LARS FREDERIKSEN

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Mitten ins Gesicht

RANCID-Sänger Lars Frederiksen, der dieser Tag auch parallel mit seiner Oi!-Band THE OLD FIRM CASUALS aktiv ist, kann nicht verbergen, dass er tätowiert ist. Wo andere Tätowierte zumindest langärmlig und mit Hemdkragen ihre Hautbemalung noch bürojobkompatibel tarnen können, hat Frederiksen sich längst schon für ein Leben als Außenseiter entschieden, trägt seine Tattoos auch auf Hals und Händen sowie im Gesicht. Ich sprach mit ihm über seine Motive (bildhafter wie mentaler Art), unterstützt von Sebi von STOMPER 98, der Lars in Sachen prozentualer Hautbedeckungsquote beinahe ebenbürtig ist. Wer den RANCID-Frontmann übrigens aufgrund seines Äußeren, wegen der medialen Darstellung und Präsenz für einen harten Knochen, einen Angeber, einen Punk-Helden oder sonstwie in absoluten Begriffen sehen will, könnte nicht falscher liegen: Lars ist ein netter, freundlicher, zuvorkommender, vorsichtiger Mensch, der bedingt durch die gemeinsame Liebe zu Oi! in Sebi einen Seelenverwandten gefunden hat.

Lars, was war dein erstes Tattoo, wo hast du es machen lassen – und wie hast du dich direkt danach gefühlt?

Lars:
Ich war elf und ließ mir das Wort „Oi!“ aufs Schienbein tätowieren. Vom Schienbein ist das, weil ich damals noch nicht ausgewachsen war, auf den Fußknöchel gewandert. Ich fühlte mich damals großartig, es war das Beste, was ich bis dahin gemacht hatte. Ich wollte immer schon ein Außenseiter sein, deshalb entschied ich mich für Punkrock, für Skinhead. Allerdings musste ich das Tattoo vor meiner Mutter verstecken. Irgendwann sah sie es dann, und sie wurde echt wütend, sie sagte: „Es hat mich neun Monate gekostet, diese Haut zu machen, und du ruinierst sie in 20 Sekunden!“

Sebi: Ich kenne das: Ich war 14, als mein Vater meine „ACAB“-Tätowierung entdeckte. Wir gingen schwimmen, aber ich wollte nicht ins Wasser, dazu hätte ich meine Socken ausziehen müssen – und da drunter war das Tattoo. Aber es half alles nichts ... und es setzte eine Strafpredigt, wobei ich ihm dann erzählte, ACAB stünde für die Anfangsbuchstaben des Namens meiner Freundin, haha.

Was für Vorstellungen und Befürchtungen stecken hinter solch erschrockenen Reaktionen von Eltern, warum werden Tattoos als etwas Schlechtes angesehen?

Lars:
Meine Mutter kommt aus Dänemark, sie wuchs während der Nazi-Besetzung des Landes auf und musste als kleines Kind miterleben, wie ihre Familie von den Nazis vor ihren Augen erschossen wurde, wie bei einer Exekution. 1960/61 wanderte sie aus Dänemark in die USA ein, und nachdem ich dann 1971 geboren wurde, war mein Vater schon bald kein Thema mehr – ich war drei, als er uns verließ, er ging wieder nach Dänemark. In unserem Haus herrschte immer eine sehr ängstliche Stimmung, und ich denke, das hat mit den Erfahrungen meiner Mutter im Krieg zu tun, mit dem Verlust ihrer Angehörigen. Ich kann mir kaum vorstellen, was das für ein Gefühl für sie gewesen sein muss – für mich war es schon sehr traumatisch, vor einigen Jahren meinen Bruder zu verlieren, und noch mehr für meine Mutter – wer will schon sein Kind überleben? Heute bin ich selbst Vater, und wenn mein Sohn mich eines Tages auf eine Tätowierung ansprechen sollte, würde ich mit ihm in ein Tattoo-Studio gehen, sobald er 16 ist. Ich würde ihm nur empfehlen, sich nichts Blödes tätowieren, etwa einen Tribal-Ring um den Arm oder so, haha. Aber was weiß ich denn schon, was aus meinen Kindern mal werden wird? Der Einfluss von Eltern ist begrenzt. Ich hoffe, sie übernehmen meine Moralvorstellungen, werden zu weltoffenen, vorurteilsfreien Menschen. Ich muss da immer wieder an meine Mutter denken, wie schwer es für sie war, zwei Jungs großzuziehen, und das vor dieser Familiengeschichte. Ich habe mich noch nie so richtig mit ihr darüber unterhalten, nur einmal fragte sie mich, warum ich mich für dieses Leben entschieden habe, das ich führe. Ich antwortete: Mom, du hast deine Heimat verlassen, als du 20 warst, du kanntest kein Wort auf Englisch, gingst nach Amerika – und jetzt sag mir mal, warum sich unsere Persönlichkeit unterscheiden soll? Sie meinte daraufhin, ich hätte wohl Recht. Wir sind beide Piraten, Wikinger, wir haben unseren eigenen Kopf. Wir haben allerdings erst wieder zueinandergefunden nach dem Tod meines Bruders. Sie wollte nie, dass ich Punk bin. In den frühen Achtzigern, ich war da gerade elf, fing ich an, mit Skinheads rumzuhängen, und damals stand ich wegen Einbruchs erstmals vor einem Jugendrichter. Mein Anwalt sagte, ich solle bloß nichts davon erzählen, dass ich mich mit Punks oder Skinheads abgebe. Und so fragte dann der Richter, ob ich mit Punkrockern und Skinheads herumhänge, und ich antwortete „Yes, that’s right!“

Sebi: Ich war 15, als ich erstmals vor Gericht stand. Meine Mutter saß hinten im Saal und weinte, es ging um Einbruch und Körperverletzung, und ich bekam 100 Sozialstunden aufgebrummt. Das war ein riesiges Drama, der Bewährungshelfer kam zu uns nach Hause, und natürlich verstand keiner, was mich umtrieb. Heute habe ich selbst Kinder und kann sehr gut verstehen, wie sich meine Eltern fühlten.

Lars: Ich bekam zwei Wochen Jugendarrest und 400 Stunden Sozialstunden – und ein Jahr auf Bewährung. Zudem bekam ich noch Hausarrest, durfte nur zur Schule raus oder mit meiner Mutter. Bei dem Einbruch hatte ich 20 Dollar erbeutet, die hatte ich behalten, und als mich meine Mutter dann zu Tower Records fuhr, kaufte ich von den 20 Dollar das „Strength Thru Oi!“-Album, haha. Von dem gestohlenen Geld!

Und da sage noch einer „Crime doesn’t pay“! Gab es einen Punkt, an dem du bewusst entschieden hast, dass die Konventionen der Gesellschaft für dich keine Bedeutung haben? Ich denke da speziell an den Schritt, sich im Gesicht tätowieren zu lassen.

Lars:
Ich habe das damals bewusst gemacht, weil sonst niemand das machte. Das ist über 20 Jahre her, damals ließ ich mir die Fingerknöchel tätowieren, den Nacken und eben das Gesicht. Ich machte das, weil ich mich außerhalb der Gesellschaft stellen wollte. Die Typen, mit denen ich aufgewachsen bin, wurden entweder One-Percent-Biker, gingen zu den Hells Angels, starben früh, saßen im Knast oder waren Junkies. Das waren also meine „Vorbilder“, aber ich hatte ja noch meine Musik – und meinen älteren Bruder, der schon in den Achtzigern Skinhead war. Die Hosen, die ich heute Abend trage, sind übrigens von ihm, und vor meinen Bruder trug sie mein Vater. Damals waren Sta-Prest einfach nur billige Arbeitshosen, die niemand haben wollte. Wenn ich die heute anziehe, lacht mich meine Frau immer aus: „Hast du wieder deine Hausmeister-Hosen an?“ Ansonsten ist es okay für sie, was ich mache, nur fett dürfe ich nicht werden, sagt sie, denn die meisten Skinheads, die sie sehe, seien fett. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, es war eine bewusste, absichtliche Entscheidung, denn ich wusste ja, dass ich für den Rest meines Lebens diesem Lebensstil, dieser Musik treu bleiben würde.

Und das wolltest du nach außen hin zeigen, indem du den Rückweg in die „normale“ Gesellschaft blockiert hast?

Lars:
Ja, denn ich wusste doch, dass mein Leben die Musik ist. Ich wusste nicht, in welchem Umfang das der Fall sein würde, aber ich war mir klar darüber, dass Punkrock meine Musik ist, dass ich nur so glücklich sein kann. Ich muss aber auch sagen, dass da auch der Aspekt eine Rolle spielt, dass ich mich durch die Tattoos selbst dazu gezwungen habe.

Das ist also die harte Schiene – im Gegensatz zu zwar auch schon recht mutigen Hautbildern auf den Armen oder dem Oberkörper, die aber nur bis zum Handgelenk oder dem Shirtkragen gehen und damit einer normalen „Karriere“ nicht im Weg stehen.

Lars:
Das ist nicht meine Sache, ich bin ein „Lifer“, ein Lebenslänglicher, ich mache diesen Scheiß zu 100%. Und die Menschen, mit denen ich befreundet bin, denen ich mich nahe fühle, Sebi etwa, sind genauso drauf. Aber auch wir können ein „normales“ Leben führen, er hat Frau und Kinder, ich auch. Auch wir sind Familienväter und Ehemänner, und unsere Gattinnen lieben uns für das, was wir sind.

Sebi: Genauso ist es. Jenseits der Band ist mein Leben ziemlich normal, ich habe Kinder und einen Job, in dem sich zum Glück niemand für meine Tattoos interessiert. Der einzige Grund, der heute gegen noch mehr Tattoos spricht, ist meine Frau. Die sagt, ich hätte doch echt schon genug.

Lars: Hahaha, ich kenne das: „Was willst du denn? Du hast doch genug Tattoos, wem willst du noch was beweisen?“ Hahaha!

Sebi: Hehe, „Du hast eine Schlange auf den Kopf tätowiert und keine Haare mehr, was willst du noch?“

Lars: Meine Frau hat mir gedroht, sich auch eine Glatze zu rasieren, wenn ich mich noch mal im Gesicht tätowieren lasse. Das hatte sie schon mal ... und es steht ihr nicht. Also füge ich mich.

Was war die bislang mieseste Reaktion auf deine Tattoos?

Lars:
In Schweden wurde mir bei verschiedenen Gelegenheiten der Zutritt verweigert. Und irgendwo mitten in den USA wurde ich in einem Restaurant einfach nicht bedient. In Japan kann ich nicht in ein Fitness-Studio gehen, für die sind Tätowierte Mafia-Angehörige. Ich wurde schon bespuckt, man hat mich als „Schwuchtel“ beschimpft, und so weiter.

Was denkst du, warum lösen Tätowierungen bei manchen Menschen so negative Reaktionen aus?

Lars:
Weil du der Gesellschaft damit sagst, dass dich alle am Arsch lecken können. Weil wir Tätowierte zum Ausdruck bringen, dass uns nicht interessiert, was die Gesellschaft uns bieten kann. Weil wir ein besseres Leben für uns selbst nach unseren eigenen Bedingungen schaffen. Schau, ich bin nicht mal als Angehöriger der Arbeiterklasse aufgewachsen, meine Familie gehörte zu den „working poor“, zu den Menschen, die sich zwar abmühen, aber bei denen das Geld trotz aller Plackerei nicht zum Leben reicht. Working Class, das bedeutet für mich, sich aus eigener Kraft ein besseres Leben erarbeiten zu können, zu deinen eigenen Bedingungen. Ich war schon immer so drauf, dass ich gesagt habe „Fuck society, I wanna do my own thing!“ Ich kümmere mich um mich selbst, ich will ein besseres Leben haben, will glücklich sein – und nicht in die Falle tappen, die sonst Menschen meiner Herkunft blüht: birth – school – work – death. Das ist nicht mein Ding, ich will mein eigenes Leben leben, und ich hoffe, ich kann das meinen Kindern vermitteln. Ich hoffe, sie nehmen von mir zumindest an, dass sie das machen, was ihnen wichtig ist – und das, ohne jemand anderen dabei zu verletzen. Wobei ich in dem Fall, dass jemand meiner Familie oder meinen Freunden etwas antun will, für nichts garantieren kann. Wer sich in der Hinsicht mit mir anlegt, hinter dem bin ich her und werde nicht aufgeben, bis ich den Job erledigt habe! So bin ich aufgewachsen.

Hat dich deine Frau wegen oder trotz deiner Tattoos „genommen“?

Lars:
Vor mir war sie nie mit einem Mann zusammen, der Tattoos hatte, und sie selbst hat kein einziges. Sie weiß, dass die Tattoos einfach zu mir gehören, und ich bin froh darüber, dass ich viele Tattoos schon hatte, als wir uns kennen lernten. So weiß ich, dass die Frau, die ich liebe und mit der ich Kinder habe, mich um meiner selbst willen liebt.

Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es ihrerseits auch eine gewisse Stärke braucht, um mit seltsamen Blicken anderer Menschen umzugehen, oder? Bei Elternabenden oder ähnlichen Veranstaltungen fällst man ja schon irgendwie auf ...

Lars:
Ha, zu dem Thema kann dir Sebi sicher auch eine Menge erzählen, denn es ist einfach so: Sobald du ein Kind hast, ist das Leben vorbei, das du vorher kanntest.

Sebi: Klar, vorher hast du nur dein eigenes Leben und das deiner Frau oder Freundin im Blick. Seit ich Kinder habe, bin ich ruhiger geworden, und was immer ich tue, ich denke dabei an die Kids. Party bis spät am Abend am Samstag? Nicht mehr drin, am Sonntag muss ich früh raus, zum Fußballspiel – weil ich das will, und nicht, weil ich das muss.

Ist da auch Bedauern, dass das alte Leben vorbei ist?

Lars:
Überhaupt nicht. Aus allem, was ich bislang in meinem Leben getan habe, habe ich eine Lehre gezogen, mal eine gute, mal eine schlechte. In meinem Leben gibt es zwei Wendepunkte: der eine ist der Tod meines Bruders, der andere die Geburt meines Sohnes. Als der geboren wurde, zog mein ganzes bisheriges Leben an mir vorbei, wie ein Film. Ich habe eine Viertelstunde lang nur geheult, Wasserfälle von Tränen, ich erinnerte mich an all die Todesfälle in meinem Leben, die Freunde, die erschossen wurden, sich umgebracht haben, sonstwie ums Leben kamen. Mein Sohn hat mein Leben verändert, ich liebe es immer noch, Punk- und Oi!-Musik zu machen, aber ich mache letztlich alles für meine beiden Kinder.

Wie reagieren die auf deine Tattoos?

Lars:
Sie nehmen sie meist gar nicht wahr. Und wenn doch, sagt Wolfgang immer „Papa, das hier will ich auch mal!“, oder „Was bedeutet das?“

Sebi: Emil, der ist fünf, erklärt mir immer genau, was er mal für Tattoos haben will, wenn er alt genug ist: einen Dämon, einen Drachen – und einen Pokémon, hahaha. Meine Kids nehmen meine Tattoos eigentlich die meiste Zeit gar nicht wahr. Mit meinem Ältesten, der ist zehn, saß ich letzten Sommer allerdings mal im Eiscafé, und plötzlich sagte er, er wolle gehen. Ich fragte warum, er habe sein Eis doch noch gar nicht aufgegessen, und er sagte, die Leute würden uns alle so komisch anschauen. Ich habe mich in dem Moment echt geschämt, aber dann zu ihm gesagt, er solle sein Eis aufessen, wir bleiben. Ich sagte ihm, es sei mir egal, wie die Leute mich anschauen.

Solche Situationen sind hart, oder?

Lars:
Man muss solche Situationen „normalisieren“, so machen wir das. Im Falle von Wolfgang ist es einfach, er mag Tattoos, und als ich ihn mal von der Schule abholte und mich seine Freunde fragten, warum ich so viele Tattoos habe, sagte ich, dass ich Bilder möge. „Und warum hast du die dann auf deinem Körper?“, worauf ich antwortete, dass ich allen Menschen zeigen wolle, wie bunt die Welt sein kann.

Sebi: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass Kinder sehr vorurteilsfrei und positiv auf Tätowierungen reagieren. Das ändert sich leider oft, weil ihnen Eltern oder Großeltern irgendwelchen Mist erzählen. Sexismus, Rassismus, Homophobie – die existieren nur, weil irgendwer diesen Scheiß den Kindern oder Jugendlichen beibringt! Wir wohnen in einer Gegend, wo Menschen aus aller Welt leben, mit ihren Kindern, und unsere Kinder spielen mit denen – was für einen Grund sollte es geben, ihnen das zu verbieten? Weil es Albaner sind, oder Rumänen, Roma? Wir haben einen großen Garten, und manchmal komme ich von der Arbeit und da toben 15 Kinder herum.

Lars: Bei Wolfgang und seinen Freunden ist das genauso, und wir hatten auch schon „Tattoo-Partys“. Ich lege Punkrock auf, mache Tacos, und die Kids vergnügen sich mit so wasserlöslichen Abziehbild-Tätowierungen – das ist immer ein großer Spaß. So was normalisiert das Thema Tattoos für die Kids. Dazu kommt, dass wir in San Francisco leben, und das ist eine sehr offene, liberale Stadt, mit einer großen schwulen Community, vielen Afro-Amerikanern und Asiaten – als Weißer ist man da oft Angehöriger einer Minderheit. Ich will, dass meine Kinder multikulturell aufwachsen, dass die Hautfarbe nichts mit gut oder schlecht zu tun hat, dass es dumme Menschen überall gibt, dass das nichts mit Hautfarbe, Herkunft oder sexueller Präferenz zu tun hat.