Chaos-Tage 2000

Chaos-Theorie im Praxistest

Liegt es in der Macht der modernen Massenmedien, Krawalle herauszufordern oder diese zu bremsen? Die diesjährigen Chaos-Tage am ersten Augustwochenende, legen diesen Verdacht nahe. Zumindest so man bedenkt, dass die Expo da ein Wörtchen mitzureden hatte. Aus dem großen Schatten des Themas Mensch, Natur, Technik konnte sich das punkige Beisammensein nämlich kaum heraus bewegen.

Schon der erste Polizeibericht aus Hannover gab in der Nacht zum Samstag die Losung aus: "Das traditionelle Punktreffen am ersten Augustwochenende diesen Jahres findet nicht statt", sagte Polizeipräsident Hans-Dieter Klosa. Logisch endete dieser Satz mit einem Punkt. Aber doch endete er nicht: "Das Einsatzkonzept des niederschwelligen Einschreitens und der konsequenten Ausschöpfung der bestehenden Rechtsnormen greift", betonte er weiter. Wogegen einschreiten, wenn nichts stattfindet?

Weniger auserlesene Mitmenschen hätten zur Klärung dieser Frage, so sie sich ihnen denn überhaupt stellte, auf die Massenmedien vertrauen können. Aber auch in diesen fand sich nichts, was auch nur ansatzweise über die Chaos-Tage Auskunft erteilte. Nur der erlauchte Kreis derjenigen, die Presseinfos der Polizei erhielten oder sich per Internet mithilfe von www.chaos-tage.de informierte, der konnte ahnen: In Hannover brodelt es. Und stutzig wurde man Sonntags auf der Homepage von Heise (Herausgeber der Computerfachzeitschrift c´t): "Die Öffentlichkeitsarbeit der niedersächsischen Polizei berichtet über Fahrraddiebstähle im ganzen Land, Schlägereien, Nazi-Aufkleber an Göttinger Laternen, aber weder über die Chaostage in Hannover, noch den Nazi-Aufmarsch im niedersächsischen Hamburger Umland und die entsprechenden Gegenaktionen," teilte dort Ekkehard Jänicke einer staunenden Öffentlichkeit mit. Der Autor, der nach Auskunft seiner Redakteure ein in Hannover lebender Freelancer ist und gewöhnlich medizinische Themen behandelt, berichtete davon, Punks würden im Rahmen eines selten so massiv angetroffenen Polizeieinsatz laufend eingekesselt, unter Anfeindungen und Schubsen zum Bahnhof eskortiert, Übergriffe durch Polizeibeamten auf Anwohner, die dagegen protestierten, fänden statt. Ein Stadtteil Hannovers "sah noch im Morgengrauen aus wie ein militärisch soeben besetztes Gebiet. Selbst morgendliche Kirchgänger konnten nur durch Passieren von Kontrollpunkten herein oder heraus aus dem abgeriegelten Gebiet. (...) Polizei und BGS begleiten zum Teil lädierte Punks, humpelnd, mit Binden um Kopf oder Hände, auf die Bahnsteige zu abfahrenden Zügen." Und er resümiert: "Chaos-Tage, die offenbar auf den Internetseiten der Polizei Niedersachsen und in der Berichterstattung des lokalen Zeitungsmonopols nicht stattfinden." Das unterschied die regionalen Medien allerdings nicht von den überregionalen, mit Ausnahme von Heise-Online. Chaotische Zeitgenossen feierten Heise daraufhin als ihren ganz persönlichen Fels in der Brandung sowie liebgewonnenen Verfassungsschutz, ergo Demokratiewächter. Jänickes Artikel las sich ähnlich dem, was man in der Science Fiction einen Parallelweltenroman nennt.

Vergleichende Theorie

Zwecks Vertiefung der Chaos-Theorie einige Zahlenspiele, deren Deckungsgleichheit erstaunen mag. Nach den Chaos-Tagen 1994 meldet ap, dpa und ergo alle Kunden dieser Agenturen, "600 Jugendliche" seien vorläufig von der Polizei festgenommen; im Jahr 2000 meldet die Pressestelle der Polizeidirektion Hannover in ihrem vorläufigen Abschlussbericht am 7. August 537 Ingewahrsamnahmen von Punks.
Im Jahre 1994 waren 400 Polizeibeamte im Einsatz, 2000 waren es 500 (speziell bei den Chaos-Tagen) und laut Regionalpresse 2.500 (in Hannover gesamt) - zum Teil hat die erhöhte Personalstärke mit der Expo zu tun.

1994 räumte die Polizei das alternative Sprengelgelände indem sie ein reguläres Konzert stürmte und die Besucher verhaftete, 2000 räumte sie eine "illegale Disko" auf dem Sprengelgelände - zum Teil begründet sich diese Räumung mit Erfahrungen von ´95, wo eben vom Sprengel erste Straßenschlachten ausgingen.

1994 gab es 20 verletzte Polizisten, in 2000 zwei; die Regionalpresse spricht von zwei verletzten Punks, 1994 soll es derer 10 gegeben haben. Von weitaus mehr darf allerdings ausgegangen werden, wie bei jedem Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz.

Im Jahr 2000 schreibt man von Seiten der dpa die Polizeiberichte ab oder um und alle Medien stürzen sich darauf, verbreiten diese Sicht unter Vermischtes als Marginalie; 1994 nahm man derlei Meldungen zum Anlass, sowohl bei den Agenturen als auch später allerorten wild hinzu zu dichten. Kommentare trieben wilde Blüten eines Ausnahmezustandes. Fast nüchtern da die Fakten in der Bild: "In der Nacht randalierten noch rund 300 Personen rund ums Sprengelgelände. Sie schleuderten Bierflaschen gegen Hauswände und gegen Fenster, grölten und pöbelten, demolierten Autos. Die Bewohner der Schaufelder Straße gerieten in Panik, flüchteten in obere Stockwerke."
 
Kontrastprogramm

Aber gibt es offensichtliche Unterschiede zwischen den Chaos-Tagen 1994 und 2000, zumindest medial betrachtet? Ja! In diesem Jahr bewirtete Hannover die Weltausstellung Expo, und schlechte Presse hatte die schon genug. Sollten gerade dann, als Besucher aus dem In- und Ausland vermehrt Hannover und die Expo bereisten - wegen der Urlaubszeit und angelockt durch neue Werbemaßnahmen mit Verona Feldbusch und Sir Peter Ustinov -, dieselben durch eine mediale Schlechtwetterfront abgeschreckt werden? 1994 machten gerade die Boulevard-Medien, aber auch solche mit dem Hauch konservativer Geisteshaltung aus einem Treffen von Vertretern einer gesellschaftlichen Randgruppe eine Welle von Ausschreitungen. Die Neue Presse titelte "An Steinen und Containern klebte das Blut" und sprach von "Chaosnächten: 48 Stunden lang Alarmstufe 1." Polizei-"Abfangkommandos in vorderster Front" packten sich "rigoros die Anführer." Und das "oft im Kampf Mann gegen Mann, Schlagstock gegen Pflasterstein." Resümee: "Vor Haustüren und in Fluren tobte der Punkerterror," wussten Tom Junkersdorf und der auch heute noch als Polizeireporter bei der NP schreibende Klaus Gembolis zu berichten.
Schon Samstags kam keine Nachrichtensendung im Fernsehen ohne die Chaos-Tage aus. ntv moderierte sich gar bis in die Organisierte Kriminalität: "Aus dem ganzen Bundesgebiet waren Punker - oder besser Kriminelle - gekommen." In Spiegel-TV zeigefingerte Stefan Aust: "Dem Polizeisprecher sitzt noch immer die Angst im Nacken." RTL 2-News sagten drastisch warum: "Bewaffnet mit Messern, Schlagwerkzeugen, Ketten, Flaschen und Steinen" seien die Punks gewesen. In der Tagesschau durfte man vernehmen: Punks hätten "Teile der niedersächsischen Landeshauptstadt terrorisiert."

RTL ließ am Montag den Publizisten Jens Feddersen auf die Fernsehzuschauer los. Der Mann schaffte es in einer Mischung aus TV-Prediger und Kriegsberichterstatter zu glänzen. Alle Zuschauer mussten fast annehmen, Hannover sei total verwüstet. Feddersen, bekennender Extremist der Bild-Mitte, unterdessen verstorben, redete sich schon zu Beginn in Rage: "Der Bürger fasst sich an den Kopf. Er begreift die Welt nicht mehr." Zwar sollte der Bürger das wegen der Frontberichterstattung, aber: "Chaoten aller Schattierungen praktizieren 'Chaos-Tage', verwüsten Märkte und Geschäfte, verängstigten die friedlichen Wochenendspaziergänger, grölen Nazi-Parolen." Und nach der Feststellung der Personalien lasse man sie laufen "damit sie am kommenden Wochenende wieder zuschlagen können, und sei es in Buchenwald, wo die Polizei abgetaucht ist, als die Rechtsradikalen ernst machten." Das schwadronierte allen Ernstes ein Mann zu einer Zeit, als auf dem Gebiet der Ex-DDR schon Bunthaarige von rechten Schlagetots ermordet worden waren. Der Diplom-Psychologe Dr. Andreas Herter erklärte in RTL NordLive auf die Frage: "Kann man überhaupt noch unterscheiden zwischen rechter und linker Gewalt?" als ein Mann, der angeblich täglich mit Problemjugendlichen arbeitet: "Nein, das kann man absolut nicht mehr."

In der Bild Hannover war zu lesen: "Blutige Punker-Schlacht: In ihren Augen war nur Hass." Der Kölner Express titelte "Punkertreffen eine Orgie der Gewalt." Die Gastautoren Tom Junkersdorf und Klaus Gembolis (beide Neue Presse, Hannover, s.o.) wollten gesehen haben: "Im letzten Moment verhinderten 120 Polizisten, dass die Punker in einer Kirche eindrangen, wo gerade eine Messe stattfand." Auf Seite eins grölte die Bild bundesweit in übergroßen Lettern: "Die blutige Schlacht" und teilte weiter mit: "Sie verprügeln Polizisten, demolieren Autos, stürmen Kirchen." Die "Chaoten" wurden sogar zum Kultobjekt des TV-Boulevard, so dass man sie einlud zu honorigen Quatschbuden wie Hautnah (Pro 7), wo die reichlich journalistisch auf dem tiefsten Niveau anzusiedelnde Moderatorin Kerstin Graf dem Polizeibeamten, der vorher noch beschwichtigte, die Medien kochten das Thema ungewöhnlich hoch, ins Wort fallen durfte: "Können Sie die nicht alle einbuchten?"

1995, dem Jahr, in dem das passierte, was die Neue Presse 1994 noch etwas frei nach Schnauze rückblickend geschrieben hatten (eine wahrlich "gespenstische Szene nach der größten Straßenschlacht in Hannovers Nordstadt" gab es nämlich erst 1995!) begann eine intensive Berichterstattung über das drohende Krawallwochenende schon anderthalb Wochen vorher. Spätestens am Dienstag vor dem großen Knall waren die ersten Punks in Hannover eingetroffen und jeder halbwegs mündige Bürger wusste vom drohenden Ungemach. Der Magnet war aktiv, wirklich auch den letzten Krawallbruder und Schaulustigen magisch anzuziehen. Donnerstags knallte es erstmals so gewaltig, dass es bis Sonntag morgen fast ohne Unterbrechung so weiter gehen sollte. Vier Tage und Nächte am Stück Kreuzberger Mainacht - im August!

Legenden schaffen, Aktuelles meiden

Eine Legende, deren Hintergrund bis heute nie ganz geklärt wurde, machte ´94 die Runde: die Punks hätten dazu aufgerufen, Hannover in "Schutt und Asche" zu legen. Ungeprüft wurde dies von den Agenturen und eben fast allen Berichterstattern verbreitet, sogar die taz ließ (ähnlich wie im Jahr 2000) Agenturmeldungen kursieren, ehe sie dann zu Jürgen Voges, ihrem Mann aus Hannover, sowie dem Journalisten und Jugendforscher Klaus Farin griff, um die Szenerie etwas differenzierter darzustellen. Gerüchte besagen, Journalisten oder V-Männer der Polizei hätten ein Gespräch zwischen Punks mitbekommen, bei dem aus Spaß behauptet worden war, das gäbe eine Chaos-Gaudi, man könne Hannover ja mal eben in Schutt und Asche legen. Der Mythos war damit geboren und nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Ins vor Schatten wie gelähmte Sommerloch kam endlich Leben, eine Thema, welches im Jahre 2000 wohl auch die Chaos-Tage geworden wären. Aber es gab die Expo und einen Bombenanschlag in einer Düsseldorfer S-Bahnstation mit darauf folgender Medienhysterie, wie man denn dem urplötzlich als Terror bezeichnetem Rechtsradikalismus begegnen müsse. Punks konnte da kein Thema mehr sein, höchstens bei der CSU, die im Zuge ihres Radikalenwahns irgendwann die rechte Gefahr zu relativieren begann und Schnellgerichte auch gleich für Linksradikale einforderte. Komischerweise passierte das noch bei den gerade erst von der Polizei per Pressemeldung als abgeschlossen bewerteten Chaos-Tagen, die es doch zu Beginn gar nicht geben sollte.

Einige Chaos-Tag-Pilgerer gaben sich wegen all der Ungereimtheiten einer Verschwörungstheorie hin: "Es ist wirklich faszinierend, wie eng Expo, Medien und Polizei-Apparat zusammenarbeiten: Ziel ist es natürlich, die Expo-Stadt vor einem Image-Schaden zu bewahren, also wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Man darf gespannt sein, ob dieses Schweigekartell hält, oder ob sich doch einige Nestbeschmutzer finden, die nicht bereit sind, diese Lügen mitzutragen." Man vermutete, wie es in einem E-Mail-Rundbrief weiter hieß, diese Nachrichtensperre sei auch lanciert um den Zulauf anderer jugendlicher Randgruppen zu unterbinden. In allen Jahren zuvor schien die Berichterstattung eher Einladung denn Abschreckung für alle, die einmal chaotisch sein wollten. Ohne derlei Faustpfand waren die noch nicht des Stadtgebietes Verwiesenen nun auf sich alleine gestellt. Verschiedene Reisewillige erklärten später auf Nachfrage, sie hätten bis Samstag morgen gewartet, ob die Chaos-Tage per Meldung in die veröffentlichte Meinung geraten. Weil nicht, seien sie daheim geblieben.

Die Hannoversche Allgemeine Zeitung stellte Freitags noch fest: "Chaos-Tage gibt es nur noch im Internet." Wegen der hohen Bahnpreise fragte man: "Verhindert am Ende der Expo-Zuschlag die Chaos-Tage?" Böse Zungen würden hier von Doppeldeutigkeit sprechen. In einer Meldung an anderer Stelle sollten nämlich schon Donnerstag abend 150 Punks in der Stadt sein. Ebenso "mit einigen Hundertschaften und Wasserwerfern" die Polizei in Bereitschaft, wenn diese auch weiterhin betonte, sie ginge davon aus, es gäbe keine Ausschreitungen. Das war Donnerstags! Da erklärte der Polizeisprecher Jörg Müller noch laut HAZ: "Auswärtige Bunthaarige hätten längst verstanden, dass sich eine Reise nach Hannover für sie nicht mehr lohne." Aber doch kam es dann zu "Chaos-Stunden", wie die HAZ Montags titelte, und Polizeipräsident Hans-Dieter Klosa relativierte im Interview weiter: "Es waren nicht einmal Chaos-Stunden." Die Bilder in der HAZ und der NP glichen dabei denen von 1994. Und im Artikel selbst fliegen abermals "Flaschen, Steine und Brandsätze auf Polizeibeamte, Barrikaden wurden angezündet. Die Polizei setzte mehr als 500 Beamte, einen Hubschrauber und drei Wasserwerfer ein und verhinderte damit in letzter Minute noch größere Krawalle." Die "größtenteils aus den neuen Bundesländer zugereiste" Punks grölten dennoch "Hassparolen". Das liest sich im Kern der Sache kaum anders als die wenigen sachlichen Angaben zu 1994: "Am späten Abend begannen sie zu randalieren. Sie warfen Fensterscheiben ein, beschädigten Autos und drangen in Hausflure ein. Bei Redaktionsschluss waren die Punks auf dem Sprengelgelände eingekesselt und sollten von mehreren hundert Beamten festgenommen wurden." Nein, nicht aus diesem Jahr, sondern aus 1994 stammt dieses Zitat.

Überdies bestätigt die HAZ 2000 aber den Heise-Artikel: "Die Gegend rund um das Sprengelgelände wird Sperrgebiet, niemand kommt mehr raus oder rein." Im Interview mit Klosa teilt dieser mit: "Dieses Jahr hatten wir keine Erkenntnisse, dass ein größeres Punkertreffen stattfinden würde." Was zwar alle vorherigen Beschwichtigungen der Polizeisprecher unterstreicht, aber so nicht stimmen kann. Hält man 500 oder 2.500 Beamte vor Ort in voller Montur und mit Wasserwerfer in Bereitschaft, wenn man keine Erkenntnisse vorliegen hat, also auch keine Rechtfertigung einer solchen Einsatzstärke? Und wollte Klosa nichts gewusst haben von Flugblättern und Homepages, die von den Chaos-Tagen kündeten?

Markig tönte es zu den ausbleibenden Chaos-Tagen aus der NP: "500 Beamte stürmten unter einem Geschosshagel von Flaschen, Steinen und Molotow-Cocktails das verbarrikadierte Sprengelgelände." Weiß die HAZ um 250 Randalierer, bilanziert die NP 380 Störer und "zerstörte Scheiben, demolierte Autos." 1994 las man in den wenigen sachlichen Zeilen: "Zuvor hatten die alkoholisierten Jugendlichen Steine geschleudert, Polizisten und Journalisten angegriffen, Autos beschädigt. Sie schoben Container auf die Straße, steckten Möbel in Brand." Das könnte freilich auch die Unterzeile eines Bildes von 2000 sein, da schrieb man: "Punker zerren mehrere Paletten (eines Einkaufsmarktes) auf die Straße und zünden sie an. Die Scheiben einer Spielhalle werden eingeworfen. Auch Fensterglas (eines Restaurants) splittert. Junge Leute bewerfen Polizisten mit Steinen."

Die Frage, warum es 1994 soviel Wirbel und 2000 eben gar keinen gab, könnte sich bei der Deckungsgleichheit ein wenig aufdrängen. Der Kommentator und Berichterstatter 2000, Klaus Gembolis, jedenfalls resümiert: "Übergriffe in der Nacht zum Sonnabend schreckten Hunderte von Anwohner aus dem Schlaf, machten Angst vor neuer Gewalt." Waren denn nun Chaos-Tage oder nicht? Im Gespräch erklärte Gembolis bezüglich der mäßigen Berichterstattung, diese begründe sich darin, weil "einfach nichts los war." Man hätte auch darüber berichtet, wenn mehr los gewesen wäre. In diesem Jahr wären auch ganz "andere Strukturen" dagewesen. Die meisten Besucher seien aus den neuen Bundesländer gekommen. Im Gespräch mit ihnen sei ihm aufgefallen, das sei "nicht der gewalttätige Kern" gewesen, vielmehr Leute, die mal die "Kultstätten" besuchen wollten, "mal sehen wollten was los ist." Ähnliches war allerdings auch ´94 von den wohl eher ungeliebten Besuchern zu hören: nach 10 Jahren Pause einfach mal nach Hannover kutschen und feiern. Dass daraus damals etwas anderes geworden wäre, hätte nicht an ihnen gelegen. Eher an Journalisten wie z.B. Gembolis, dem man immer noch übel nimmt, wie er laut Aussagen eines Befragten ´94 maßlos zu übertreiben beliebte: "Interessant sei es doch, dass Gembolis ´94 in einem Kölner Boulevardblatt dreister gelogen hätte, als es schon in der NP passierte..." Da durchaus Praktiken bekannt sind, dass Redaktionen gerne "eingreifen" um die eigene Blattlinie oder den eigenen "Stil" zu betonen, soll dies an dieser Stelle zur Ehrenrettung des Journalisten angemerkt werden. Gerade in den Boulevardmedien - aber nicht nur da! - kommt es vor, dass Redakteure ihre Autoren vor Ort durch wildes hinzudichten bloßstellen.

Nun, mit etwas Lust auf journalistische Flatterhaftigkeit könnte man allerdings auch aus Gembolis Kommentar 2000 zitieren und dessen Eventualität der Doppeldeutigkeit erwähnen, gelten doch auch Punks bei manchem als uniformiert: "Zu viel Uniform in der weltoffenen Expo-Stadt wollte wohl niemand sehen. So kam das, was kommen musste. Punks zogen sich an der Ursprung der Chaos-Tage zurück: in die Nordstadt." Auf einer der "Chaos-Tage-Gedenk-Seite(n) im Internet" (HAZ) wurde das sinngemäß so ausgedrückt: Die Polizei in der Innenstadt sei sehr freundlich gewesen und alle anreisenden Bunthaarigen würden in die Nebenbezirke geschickt. Dort würde dann der Ton härter, teilweise käme es zu Festnahmen und ausgesprochenen Stadtverboten. Deren Missachtung konnte wiederum zur Festnahme führen. Auch wurde angenommen, die Präsenz der Medien und Expo-Besucher in der Innenstadt nötige der Polizei ihre Nettigkeit ab. Es solle ruhig und entspannt zugehen, wurde behauptet. Erst da, wo weder Besucher hinkommen noch Medienvertreter von der Polizei geduldet würden käme es dann zu Übergriffen und rabiaten Festnahmen.

Resümees

Kurz nach den Chaos-Tagen kursierten E-Mails und Briefe, die sich von der Macht der Medien entsetzt zeigten. Einmal war das zu lesen, was wirklich treffsicher formuliert sein könnte: "Das alte Spiel eben: Nur was in den Medien vorkommt, existiert. Aber was ich dieses Jahr medientechnisch erlebt habe war unglaublich. Die Perfektion des Leugnen der CT war schon erschreckend. Scheiß auf die Neo-Nazis. Auch auf deren Intelligenz. Die wirkliche Gefahr geht von genau diesen Dingen aus." Mit diesen Dingen war das Konglomerat aus Macht, Medien und Mythos gemeint. Diverse Szenevertreter, die sowohl 1994 als auch 2000 vor Ort waren, äußerten sich auf Nachfrage, 2000 wäre eigentlich heftiger als ´94 gewesen. Eine Frage blieb allerdings hierbei offen: haben Bild und andere Boulevardmedien sich es wirklich nehmen lassen, abermals kleinere Ausschreitung groß hochzukochen? Oder hatten sie einfach bessere "Monster" im Themenpool?

In George Orwells Buch 1984 sind zwei und zwei gleich fünf. Und das in einer Dreistigkeit, die dieses Vortäuschen falscher Tatsachen erschreckend wirken lässt. Heutzutage ist der Big Brother allerdings weitaus ziselierter am Werk, und es muss erschrecken mit Blick auf große Kriege, wie bei kleinen Ausschreitungen schon regulierend eingegriffen werden kann. 1994 schrieb man sich die Chaos-Tage so zurecht, wie man sie 1995 voller Entsetzen nicht wahrhaben wollte. Im Jahr 2000 zur Weltausstellung durfte dies auf keinen Fall passieren. Die Realität, auch ausserhalb des WorldWideWeb, wurde virtuell.

Auf dem ersten Blick mag das alles sehr gewagt erscheinen, aber mit der maßlos übertriebenen Berichterstattung zu den Chaos-Tagen ´94 schufen sich die Medien erst den richtigen Humus, der ihnen die 95er Ausschreitungen schenkte. Warum sollte dieselbe diensthabende Behörde nicht 2000 einmal ihre "Pflicht" tun und fünfe gerade sein lassen? Laut NP vom Freitag den 11. August, längst waren die Chaos-Tage von der Bildfläche verschwunden, zeigte sich da sogar die Polizeigewerkschaft stolz: "Die Expo sei ein Paradebeispiel dafür, wie Innere Sicherheit in Deutschland am besten gewährleistet werden könne - durch starke Polizeipräsenz. Dies erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Wolfgang Speck. Die starke Präsenz der Beamten auf dem Expo-Gelände und im Stadtgebiet habe bisher überaus präventiv gewirkt," betonte er. In selber Ausgabe gibt es einen Bericht darüber, ein Journalist des freien Radio Flora sei beim Sturm aufs Sprengel verhaftet worden, obwohl er seinen Presseausweis gezeigt habe - als Punk war er trotzdem zu erkennen. Beamte sollen sinngemäß gesagt haben: "Man weiß ja, wie bei Radio Flora über die Polizei berichtet wird."

Zurückzuführen sei dies, so zumindest in den wenigen Momenten, in denen die NP ein Herz für kritische Berichterstattung zu haben scheint, auf Reportagen des Flora-Teams über die Räumung eines Camps der Expo-Gegner zu Beginn der Weltausstellung. Auch darüber war kaum etwas in den Medien zu erfahren, auch hierüber wurde auf einer www.chaos-tage.de verbundenen Homepage und eben von Radio Flora ausführlich berichtet, eventuell sogar von dem verhafteten Radiojournalisten gleichzeitig.

Chaos-Tage, mag man nun vielleicht seufzen, welche Chaos-Tage? Klaus Farin schrieb 1994 nach den Ausschreitungen in der taz: "Eine Gesellschaft, die es schafft, die sechs Kinder und Jugendlichen, die sich hierzulande täglich umzubringen versuchen, locker zu übersehen, hat keinerlei moralisches Recht, sich über randalierende und plündernde Jugendliche zu empören." Und tut sie das sogar gar nicht mehr? Ist die Virtualität dann reell oder die Realität dann virtuell? Dann aber bitte Obacht: Hacker, die einfach zu ihrem Vergnügen Computernetze sprengen oder lähmen, soll es auch noch geben. Und das können dann verdammt echte Chaos-Tage werden! Die finden dann nicht nur im Internet statt, denn seit dem I love you!-Virus weiss man, wie es enden kann. Vielleicht waren aber auch die 95er Riots allzu heftig und die veröffentlichte Meinung war derart abgestumpft, dass es gar nicht mehr lauter knallen konnte. Michael Klarmann

Hintergründe zur Geschichte der Chaos-Tage

1982: Jürgen Voges, taz deckt die "Punkerkartei" der Polizei in Hannover auf. Da die Polizei "Punker" auflistet, sollen Punks aus Deutschland an die Leine kommen und sich registrieren lassen. Die Liste sei somit unbrauchbar, meint die Szene. Im Dezember ist es soweit. "Straßenschlacht am Steintor" titelt die Presse in Hannover, es war der Chaos-Tag.

1983: Am ersten Juni-Wochenende gibt es erstmals drei Chaos-Tage. Dem Aufruf zum Zusammenhalt von "Skins und Punx" folgen auch faschistische Skinheads. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen untereinander und mit der Polizei.

1984: Erstmals finden die Chaos-Tage am ersten August-Wochenende statt. Punks lagern zu Hunderten in der Innenstadt. Ein Konzert in der selbstverwalteten "Glocksee" wird mit großem Polizeiaufgebot und Wasserwerfereinsatz gestürmt. Im Gebäude selbst erweisen sich angereiste Punks ebenso als Helfer der Verwüstung, so dass eine Vollrenovierung fällig wird. Die "regulären" Chaos-Tage sind vorläufig am Ende, aber das Traditionswochenende war geboren.

1994: Zehn Jahre später erscheinen Aufrufe zu den Chaos-Tagen. Punks erscheinen ebenso reichlich. Zur Tradition werden langsam umfangreiche Festnahmen der Polizei von Punks - zur Gefahrenabwehr. In Zuge dessen stürmt die Polizei abermals ein reguläres Konzert und nimmt Veranstalter, Musiker und Publikum kurzfristig fest.

1995: Eine Woche früher als von der Polizei erwartet reisen Punks an. Donnerstags eskaliert die Situation in Straßenschlachten von einer Härte, die die Chaos-Tage in vielen Nachrichtensendungen noch vor Meldungen zum Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien rangieren lässt. In der Nordstadt - etwa Hannovers Kreuzberg - herrscht dank der Anwesenheit von etwa 2000 Punks und einer ungewohnt heftigen Unterstützung von Seiten diverser Jugendgangs, Hooligans, Autonomer, aber auch Normalbürger ein völliger Ausnahmezustand. In der Nacht von Freitag auf Samstag kommt es zur Plünderung und Verwüstung eines Penny-Marktes. Der Begriff Chaos-Tage wird in Politik, Wirtschaft und Medien zum Allgemeingut. So etwas besonders chaotisch verläuft redet man zukünftig von Chaos-Tagen. Hannovers Polizeipräsident nimmt bald darauf seine Dienstmütze.

1996: Per Verbotsverfügung der Polizei Niedersachen werden die Chaos-Tage untersagt. In Hannover bleibt es friedlich. 6.000 Polizeibeamte verfügen etwa 1.500 Platzverweise an anreisende Bunthaarige. In Bremen, wohin ausgewichen wird bei Platzverweis, kommt es Freitags zu Krawallen.

1997: Punks teilen mit, bis 2000 gäbe es keine Chaos-Tage mehr. Hannovers Polizeipräsident wird später mitteilen, das Einsatzkonzept der Abschreckung durch 1.500 Polizisten sei abermals aufgegangen. Allerdings reisten auch gar keine Punks an.

1998: Die "Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands" reformiert sich wieder, diesmal auch als legaler Arm der Chaos-Tage, die abermals ausbleiben. 1999 tritt die Partei um Kanzlerkandidat Karl Nagel sogar zur Bundestagswahl an. Sie vertritt Slogans wie: "Arbeit ist scheisse!" Oder: "Saufen, saufen, saufen!" Erklärtes Ziel der Partei ist die Balkanisierung Deutschlands, man fordert die totale Rückverdummung der Massen und ernennt Barbara Eligmann zum Ehrenmitglied. Diese verbittet sich dies unter Androhung einer horrenden Geldsumme und gerichtlicher Schritte. (Literatur: "Die Partei hat immer Recht!", Verlag Thomas Tilsner)

2000: Seit Frühjahr kursieren Flugblätter und Internet-Aufrufe zu den diesjährigen Chaos-Tagen. Vier Wochen über sollen sie der Expo und Hannover "Schutt und Asche" bescheren. "Eine Müllhalde voll leerer Bierdosen und gefüllter Präservative" ist euphorisch neben einer "offenen Feldschlacht" mit der Polizei erklärtes Ziel. Vertreter der Szene gründen einen eigenen Nachrichtendienst im Internet und laden die Polizei zur redaktionellen Mitarbeit ein. Diese will davon nichts wissen.