Vaccination Records

Angefangen hat es mit IDIOT FLESH und ihrem musikalischen Manifest "The nothing show", eine geniale Abrechnung mit der Rockgeschichte, von Zappa bis Zorn, von QUEEN bis MR. BUNGLE, von Hardcore bis Hardrock. Musikalisch wie visuell ein pompöses Spektakel verschiedenster künstlerischer Einflüsse, sind sich die MusikerInnen in ihrem Wissen um die (Musik-)Geschichte einig, können sie gemeinsam darüber lachen und den Moment des Aufstiegs des Phönix aus der Asche der Rockmusik abwarten. In John Irvings "Hotel New Hampshire" ließ der Autor die linken Revoluzzer tagsüber an Porno-Geschichten arbeiten, bevor Abends die linken Manifeste verfasst wurden - "die Dekadenz soweit voreintreiben bis die Revolution unabdingbar wird", das war die Idee der Umstürzler. Hier wird eine Parallele zu IDIOT FLESH Kampagne "Rock against Rock" offensichtlich: Das System kennen, in ihm mit seinen Mitteln produzieren, um doch auf der Bühne darüber zu lachen und heimlich am Stuhlbein zu sägen.

Gute und schlechte Rockmusik gibt es trotzdem immer noch, aber seit ´92 ist unsere kleine Welt um ein beachtliches Label reicher. IDIOT FLESH waren sicher einer der Auslöser, daß Dren McDonald, ein guter Freund der Band, und sein Label Vaccination Records einen großen Schritt nach vorne gebracht hat. Zum damaligen Zeitpunkt, anno ´96, war Vaccination nur Insidern bekannt, vor allem durch seinen von den RESIDENTS abgesegneten "Eyesore - a stab at the Residents"-Sampler, der in Europa von EuroRalph vertrieben wurde. Mit IDIOT FLESH konnten das Label und die anhängenden Bands sich in den Staaten weit über die Grenzen von Oakland und San Francisco hinaus bekannt machen. Mittlerweile existiert eine treue Fangemeinde, die nicht nur die herausragenden Shows der Vaccination Bands besucht, sondern auch das Labelprogramm komplett sammelt.

Aber fangen wir vorne an: GIANT ANT FARM, Drens ursprüngliche Band, musikalisch zwischen Klezmer, Nick Cave und den PIXIES einzuordnen und dem einen oder der anderen durch zwei kleine feine Europatouren bekannt, war mit einer Kassette die 001 auf Vaccination Records. Bald kam "Fortune", die erste CD der GIANT ANTS, und der Weg war vorgegeben: aufwendig gestaltete Papp-Cover mit ungewöhnlicher Musik am Rande des Rockmainstream sollte sich zum Markenzeichen des kalifornischen Labels entwickeln. Die Verbindung zu anderen Kunstformen wurde gesucht und in der Synthese von Inhalt und Verpackung, Musik und Performance, Spaß und Anspruch gefunden. Dren selbst meint dazu:

"Ich begann das Label, weil viele meiner Freunde ihre eigenen Platten rausgebracht, aber sonst nichts organisiert haben, also Touren, Promos an Radios und Zines schicken und so, und ich hatte keine Lust meine Freunde enden zu sehen mit einem Haufen Platten und CDs am Hals. Also gründeten wir eine gemeisame Plattform auf der wir unsere Platten produzieren und präsentieren konnten; nach außen waren wir eine Gruppe gleichgesinnter Freunde mit ähnlichen Musikgeschmack. Über die Zeit rutschte ich immer mehr in die Verantwortung; und die Menschen die mitmachen, entdecken Musik, die sie sonst vielleicht nicht entdeckt hätten, weil zwischen allen Bands immer auch freundschaftliche Verbindungen bestehen."

Dieser Kollektiv-Gedanke wurde über die Jahre zum Prinzip, so daß tatsächlich die Überschneidungen der Bandmitglieder unglaublich ist und alle MusikerInnen auch in die Distributions-Prozesse miteingebunden werden. Das Label als Heimat wird gemeinsam getragen und gefördert. In diesem Rahmen werden auch immer wieder Shows in San Francisco und Umgebung geboten, bei denen die 700 bis 800 ZuschauerInnen elf Bands (einige haben sich nur für diesen Event zusammengeschlossen), drei FeuerschluckerInnen und zwölf andere ArtistInnen, zwei Theaterstücke und mindestens achtzehn verschiedene Musikstile zu sehen bekommen. Leider kenne ich dieses Szenario nur vom Hören-Sagen, aber die Mixtur an Theater, Comedy und Musik muß ein alle Sinne ansprechendes Erlebnis sein. Auch bei diesen Shows ist der Nutznießer das Label, der Gewinn wird in allgemeine Promotion und Organisation gesteckt und so kommt es allen Bands zugute. Natürlich gehören zur Familie nicht nur der Grafiker (Chuck Squier, auch Mitglied bei MUMBLE & PEG), der befreundete Drucker und der WebSite-Gestalter (Dren selbst), sondern auch das passende Studio um die Ecke: Fast alle Aufnahmen sind bei Polymorph Recordings unter den Fittichen von Dan Rathburn (auch IDIOT FLESH und CHARMING HOSTESS) entstanden.

Dieses Geflecht der Beziehungen zieht mittlerweile sogar noch größere Kreise. Schon der "Tribute to the Residents"-Sampler zeigte, wie tief verwurzelt in diesem Falle Dren mit der Kunst- und Performance-Szene in SF ist (Aus sicherer Quelle weiß ich, daß Dren die RESIDENTS sogar namentlich kennt). Neben den bekannten Vaccination-Bands finden sich auch Namen, wie SNAKEFINGER, PRIMUS, Stan Ridgway und ONLY A MOTHER auf dem Silberling. Durch ausgiebige Touren der IDIOT FLESHS mit anderen VacRec-MusikerInnen im Vorprogramm ist Vaccination mittlerweile in den meisten nordamerikanischen Metropolen in gewissen Kreisen ein Garant für Qualität. Die Fäden reichen bis nach Chicago ins befreundete Skin Graft-Headquarter, wo mit ähnlicher Zielsetzung, wenn auch anderer Herangehensweise an der Dekonstruktion des Rocks gearbeitet wird. Die Labels unterstützen sich durch die Organisation gemeinsamer Touren und das Herausgeben eines gemeinsamen Katalogs.

"Die Wut über das Mittelmaß" nennt Dren den gemeinsamen Nenner. Die Konsequenz ist Gewohntes zu ignorieren oder mindestens zu modifizieren. Dieses Prinzip wurde auf verschiedenste Art von den Bands umgesetzt: IDIOT FLESH bieten obskure Rockopern, CHARMING HOSTESS vereinen Vocalkunst mit Klezmer, Funk und Punk; Frank Pahl macht zusammen mit illustren Gästen (u.a. Eugene Chadbourne) Singer/Songwriter-Musik der residentschen Art; MUMBLE & PEG sind melancholisch und emotional, ohne kitschig oder weinerlich zu wirken, ESKIMO komponierten eine Queer-Film-Soundtrack zwischen Barmusik und Jerry Cotton-Soundtrack....

Und natürlich wird dieses Prinzip auch auf den aktuellen Veröffentlichungen kultiviert. Zum einen sind da RUBE WADDELL, die mit einer Kiste selbstgebastelter Instrumente und einem Sack voll amerikanischer Musik-Traditionen längst vergessene Qualitäten wie Songwriting, Storytelling und "raw energy" (statt "pure power") vermitteln. Stark im Blues verankert bieten die Drei, die sich ihren ersten Sporen als Straßenmusiker verdienten, die Roots, auf die Jon Spencer zurückgreift. So bunt und wild wie das Leben des Namensgebers ist ihre aktuelle CD "Stink bait", und benannt haben sie sich nach eben jenem Rube Waddell, der Anfang des Jahrhunderts in den Staaten bekannt war wie ein bunter Hund: Er war fahrender Varietekünstler, Football-Spieler und Extrem-Sportler in einer Person. Im Frühjahr (vom 06.04. - 30.04.) wird das Trio ebenso wie NINEWOOD (April/Mai), zu denen ich gleich ein paar Worte verlieren werde, in Deutschland unterwegs sein, haltet also die Augen und Ohren offen.

NINEWOOD ist ein Quartett, dessen Mitglieder neben ihren musikalischen Aktivitäten künstlerisch auf verschieden Ebenen aktiv sind: Da ist eine Tatoo-Künstlerin, ein WebSite-Designer, eine Schauspielerin, Tänzerin, ein Zeichner, Bildhauer, und und und... Auch hier also wieder die Verbindung von verschiedenen Künsten praktiziert, die sich nicht nur in dem ausgesprochen schmucken Faltcover offenbart, sondern auch in musikalischer Individualität: Zwei Bässe, kombiniert mit einem mächtigen Schlagzeug und einer dunklen Stimme, lassen eine warme, morphinsche COPSHOOTCOP-Stimmung mit exzellenten Lyriks entstehen. Dynamik und Intensität sind hier die Erfolgsmittel. Vereint findet sich übrigens die ganze Pracht auf dem aktuellen Label-Sampler "Funny rubber hand", und die ausführlichen Reviews zu fast allen Tonträgern finden sich in Ox #33.

Ein Ausblick ins neue Jahr verspricht einges: NINEWOOD waren im Januar/Februar im Studio, um ihre nächste Platte aufzunehmen, die im Sommer erscheinen soll, und weitere Releases auf Vaccination werden sein: Drens neue Band GRAND NATIONAL, die einen Weg zwischen ungehörten Folk, Jazz und außergewöhnlichem Rock geht, eine IDIOT FLESH-EP im Frühjahr und eine neue MUMBLE & PEG-CD, die in Deutschland als Lizenspressung über Noisolution kommt.

Zum Abschluß noch eine andere (nicht vorhandene!?) Seite des Labels. Im Sommer hatte ich das Vergnügen Dren persönlich kennenzulernen. Wir waren gemeinsam auf einem Konzert der GOLDENEN ZITRONEN (enttäuschend), aber zum Glück gab es den Opener aus Finnland: LARRY & THE LEFTHANDED, die ein tolles, mit psychedelischen Moog-Sounds durchzogenes Set lieferten. Später fiel mir ein, daß die elektronische Musik so gar keinen Widerhall im Vaccination-Soundspektrum findet. Darauf angesprochen meinte Dren: "Electronica? Not my cup of tea, I never had much taste for it, although I kinda like LARRY & THE LEFTHANDED. I like the new PJ Harvey record, which has some triphop influences, but I think there´s no future for electronic music and Vaccination - it´s almost contrary to what we all do here." Hier im O-Ton, weil prägnater könnte ich die klare Haltung Drens zu diesem Aspekt nicht übersetzen. Ich persönlich fände es aber durchaus interessant, dem einen oder der anderen VacRec-MusikerIn ein cooles elektronisches Spielzeug in die Hand zu drücken, denn man wäre wohl auch hierbei wahrscheinlich wieder überrascht, was dabei rauskommen kann. "Rock against Rock" ist ja toll, aber wo bleibt die "Electronica against Techno" Bewegung?!

Ingo