hatte es mit Leuten zu tun, die eine eigenwillige Stellung zum Leben hatten, nicht mal ihr Instrument vernünftig spielen konnten, aber auf die Bühne gingen und einfach das machten, was sie wollten, ohne sich um irgendwas anderes zu kümmern - schon gar nicht darum, was die ganzen Bands auf den Major-Labels machen. In New York gab es damals eine sehr grosse New Wave-Szene, das waren so rund 500 Leute, die jeden Abend ausgingen, in den einschlägigen Läden abhingen, und ich kannte fast alle. Es war eine sehr geschlossene Szene, man musste einfach die gleiche Einstellung haben, teilte die Abneigung gegenüber Disco, dem zur gleichen Zeit allgegenwärtigen Mainstreamtrend, und es war einfach interessant zu sehen, wie die Leute alle selbst aktiv wurden, etwa ihr eigenes Label gründeten, einfach so, ohne jeden Vertrieb hinter sich. Bald dehnte sich die Szene auf andere Städte aus, auf Chicago, San Francisco und Los Angeles und entwickelte sich auch dann weiter, als New Wave in New York nach dem Ende von TELEVISION und den Bands von Johnny Thunders und Richard Hell wieder im Abschwung war. Das alles geschah Ende der Siebziger."

Als dein Label dann ´81 loslegte, war das meiste also schon vorbei.

"Ja, TELEVISION und SUICIDE waren da schon Legenden: die einen endgültig aufgelöst, die anderen mal wieder. RICHARD HELL & THE VOIDOIDS waren aufgelöst, und auch JOHNNY THUNDERS & THE HEARTBREAKERS. Ich startete in die zweite Welle des New Wave hinein, als die Musik von New York nach England gegangen war und jetzt wieder zurückkam. Musikalisch war die Szene sehr vielfältig, war nicht nur Punk, sondern umfasste auch exzentrische Bands, die stark von den TALKING HEADS beeinflusst waren. Witzigerweise war es so, dass viele amerikanische Bands mit einem englischen Akzent auftraten, weil englischer New Wave einfach angesagter war. Es war eine sehr aktive Szene, mit vielen Magazinen, vielen Leuten, die verband, dass sie sich für Musik begeisterten und Musik als das Wichtigste in ihrem Leben ansahen. Zu dieser Zeit also startete ich mein Label, mit Leuten, die ich kannte, weil sie in meinem Club gespielt hatten, die ich mochte und die mich mochten: Lydia Lunch, THE DICTATORS, James Chance, THE FLESHTONES, THE BAD BRAINS, THE STIMULATORS und so weiter."

Die erste ROIR-Veröffentlichung, die ich besass, war diese "World Class Punk"-Compilation, die Mykel Board zusammengestellt hatte.

"Die war schon eine spätere Veröffentlichung, vorher gab´s den "New York Trash"-Sampler, den David Hahn zusammengestellt hatte, der zu dieser Zeit der Manager der BAD BRAINS war. Der hing damals ständig bei uns im Büro rum. Übrigens war es mein anderer Sohn Nicolas, der die BAD BRAINS vier Jahre lang managete und für sie die wichtigsten Verträge einfädelte. Was die Mykel Board-Compilation anbelangt, so ist "World Class Punk" nur eine von vier oder fünf, die Mykel für uns zusammenstellte. Wir liessen ihm da völlig freie Hand, er konnte machen, was er wollte, es war sein eigenes Projekt."

Wer mit ROIR nicht vertraut ist, den wird jetzt überraschen, dass bis vor ein paar Jahren eure Sachen nur auf Cassette erschienen sind. Was hatte es damit auf sich?

"Das ist etwas, wozu ich gezwungen war. Die Firma wurde unter dem Namen Reach Out International Records, Incorporated gegründet und ich wollte auf Vinyl veröffentlichen. Aber es zeigte sich, dass keine der Bands und der Musiker, mit denen ich zu tun hatte, mir ihre Vinylrechte übertragen wollten. Die wollten damals alle auf Labels wie IRS oder andere etablierte Labels oder sogar zu einem Major, eben dahin, wo das Geld war. Ich sass also da, mit einem Label und mit Bands, die auch mit mir was machen wollten, aber nicht auf dem Standardformat der damaligen Zeit. Zu dieser Zeit wurden dann aber Music-Cassetten im England immer beliebter, BOWOWOW und Elvis Costello machten plötzlich Tapes, und ich begann meinerseits zu recherchieren, wie sich die Verkaufszahlen von Cassettenrecordern entwickeln. Es stellte sich heraus, dass die Verkaufszahlen permanent anstiegen, dass die Zuwachsraten höher waren als bei Plattenspielern. Und da stand meine Entscheidung fest: ich würde meine Releases als Cassetten herausbringen. So kam es, ich brachte James Chance, Lydia Lunch und noch ein paar heraus, und ein paar Monate später brachte Sony den Walkman heraus. Plötzlich war meine Firma hip, weil sie das Medium zum hippen Gerät hatte, und die Sache fing an zu wachsen. Wir machten uns schnell einen guten Namen, hatten das Image eines Cassette Only-Labels, und jahrelang war das eine gute Sache. Interessanterweise sind wir auch heute noch als Cassetten-Label bekannt, allerdings leider, denn heute kauft niemand mehr Cassetten."

Diese Marktentwicklung hat euch dann gezwungen, euren Katalog nach und nach auf CD zu veröffentlichen.

"Ja, und ich war eines der letzten Labels überhaupt, das auf die CD umschwenkte. Ich dachte noch sehr lange, ich könnte mit Cassetten überleben, aber irgendwann hörten die Händler in den USA und in Europa auf Tapes zu kaufen. Wir bekamen hier unglaubliche Retouren, tausende von Cassetten, die Kisten stapelten sich hier. Es brach mir das Herz, und ausserdem dachte ich ja, ich hätte Recht und alle andere lägen falsch bei der Einschätzung des Cassetten-Formats. Dummerweise machte ich so noch ein paar Jahre weiter, bis ich dann vor rund fünf Jahren so wurde wie alle anderen auch: wir fingen an CDs zu veröffentlichen. Doch obwohl wir seit fünf Jahren keine Cassetten mehr machen, denken viele Leute heute bei ROIR immer noch an das Tape-Label. Wir haben mit dem Umstieg von MC auf CD leider unsere Einzigartigkeit eingebüsst. Jetzt sind wir nur ein Label unter vielen mit unseren CDs. Dabei ist aber immerhin die Musik die gleiche geblieben, und, was noch erfreulicher ist: alle Bands, mit denen ich etwas gemacht habe, sind als Bands oder mit Solo-Projekten ihrer Mitglieder bis heute aktiv, wobei man die ausnehmen muss, die nicht mehr leben. Etwa James Chance, Lydia Lunch, SUICIDE, THE FLESHTONES, THE DICTATORS, Tom Verlaine, THE BAD BRAINS. Leider sind auch eine Menge gestorben, die einen an AIDS, die anderen an einer Überdosis ... Gleichzeitig ist keiner "meiner" Künstler je ganz gross geworden, eben so wie das Label."

Und, bereust du das?

"Nicht wirklich. ROIR hat sich über die Jahre das Image eines internationalen, profilierten Labels erworben, und heute haben machen wir ausser Wiederveröffentlichungen unserer alten Sachen auch neue Sachen, etwa von den LEGENDARY PINK DOTS, Bill Laswell und verschiedenen Dub-Musikern. Heute umfasst unser Katalog etwa zur Hälfte alte und neue Veröffentlichungen, was einerseits zum einem Verlust von Einzigartigkeit geführt hat, andererseits unser wirtschaftliches Überleben sichert. Wenn´s nach mir ginge, hätte ich freilich bis zum Ende meines Lebens nur Cassetten gemacht."

Die Einführung der CD entsprach dem Interesse der grossen Plattenfirmen an einem Format, das sie rundum kontrollieren kann.

"Ganz klar, so sehe ich das auch. Und sie haben ja mit der CD nicht nur der Cassette den Garaus gemacht, sondern auch dem Vinyl, was ich persönlich sehr schade finde, denn ich bevorzuge das Vinyl in jedem Fall der CD. Analog klingt anders, denn CDs haben für meinen Geschmack einfach einen viel zu hellen Klang. Da war es nur logisch, dass wir jetzt auch viele Sachen auf Vinyl veröffentlichen, und es ist erstaunlich, wie sich da die Verkaufszahlen entwickeln. So gibt es jetzt Sachen wie BAD BRAINS, MC5 oder EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN auch auf Vinyl, sowie diverse Dub-Sachen. Demnächst wird es dann noch die NEW YORK DOLLS auf Vinyl geben, und zwar ihre originalen Studio-Sessions, die entstanden, bevor sie eine Plattenvertrag hatten. Damals hatten sie noch Billy Murcia als Drummer, die Aufnahmen entstanden in der Nacht, bevor sie nach England flogen, um im Wembley-Stadion mit Rod Stewart vor 16.000 Leuten zu spielen, und dann war Billy auch schon tot, eine Überdosis. Dieses Album ist also das einzige, auf dem er zu hören ist. Wir haben die Aufnahmen komplett neu gemastert und stellten dabei fest, dass es bislang immer falsch gemastert wurde, mit einer falschen Pitch-Einstellung, und plötzlich klingt es viel besser."

Was hältst du von diesem ganzen Wiederveröffentlichungsgeschäft? In den letzten Jahren kommt da unglaublich viel auf den Markt, wobei ich der Meinung bin, dass man sich eine ganze Menge davon echt hätte sparen können.

"Die Sache ist einfach ein gutes Geschäft. Ich habe erst kürzlich im "Record Collector", diesem englischen Sammlermagazin gelesen, dass in Grossbritannien 30-40% der Plattenverkäufe auf Wiederveröffentlichungen entfallen. Das Ding ist doch einfach, dass ein Fan von den LURKERS oder THE RUTS möglichst viel von dieser Band besitzen will, auch Liveaufnahmen und Demos und so weiter. Wenn es einen Markt dafür gibt, sollen die Leute auch bedient werden, und ich gestehe, ich bin selbst einer von ihnen: wenn mir eine Band gefällt, kaufe ich möglichst alles von ihr und da sind Rereleases sehr hilfreich. Auf jeden Fall ist der Reissue-Markt heute stärker als je zuvor."

Mein Einwand ist der, dass es nicht leichter wird für neue, gute, junge Bands ihre Sachen zu verkaufen, wenn sie gegen immer mehr etablierte, alte Bands konkurrieren müssen und dass das auch womöglich für eine Szene auf Dauer nicht gut ist.

"Hm, interessante Frage. Ehrlich gesagt habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Abgesehen davon machen wir auf ROIR ja auch Platten neuer Bands, wobei das Problem ist, dass es sehr kostspielig ist für ein kleines Label, eine neue Band auf dem US-Markt zu plazieren. Jedes Jahr kommen in den USA 50.000 neue Platten auf den Markt, das sind jede Woche beinahe 1.000, und wenn du da erfolgreich sein willst, musst du eine ganze Menge Geld in die Promotion stecken. Und eine Band muss auch bereit sein, sich auf ihre Karriere einzulassen, ständig auf Tour zu sein und sich nach und nach ein Publikum zu erspielen. Hast du dich dann als Label entschlossen, es mit einer Band zu versuchen, schickst du sie auf Tour und nach einem Monat im engen Van hassen sie sich untereinander und lösen sich auf. Meine Suche gilt deshalb von jeher Bands, die etwas zu sagen haben und die bleiben werden. Fast alle Musiker auf ROIR haben über die Jahre sehr viele andere Musiker beeinflusst und sind eine bleibende Grösse geworden. Schau dir unseren Katalog an, das sind alles massgebliche Musiker, das sind Leute, die selbst zum Einfluss geworden sind, die etwas Eigenständiges geschaffen haben. Solche Bands suche ich auch heute, aber leider gibt´s davon nicht viele. Aber vielleicht hat´s auch was damit zu tun, dass meine Ohren abgestumpft sind nach all den Jahren, vielleicht damit, dass ich immer noch die Musik aus den Jahren ´79 bis ´83 bevorzuge, inklusive Reggae und allem, was Adrian Sherwood macht. Es ist nur einfach so, dass da draussen derzeit nicht so viel ist von dem ich denke, dass es auf Dauer Bestand haben wird."

Denkst du denn, dass die Phase von Ende der Siebziger bis Anfang der Achtziger eine besondere war, in der sehr viel neue Stile entstanden sind?

"Ja, dieser Meinung bin ich, und zwar nicht nur in den USA, sondern auch in England oder Deutschland. Auch wenn die beiden einzigen deutschen Bands auf ROIR EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN und MALARIA sind. Beide Platten verkaufen sich übrigens bis heute. Wie es mit ROIR weitergeht, weiss ich nicht, aber ich vertraue Lucas, dass er auch gute neue Bands findet. Mein Eindruck ist aber, dass derzeit in diesem Land nicht besonders viel an neuer Musik entsteht. Diese Elektronika-Sache ist interessant, aber sie wird nicht lange Bestand haben. Ich habe jede Woche 20 neue Platten in der Post und gebe jede Woche selbst noch $200 für Platten aus, wobei mich letzteres immer noch begeistert, während das bei den Sachen, die ich umsonst bekomme, nicht so ist. Ich habe in meinem Büro zwei Stapel: die Promos auf der einen Seite, die gekauften Sachen auf der anderen."

Und was war die letzte Platte, die du dir gekauft hast?

"Puh, schwer zu sagen, ich kaufe ja so viel, gerade auch per Mailorder via Internet, darunter auch viel Jazz. Also die letzte Platte war eine von KHMER mit Nils-Peter Molvar."

Neil, ich danke dir für dieses Interview.

"Ich danke dir, und ich wollte dir noch versichern dass mindestens 95% von dem, was ich gesagt habe, wahr ist ..."