Ecuador, Peru, Bolivien - Tina auf Weltreise II

Nun ist es doch schon soweit, die erste Etappe unserer Weltreise liegt hinter uns, morgen müssen wir Lateinamerika verlassen. Die Zeitwahrnehmung ist eben gnadenlos subjektiv: Als wir im November ins Flugzeug stiegen, erschien es mir, als hätten wir alle Zeit der Welt, jetzt sitze ich hier und frage mich, wo die Monate geblieben sind. Ist wirklich schon die Hälfte vorüber? Wehmut beiseite, es liegen ja glücklicherweise noch einige Monate Asien vor uns, das erleichtert den Abschied ungemein.

Das erste Land, welches wir in Südamerika bereist haben, war Ecuador. Das kleine Land am Äquator hat momentan mit einer seiner schwersten wirtschaftlichen Krisen zu kämpfen, die Inflationsrate ist in den vergangenen Monaten stetig gestiegen, so dass die neue Regierung unter Präsident Noboa beschlossen hat, die Währung an den amerikanischen Dollar anzugleichen. Diese "dolarización" war in der Zeit unseres Aufenthaltes in aller Munde, insbesondere die armen Bevölkerungsschichten befürchten durch die Angleichung des ecuadorianischen Sucre an den Dollar das Schlimmste. Bewundernswert, dass dennoch Lebensmut und -freude allgegenwärtig spürbar sind, jeder versucht, irgendwie zu überleben und das Beste aus seiner Situation zu machen.

So werden denn auch die Feste gefeiert, wie sie fallen. Gleich zu Beginn unserer Zeit in Ecuador stand eines der meist erwarteten Ereignisse in vielen Ländern Mittel- und Südamerikas vor der Tür: Karneval. Eine Woche lang ist alles erlaubt und vom Kleinkind bis zum Greis befindet sich alles in freudiger Erwartung. Vergnügen bereitet den Einheimischen vor allem die Tradition des "mojar con agua", was meint, dass vor allem junge Mädchen eine Woche lang keinen trockenen Faden am Leib haben, da sie permanent Zielscheibe von Wasserattacken werden. Wasserbomben, Pumpguns und jegliche Art selbst gebastelter Utensilien sind Tag und Nacht im Einsatz und bescheren dir keine ruhige Minute. Wir verbrachten diese heisse Zeit in einem kleinen Dorf namens Puerto Quito gemeinsam mit einigen anderen Travellern aus Kanada und Holland.

Unsere Gruppe war DIE Attraktion in dem kleinen Dörfchen, da wir die einzigen ausländischen Besucher waren. Am Ufer des nahegelegenen Flusses waren grosse Tanzflächen und Fressbuden en masse aufgebaut und einige Tage lang herrschte Ausnahmezustand in dem sonst sicher sehr beschaulichen Ort. Nach einer halben Stunde auf dem Festgelände waren wir bereits nicht mehr wiederzuerkennen. Nicht nur, dass uns die nassen Klamotten am Leibe klebten, auch Farbbeutel, Rasiercreme und Federn sind beliebte Einsatzmittel. Der Fluss wurde dann auch gerne genutzt, um die Farbklumpen vom Körper abzuspülen, oft standen die Leute in grossen Trauben im Wasser und feierten dort begeistert weiter. Musikmässig gab es Salsarhythmen und schlechten Pop, wir waren permanent im Einsatz, da jeder Dorfbewohner auch mal mit uns tanzen wollte und uns keine Verschnaufpause gegönnt wurde, zwischendurch wurden wir vom DJ durch das Mikrophon gegrüsst und mussten selber "live über den Äther" Statements abgeben, die mit Jubel bedacht wurden. Bei der Wahl der "Königin des Karnevals" wurden wir als Ehrenmitglieder in die Jury berufen. Ein extrem stranges Erlebnis, mit vollstem Einsatz und unglaublichem Spass wird dort gefeiert, bis nichts mehr geht.

Mit derselben Gruppe verbrachten wir anschliessend noch einige Tage im Dschungel. Wir hatten keinen Führer dabei und machten und auf eigene Faust auf den Weg, vor allem auf der Suche nach der Hütte eines Schamanen, der dort im Dschungel leben sollte. Mit kleinen Holzbooten fuhren wir einige Kilometer den Fluss hinunter und fanden nach einigem Suchen auch tatsächlich den ominösen Ort. Ausser einem kleinen Indio-Jungen und vielen Hühnern war jedoch alles wie ausgestorben. Nachdem wir einen Schlafplatz ausgemacht hatten, versuchten wir, Informationen über den sagenumwobenen Schamanentrunk namens "Ayavasca" einzuholen, von dem wir wilde Dinge gehört hatten.

Der Trank wird aus Blättern und Wurzeln hergestellt und bei Schamanenritualen eingesetzt. Der Junge, der sich als Lehrling des Schamanen entpuppte, schleppte auch tatsächlich einen riesigen Topf zur Feuerstelle und fing an , übelriechendes Gestrüpp auszukochen. Nach einer Stunde bekamen wir jeder ein Gläschen mit einer grünen Brühe zu trinken, wir mussten uns in einer offenen Hütte in Hängematten legen und den Sonnenuntergang erwarten. Zunächst waren von uns noch lästernde Kommentare zu vernehmen und wir malten uns aus, dass es viel netter sein würde, wenn wir in der Sonne herumlaufen könnten Nach etwa 20 Minuten breitete sich jedoch Stille aus, die Wirkung setzte ein. Und zwar unvermittelt und extrem heftig. Innerhalb kürzester Zeit lagen wir alle auf dem Holzboden und waren nicht mehr in der Lage, auch nur ein vernünftiges Wort herauszubringen. Wir hatten vorher schon einige Gerüchte über dieses Getränk gehört, vor allem, dass zu den körperlichen Begleiterscheinungen Übelkeit und Erbrechen zählt. Zu allererst jedoch fiel ich spontan in Ohnmacht. Sebastian versuchte, mich wachzurütteln, währenddessen begannen die ersten, sich zu übergeben. Als ich wieder ansprechbar war, taten wir es ihnen direkt nach... Gruppenzwang, haha. In den folgenden Stunden hatten wir alle extrem halluzinogene Erlebnisse. Die Wirkung dieses Tranks ist schwer zu beschreiben, aber ich kann mir nun gut vorstellen, woher der Schamane seine Visionen nimmt. Die Rezeptur solcher bewusstseinserweiternden Mischungen wird ursprünglich nur an den ältesten Sohn des Schamanen weitergegeben, speziell "Ayavasca" ist aber in "Dschungelkreisen" recht bekannt. Am nächsten Tag haben wir alle sehr gelacht, der Abend mit seinen Erlebnissen war so irreal und gleichzeitig solch ein einschneidendes Erlebnis. Aber wir waren uns einig, dass es auch ein einmaliges Erlebnis bleiben wird, der Rausch ist zu heftig.

Naturdrogen, Aberglaube und Traditionen spielen immer noch eine elementare Rolle im Leben vieler Menschen in Südamerika. Die meist verbreitete Religion ist der katholische Glaube, Naturreligionen und der Glaube an Naturgötter und - kräfte prägen aber vor allem das ländliche Leben sehr stark. Häufig sind diese Traditionen auf die Zeit der Inkas oder noch früher zurückzuführen. In Bolivien glauben die Menschen fest daran, dass die Sonne und die Erde (der "Mutterboden") menschliches Leben erst ermöglicht haben oder dass Mondzyklen die Fruchtbarkeit beeinflussen. Die wichtigste Figur hierbei ist "Pachamama" (Mutter Erde), der Ursprung allen Lebens. Konkret setzt sich der Glaube um, indem der Erdenmutter reichhaltige Opfergaben beigebracht werden, insbesondere mag sie offensichtlich Koka-Blätter, Zigarren sowie Alkohol und Räucherwerk. Soll die Reise gut verlaufen, braucht man ein Lamaembryo, Ernteerfolg wird mit Kokablattgaben eingefordert. Häufig sind diese Rituale die einzige Möglichkeit der erbärmlich armen Menschen, ein wenig Hoffnung zu erhalten und das Gefühl zu haben, auf das Schicksal Einfluss nehmen zu können. Je mehr die Erde verletzt wird (beispielsweise beim Graben einer Mine), desto grösser die Opfergabe, die von Pachamama erwartet wird.

In Potosí, einem viertausend Meter hoch gelegenen bolivianischen Ort, der vor einigen hundert Jahren aufgrund seiner Lage am Silberberg "Cerro Rico" blühend und reich war, arbeiten Minenarbeiter im mittlerweile erschöpften Bergwerk unter schlimmstmöglichen Bedingungen. Die ehemalige Kooperative ist mittlerweile in den Händen der Arbeiter, die nun selbstverantwortlich ihre Arbeit erledigen müssen, ihre Werkzeuge besorgen und je nach Schürferfolg etwas zu essen haben oder auch nicht. Für acht Tonnen Ertrag (meist billige Metallmischungen) erhalten die Arbeiter seit dem Zusammenbruch der Weltmarktpreise vielleicht fünfzig Dollar, ein "Gehalt" gibt es natürlich nicht, Geld für Esswaren ebensowenig, und der Höllenjob wird nur mit dem Kauen von Kokablättern durchgestanden. Nach spätestens zehn Jahren ist die Gesundheit irreparabel geschädigt wegen der giftigen Dämpfe, und die Temperaturen in den Minen variieren zwischen frostig und extrem heiss. Wir haben die Minen besuchen und mit einigen Arbeitern sprechen können: es erzählen 20-jährige Männer, dass sie bereits seit ihrem zwölften Lebensjahr tagein tagaus in den dunklen Schächten graben, oft tagelang nichts zum Essen haben und nicht wissen, wie sie ihre vielköpfigen Familien ernähren sollen. Die Arbeiter leben im Prinzip nur von Geschenken der Minenbesucher (am beliebtesten sind Dynamit und Kokablätter) und von der Hoffnung auf den "tio", den Onkel der Mine, der tief unten in den Schächten haust. Der Onkel ist eine Teufelsfigur aus Lehm, dem die Arbeiter ebenfalls Opfergaben darbringen und aus ihrem spärlichen Kokablättervorrat noch die Hälfte dem Onkel in seinen gefrässigen Schlund schieben, damit er Glück und Schürferfolge bringt.

Die Kokatradition prägt das Leben der Bolivianer sehr stark. Mama Coca ist die Tochter von Pachamama, und Kokablätter werden auf vielfältige Weise eingesetzt, beispielsweise als Opfergabe, um Unheil abzuwenden oder eben Schürferfolge zu erzielen. Nahezu jeder alte Mensch läuft mit gewölbter Wange durch die Gegend und kaut die grünen Blätter, um genügend Energie für die harte Feldarbeit zu sammeln. Kokain selbst ist genau wie Cannabis hochgradig illegal in Bolivien. Viele Campesinos kultivieren jedoch die Kokapflanze, weil dies für sie die einzige Möglichkeit ist, ein wenig Geldzu verdienen. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahrzehnten deswegen zu heftigen Konflikten, insbesondere wenn die USA versuchten, ihren Einfluss geltend zu machen und den Anbau der Pflanze zu unterbinden. Paradox insbesondere, wenn man sich überlegt, wer die Hauptabnehmer der Droge sind... Die armen Bauern müssen immer wieder um ihren Lebensunterhalt bangen, wenn wieder eine Offensive gestartet wird.

Zur Zeit unseres Aufenthalts befand sich das Land im von der Regierung verhängten Ausnahmezustand, da die Campesinos zum Streik aufgerufen hatten, unter anderem wegen der umstrittenen Kokaplantagen, aber auch wegen Erhöhung der Wasser- und Benzinpreise. Wir mussten von der peruanisch-bolivianischen Grenze mitsamt Gepäck zehn Kilometer in den nächsten Ort laufen, da alle Strassen blockiert waren und nichts mehr ging. In den folgenden Wochen gab es überall im Land massive Proteste, Blockaden und Unruhen, bei denen auch einige Menschen getötet wurden. Es gab häufig keine Fortbewegungsmittel und es konnte durchaus sein, dass man in eine Tränengaswolke geriet. Das Militär war omnipräsent und griff hart durch. Die Situation hat sich mittlerweile ein wenig entschärft, es laufen Gespräche zwischen aufständischen Gruppen und der Regierung, der Konflikt schwelt aber immer noch und kann jederzeit wieder ausbrechen, da eine befriedigende Lösung für beide Seiten in weiter Ferne scheint. Insbesondere die Campesinos müssen nicht damit rechnen, dass ihrer Position Verständnis entgegengebracht wird. Es ist erstaunlich, mit welchem Zusammenhalt dieser Streik vonstatten geht, denn der überwiegende Teil der Bevölkerung solidarisiert sich zumindest mit den Aufständischen, wenn er sich nicht selbst aktiv beteiligt. Beeindruckend!

Hier möchte ich den zweiten Teil meines Berichts beenden und hoffe, ein wenig vom Lebensgefühl in Südamerika vermittelt zu haben, diese Menschen haben wirklich Respekt verdient.

Tina Willenborg