Japan - Ein Reisebericht

Recht kurzfristig ergab sich für mich die Möglichkeit nach Japan zu fahren. Da ich schon lange nach Japan wollte, habe ich sofort zugegriffen und bin am 11. Mai aus Berlin los und via Paris nach Osaka geflogen. Mit circa vierzehn Stunden Flugzeit und einigen Stunden Warterei auf den Flughäfen war ich nach knapp 20 Stunden im Land der aufgehenden Sonne angekommen.

Der Kansai-Airport liegt auf einer 5 Quadratkilometer grossen, künstlichen Insel im Meer vor Osaka und ist 1994 nach Plänen des italienischen Stararchitekten Renzo Piano fertiggestellt worden. Der Bau ist während der "Bubble Economy" Ende der Achtziger Jahre begonnen worden, als die Grundstücks- und Aktienpreise in Japan sehr hoch waren und Geld kaum eine Rolle spielte, entsprechend beeindruckend und futuristisch ist der Flughafen.

Gleich am Flughafen habe ich mein Gepäck aufgegeben, damit es ins "Ryokan" (Gästehaus) geschickt wird - das geht überall in Japan und ist recht günstig - und bin mit dem Zug in die Innenstadt von Osaka gefahren. Dort bin ich gegen zehn Uhr morgens angekommen und war ziemlich überwältigt: hektische Betriebsamkeit, sehr warm und feucht und überhaupt völlig anders. Die Zeitumstellung war deshalb auch kein Problem.

Nach ein paar Stunden Herumlaufen bin ich dann ins Ryokan nach Kyoto gefahren, um mich doch hinzulegen. Kyoto ist Osakas Nachbarstadt, liegt aber in dem selben Ballungsraum, der Kansai-Region, in der circa 10 Millionen Menschen leben. Die Zugfahrt dorthin dauert auch nur eine halbe Stunde.

Kyoto wird oft das "spirituelle Herz" Japans genannt: es war mehr als 1.000 Jahre lang die Hauptstadt. Es gibt circa 1.600 Tempel, etwa 270 Shinto-Schreine, zahlreiche Gärten und Parks, und die Stadt steht auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes. Fast alle Japaner besuchen deshalb irgendwann Kyoto und wegen des zu dieser Jahreszeit beständigen Wetters war gerade Klassenfahrt-Saison.

Läbelmässig hat Kyoto MCR Japan und All Systems Fail (ehemals Profane Existence Far East) zu bieten, doch hatten mir beide auf meine Briefe und Faxe leider nicht geantwortet. MCR ist das japanische Plattenlabel, das sich am intensivsten um Vertrieb seiner Platten im Ausland kümmert, und ich hätte Yumikes (auch Sänger von FUCK GEEZ) gerne kennengelernt. Es gibt auch einen Laden in Kyoto, in dem regelmässig Shows stattfinden: das "Metro".

Kobe und Nara gehören ebenfalls noch zum Kansai-Ballungsraum. Kobe ist ja bei uns auch durch das Erdbeben von 1994 bekanntgeworden und wurde damals schwer beschädigt. Die Stadt ist aber komplett wieder aufgebaut worden und meiner Meinung nach Japans futuristischste Stadt. Der Bahnhof sieht aus wie die Kulisse aus "Blade Runner". Nara spielte in der japanischen Geschichte eine ähnliche Rolle wie Kyoto, hier waren wieder Busladungen voller Schulkinder unterwegs.

Sonntags bin ich nochmal nach Osaka gefahren. Dort bin ich am Bahnhof Umeda ausgestiegen, einem gigantischen Bahnhof. Das Leben in Japan spielt sich in der Nähe der Bahnhöfe ab, je zentraler ein Bahnhof ist und je näher ein Gebäude an einem Bahnhof liegt, desto teurer werden die Mieten. Die grossen Kaufhäuser liegen meist an den grossen Umsteige-Bahnhöfen, viele Kaufhausketten betreiben sogar eigene Bahnlinien und der Sonntag ist der Familieneinkaufstag. Unglaubliche Menschenmassen schoben sich durch die Gegend und ich hatte ja noch keine richtige Ahnung, was mich in Tokyo erwartete.

Mein Ziel war irgendwann im Laufe des Tages Nat Records zu finden, einen Plattenladen, den mir José, der Bassist von CORRUPTED, empfohlen hatte. Da ich keine Adresse hatte, musste ich erstmal das Plattenladen-Viertel finden. Leider sprechen wirklich sehr wenige Japaner Englisch, so dass ich mich beim Suchen an andere Ausländer halten musste. Ein Schmuckverkäufer hat mich Richtung Nanba und Shinsaibashi geschickt, zwei "nette Bezirke". In den zahlreichen Plattenläden dort musste ich mich dann leider davon überzeugen, dass neue Platten in Japan tatsächlich sehr teuer sind: eine 7" kostet 10 bis 15 DM, CD und LP bis zu 50 DM. Dafür sind Second-Hand-Platten relativ günstig und Japan-Punk/Hardcore-Sammler können alles zu annehmbaren Preisen kaufen.

Die Suche nach konkreten Läden wird dadurch erschwert, dass diese nicht unbedingt in den Erdgeschossen zu finden sind. Die Mieten sind abhängig vom Stockwerk - je niedriger, desto teurer - , so dass viele Läden und sogar Cafés, Restaurants oder Diskotheken in den höheren Stockwerken zu finden sind.

Nach weiterer Fragerei in den Plattenläden habe ich Nat Records gefunden: im achten Stock eines Hauses, in dem es nur Platten- und Klamottenläden gibt. Die Filiale in Osaka hat zwei verschiedene Geschäfte: eine für den Garagenpunk-Fan und eine für die Crusties. Die Auswahl ist fantastisch, die Preise sind aber leider sehr hoch.

In Osaka gibt es zumindest einen Laden, in dem regelmässig Punk- und Hardcore-Konzerte stattfinden, das "Fandango". Leider habe ich die Auftritte von CORRUPTED und DYSTOPIA verpasst: am Tag, als ich aus der Kansai-Region losgefahren bin, haben sie dort gespielt. Ich bin mit dem Schnellzug "Shinkansen" nach Hakone gefahren, der Region am Fuji. Der Besuch dort gehört zum Pflichtprogramm jeder Japan-Fahrt, und der Fuji war schon beeindruckend. Punkrock-mässig gibt Hakone nichts her, aber man hat in diesem hektischen Land dort seine Ruhe.

Nach zwei Tagen dort bin ich nach Tokyo weitergefahren, mit 33 Millionen Einwohnern die derzeit grösste Stadt der Welt. Die Zugfahrt ist ein Ereignis für sich: man fährt durch ein endloses Häusermeer, und es steigen immer mehr Leute in den Zug ein. In Shinjuku bin ich ausgestiegen: von der Fläche her einer der grössten Bahnhöfe der Welt, von der Fahrgastzahl mit 2 Millionen pro Tag der grösste. Zum Vergleich: Das gesamte Berliner Nahverkehrsnetz hat pro Tag eine Million Fahrgäste. Der Bahnhof ist eine ganze unterirdische Stadt, aus der man schwer wieder herauskommt - ein Vorgeschmack auf das Labyrinth Tokyo, in dem es noch dazu kaum Strassennamen gibt. Um eine bestimmte Adresse zu finden, braucht man eine Wegbeschreibung oder eine Skizze!

Westlich vom Bahnhof liegt das Wolkenkratzerviertel mit dem circa 240 Meter hohen Rathaus (ein Kenzo-Tange-Bau), wo man in den vierzigsten Stock hochfahren und Tokyo bestaunen kann. Die Stadt nimmt nach allen Seiten kein Ende. Östlich vom Bahnhof befindet sich eines der grossen Vergnügungszentren des Landes, in dem so viele Menschen unterwegs waren, dass ich am ersten Abend erstmal völlig plan- und ziellos mit der Menge mitgelaufen bin. Die ersten Tag in Tokyo waren sehr anstrengend, weil die Stadt alle Sinne bis zum Maximum ausreizt.

Glücklicherweise ist das Umherfahren denkbar einfach: Tokyo hat das grösste U-Bahn-System der Welt und man kommt ohne grosse Fusswege an jeden Punkt der Stadt. Es gibt zehn verschiedene Linienbetreiber, deren Tickets untereinander nicht kompatibel sind: Umsteigen von einem Betreiber zu einem anderen kostet immer wieder aufs neue. Das Fahren ist also ziemlich teuer: pro Tag habe ich etwa 20 DM fürs Bahnfahren ausgegeben, und auch mit einer Monatskarte wird das Benutzen der U-Bahn nicht wesentlich günstiger. 500 DM pro Monat für die U-Bahn zu bezahlen ist normal.

Weil die Entfernungen in Tokyo riesig sind, sind auch die Pendelzeiten enorm. Eine Stunde Fahrt zur Arbeit gilt unter Japaner als ausgesprochen gut. Sitzplätze sind während der Rush-Hour besonders begehrt und sehr selten, weil man dann schlafen kann. Wer nicht schläft, liest: jede Minute wird effektiv genutzt. Viele Leute sind so gut trainiert, dass sie sogar im Stehen einschlafen, während der Rush-Hour kann man in dem Gedränge sowieso nicht umfallen.

Das "Kimi Ryokan", meine Tokyoter Unterkunft, ist in der Nähe des Bahnhofs Ikebukuro, der auf der Yamanote-Line drei Stationen von Shinjuku entfernt ist. Die Yamanote-Line ist Tokyos zentrale Verkehrsader, alles, was innerhalb dieser Ringlinie liegt, gehört zum Zentrum. Wer als Tourist nach Tokyo fährt, sollte unbedingt in der Nähe dieser Bahnstrecke wohnen, da man wegen der vielen Fahrerei sonst noch weniger Zeit hat.

Der Bahnhof Ikebukuro ist nach Shinjuku der zweitgrösste Bahnhof und die beiden Stadtteile sind sich recht ähnlich. Direkt am Bahnhof Ikebukuro befinden sich zwei gigantische Kaufhäuser. Es gibt nur noch ein grösseres Kaufhaus in der Welt, natürlich auch in Tokyo: im Stadtteil Chiba. Dort war ich aber nicht, das 17-stöckige Tobu-Kaufhaus hat mir gereicht.

Das Ryokan ist, wie im Reiseführer versprochen, fünf Minuten vom Bahnhofsausgang entfernt, man muss zu diesem Ausgang aber etwa fünfzehn Minuten unterirdisch laufen. Es liegt mitten in einem der vielen Rotlichtviertel, Ausländer werden aber fast nie angesprochen. In den Telefonzellen hingen haufenweise kleine Zettelchen mit leichtbekleideten Frauen und Handy-Nummern: wegen des enormen Konsumdrucks prostituieren sich viele junge Mädchen.

Mein Ryokan-Zimmer war etwa drei Tatami-Matten gross, das sind knapp 5 Quadratmeter. Dafür habe ich den Schnäppchenpreis von 3500 Yen (circa 55 DM) pro Nacht bezahlt und war mitten in Tokyo.

Am nächsten Tag bin ich zum ersten Konzert gefahren, wo ich auch Otto Itkonen, den Schlagzeuger von SELFISH, und seine Frau Lenka treffen wollte. SELFISH hatten zwei Wochen vorher ihre zweite Japan-Tour mit einem Allnighter im Antiknock beendet und die beiden, grosse Japan-Fans, waren noch geblieben.

Da Tokyo früh schlafen geht, fangen die Konzerte schon immer um 18.30-19.30 an. Die letzten Züge fahren um kurz nach 12, viele Leute brauchen aber mehr als eine Stunde aus der Innenstadt in ihren Aussenbezirk und müssen dementsprechend früh losfahren. Natürlich kann man die Nächte auch durchsumpfen, das geht aber sehr ins Geld. Alternativ kann man im "Kapselhotel" übernachten, wo man für einen 2x1 Quadratmeter grossen Käfig auch 50 DM pro Nacht hinlegt.

Raum ist in Japan extrem knapp und irrsinnig teuer, in Tokyo natürlich besonders. Es gibt keine besetzten Häuser und keine leerstehenden Wohnungen und die Konzertläden müssen alle Geld verdienen. Die hohen Mieten, die sie zahlen müssen, schlagen sich in den Eintrittspreisen nieder: im "Antiknock", einem "billigen" Laden, zahlt man schon etwa 2000-2500 Yen Eintritt (etwa 30 DM). Dazu müssen die Bands Vorverkaufstickets für 20.000 Yen (etwa 300 DM) kaufen und diese selbst verkaufen! Keine Band kann sich einen eigenen Übungsraum leisten, diese müssen gemietet werden und kosten üblicherweise 2.000 Yen (etwa 30 DM) pro Stunde. Dafür ist man aber gleich an ein Studio angeschlossen.

Aus Kostengründen treten bei Konzerten 5-6 Bands pro Abend auf. Das Programm ist recht genau festgelegt, die Bands spielen jeweils etwa 30 Minuten und geben fast nie Zugaben. Der Sound ist immer gut, leider aber auch sehr laut. Das Antiknock ist ein kleiner Laden, in den circa 200 Leute reinpassen, im einem Keller in der Nähe des Bahnhofs Shinjuku. Ich habe eine gute halbe Stunde gebraucht, bis ich den Laden im Strassengewirr von Shinjuku gefunden hatte. Dafür war es sehr leicht, Otto und Lenka zu finden, sie waren die einzigen anderen Ausländer. Bei allen weiteren Konzerten war ich sogar immer der einzige Nicht-Japaner. Dass Japaner schüchtern sind, kann ich nicht bestätigen: ich bin jeden Tag mehrmals angesprochen worden, und es ist für Ausländer leicht Leute kennenzulernen.

Praktischerweise gibt es direkt gegenüber vom Antiknock einen durchgehend geöffneten Convenience Store, wo sich die Punks mit "günstigem" Bier eindecken: eine Halbliter-Büchse kostet 300 Yen, circa 4,30 DM. Das ist aber nur halb soviel wie im Antiknock selbst. Getränkeautomaten gibt es an jeder Strassenecke, die verkaufen nach 11 Uhr abends aber keinen Alkohol mehr.

EVANCE spielten an diesem Abend (Samstag, der 22. Mai) als erste Band: druckvoller und schneller Japcore. Die Band hat inzwischen schon drei 7"es veröffentlicht, eine davon ("Fucker! Fucker! Fucker! Fucker!") habe ich mir nach ihrem Auftritt zugelegt: ist gut, hält aber nicht ganz, was das Konzert versprochen hatte. Als nächstes waren MAD 3 dran, die mit ihrem Surf/Garagenpunk nicht so richtig in den Abend passten. Die Band ist bei uns schon recht bekannt, weil sie einige LPs in den USA veröffentlicht haben, und ich hätte gerne einige Worte fürs Ox mit ihnen gewechselt, leider konnten die Jungs aber kein Englisch. Dann waren die Japcoreler S.D.S. dran, die ich schon in Berlin gesehen hatte, wo sie anderthalb Stunden spielen mussten, weil sie nicht mehr von der Bühne heruntergelassen wurden. In Tokyo fand ich sie nicht ganz so gut. Als letzte Band spielten SCREAMING HOG, die sehr druckvoll, aber recht langsam waren.

Zufällig hatte ich im Ryokan Wes Smith und die Jungs von EVEN kennengelernt: sie luden gerade Instrumente in einen Van und ich habe sie gefragt, ob sie auftreten. Wes ist ursprünglich aus Kanada, lebt seit neun Jahren dort und betreibt dort eine Promotionagentur. Nach kurzer Fachsimpelei luden sie mich zum Allnighter ins Shinjuku Loft ein, einem Konzertort, wo eher Melodic Punk-Bands auftreten. Das Konzert fand am selben Abend statt, ich wollte also vom Antiknock ins Loft und hatte auch eine Wegbeschreibung: ich bin dann eine Strasse eine Stunde hoch und runter gelaufen und habe immer wieder Leute gefragt, ob sie das Loft kennen. Irgendwann hat sich dann leider herausgestellt, dass es vor über einem Jahr umgezogen war. Da es schon nach zwölf war, musste ich mit der völlig überfüllten U-Bahn nach Hause fahren.

Am nächsten Tag stand schon das nächste Konzert an: die Record Release-Party von DIE YOU BASTARD! Nachmittags bin ich zum Yoyogi-Park gefahren, einem grösseren Park im Zentrum Tokyos, wo am Wochenende Bands auf der Strasse auftreten, das alles mit gewohnter japanischer Professionalität. Leider war keine Punk-Combo dabei, nur LED ZEPPELIN-Ripoffs, ein NO DOUBT-Verschnittt, ROLLING STONES-Kopien usw. Die tanzenden Billies, ein bekanntes Foto-Motiv, waren ganz komisch: trotz der sengenden Hitze trugen sie komplett schwarzes Leder. Ausserdem versammeln sich im Yoyogi-Park 50-100 Kids, die meisten zwischen 12 und 14, und schminken sich dort in der Öffentlichkeit. Als ich dort war war gerade ein arg peinlicher Grufti-Look angesagt. Das ganze hat mich etwas an unsere Fussgängerzonen-Punker Ende der Achtziger erinnert, die japanischen Kids lassen sich aber gerne fotografieren und stellen sich gerne in Pose.

Um 19.00 begann dann das Konzert: ARMENIA eröffneten den Abend mit schleppendem Düstercore mit Frauengesang, sollte Freunden von AMEBIX, NAUSEA usw. gefallen. Als nächstes kamen die ABNORMALS, die eine klasse MISFITS-Show spielten, sie waren erheblich besser als die heutigen Auftritte der "Originale". Der Bassist hatte sogar eine "Devilock". Nach dem Konzert habe ich noch probiert, mit den ABNORMALS zu sprechen, weil die genau wie MAD 3 unbedingt fürs Ox interviewt werden müssen. Leider war aber mit dem Englisch der ABNORMALS nichts zu machen. Die SLIGHT SLAPPERS waren die nächste Band: exzellenter Power Violence. Weil sie nur so kurz spielen, oft nicht mehr als zehn Minuten, werden sie auch nicht langweilig, sehr guter Auftritt. STINGER waren fast genauso gut: New York Hardcore mit Grindcore-Einlagen. DIE YOU BASTARD! waren die mit Abstand beste Band des Abends - sogar meiner ganzen Fahrt: SLAYER-mässiger Japcore, superprofessionell, superlaut und superschnell.

Auf der DIE YOU BASTARD-Show habe ich Gori kennengelernt, die einzige, die etwas Englisch sprach. Gori singt bei ROMANTIC GORILLA, der Band mit dem wohl besten Namen der Welt. Zwei Tage später bin ich mit den Gorillas abends in eine Kneipe gegangen: Japaner gehen sehr gerne in Bars und geben dort eine Menge Geld aus. Bier und Essen kommt in die Mitte, vom Essen bedient man sich selbst und Bier schenkt man sich gegenseitig ein, das ist viel geselliger als bei uns. Der einzige Mann in der Band ist übrigens Fan des FC Yokohama, dessen Trainer ein bei uns auch nicht unbekannter "Litti" ist. June von Heartfirst Japan war auch da, eigentlich ein Berliner Plattenlabel, das zahlreiche Japan-7"es veröffentlicht hat.

Mittwoch (26. Mai) abends war ich noch nicht verabredet, deshalb wollte ich auf gut Glück zu einem Konzert nach Koenji fahren, dem Bezirk, in dem viele Punks wohnen: Dort sind die Mieten relativ günstig und man ist nur zehn Zugminuten vom Bahnhof Shinjuku entfernt.

Zuerst habe ich Boy Records angesteuert, einen der bekanntesten Plattenläden Japans. Erica, die Besitzerin, betreibt Boy schon seit fünfzehn Jahren: ein kleiner, enger Laden im ersten Stock eines älteren japanischen Hauses und es gibt Japcore, Crust, Hardcore, Punk und auch etwas Metal. Die Auswahl an ausländischen Platten ist sehr gut und meistens sind die Importe günstiger als die japanischen Releases. Circa zehn Fussminuten entfernt von Boy ist Base Records, ein weiterer Hardcore/Punk-Plattenladen, der eine ähnliche Auswahl hat, allerdings weniger internationales Zeug.

Gegen sechs habe ich mich dann auf die Suche nach dem Konzertort des Abends gemacht und war erfolgreich. Es sollten zwei Konzerte steigen: im 20.000 V und im Gear, die beiden Clubs liegen aber im selben Gebäude. Da ich keine der Bands kannte und mich nicht entscheiden konnte, nutzte Tomonobu, der Sänger von PULL, meine Unentschlossenheit aus und verkaufte mir eines seiner übriggebliebenen Vorverkaufs-Tickets, nachdem er mir versichert hatte, dass die besseren Bands im 20.000 V spielen.

Die erste Band des Abends waren JUG, die irgendwo zwischen HELMET, RAGE AGAINST THE MACHINE oder neuen SEPULTURA liegen: hat mir gut gefallen. PULL gingen musikalisch in eine ähnliche Richtung, machen bloss mehr Faxen auf der Bühne. Die drei weiteren Bands hiessen: PANIC SMILE, HIGH TOWER Z und ELEMENT. Leider weiss ich nicht mehr genau, in welcher Reihenfolge sie aufgetreten sind. Es gab an diesem Abend einige Leute, die gut Englisch sprachen, so dass ich mich gut mit ihnen unterhalten konnte. Als nächstes trat eine Industrialband auf, die richtig schön laut war. Als PULLs grosse Vorbilder aufspielten - professioneller, aber auch langweiliger - hatte ich schon wieder matschige Ohren. Die letzte Band war eindeutig die Hauptband: eine Major-Label-Band, die sehr routiniert und trotzdem engagiert ihre Stücke herunterspielte, musikalisch so wie SEPULTURA heute gerne wären. Nach dem Konzert bin ich dann noch mit den JUG, PULL und den anderen mit, um mit den Leuten zu feiern und habe mich lange über deutschen Metal, japanischen Hardcore und Deutschland im allgemeinen unterhalten.

Am nächsten Abend war kein "gutes" Konzert, deshalb bin ich wieder ins Antiknock gegangen, vor allem, weil ich den Weg schon kannte. Dort war eine Melodicpunk-Nacht mit sehr jungen Bands und entsprechend jungem Publikum, viele davon Mädchen. Leider weiss ich nicht, welche Band wann aufgetreten ist, die Namen seien aber genannt: DRIVING FORCE, GET-TWO, SHAMPOO HAT, FOR TRIP, FUDGE OVER BORD, CONBEEF und UNDER LIFE. Technisch waren die wie immer gut und insbesondere die beiden letzten Bands waren richtig gut. Vielleicht werden sie ja demnächst von Epitaph oder Fat Wreck entdeckt und werden die neuen HI-STANDARD, TEENGENERATE oder GUITAR WOLF.

An nächsten Tag traf ich mich nachmittags mit Dead K, Sänger und Gitarrist von NO REST FOR THE DEAD, am Bahnhof Ikebukuro. Ein abenteuerlicher Treffpunkt, weil an dem sowieso schon riesigen und geschäftigen Bahnhofs sonnabends noch mehr als üblich los ist. Dank Mobiltelefon - in Japan viel verbreiteter als bei uns - haben wir es dann aber doch geschafft. Wir sind erstmal mexikanisch Essen gegangen und später weiter in eine Schule, wo Bands kostenlos (!) üben können. Nach und nach sind die anderen Leute, Bandmitglieder und weitere Zuschauer, eingetrudelt.

Wir waren etwa 30 Leute in einem kleinen Raum und D-RIVER spielten als erste Band: etwas Japcore, etwas Death Metal und ziemlich viel Grindcore. Die DEATH RIVERS sind grosse BRUTAL TRUTH-Fans, covern die auch und haben mit ihnen zusammen in Australien gespielt. Als nächstes spielten ATOM CREEP, Dead K, dort Bassist, nannte es Avantgarde, ich würde sagen: weniger kommerzielle NIRVANA. NO REST FOR THE DEAD bezeichnen ihre Musik als "Deathgrinding Stonerrock" und sie mögen Grindcore, Jimi Hendrix, PINK FLOYD und KING CRIMSON. Das hört sich eher an wie eine Drohung, stellte sich aber als Geknüppel heraus, bei dem der Groove mal nicht abhanden kommt. Trotzdem sind sie schnell und intensiv, das ist der Deathgrinding-Anteil, und ich freue mich schon auf ihre Platte, die auf Deaf American veröffentlicht wird, dem Label des BRUTAL TRUTH-Schlagzeuger Rich Hoak. Nach dem Konzert sind wir natürlich wieder in eine Kneipe gegangen. Kaz, Schlagzeuger von D-RIVER, und Dead K sind übrigens sehr interessiert an Kontakten nach Deutschland und würden hier gerne touren. Die Death River-CD kann man direkt für $12 inklusive Porto bei der Band bestellen, Kontaktadresse am Ende des Artikels.

Am Sonntag stand ich dann vor der schweren Entscheidung entweder zu den "Tokyo Crusties" (GENKOTSU, POWER OF IDEA, BATTLE OF DISARM, SOCIAL CRIME und mehr) oder zur Japcore-Night zu gehen. Ich bin dann zu den Japcorelern ins Antiknock gegangen, wo EVANCE den Abend eröffneten: druckvoll, schnell und gut. Die nächste Band, FORWARD, mussten ihren Sänger ersetzen, der wegen eines Ladendiebstahls für einige Wochen im Knast sass: stampfender, leicht Oi!-lastiger Japcore mit einigen Längen, aber auch Hits. PAINT BOX waren gut, teilweise aber zu schleppend und zu wenig druckvoll. Die nächste Band, LIBERATE, war die "schlechteste" Band des Abends, technisch natürlich trotzdem perfekt: sie haben ein paar Japcore-Hits, aber auch viel Durchschnitt im Programm. Die Hauptband des Abends, TETSU-AREY, ist schon seit 15 Jahren zusammen und eine der grösseren Bands der Japcore-Szene. Der Sänger hat mich sehr an den ACCEPT-Sänger erinnert und tatsächlich waren einige Songs auch recht hardrockig. Der Rest der Band war mit Iros bestens durchgestylt und hat gut abgepost. Sehr guter Auftritt mit viel Japcore-Geballer, EVANCE fand ich aber trotzdem noch besser.

Das war mein letztes Konzert bei diesem Japan-Besuch. Alle Bands, die ich gesehen habe, waren gut, so gut, dass ich zurück in Deutschland erstmal ein paar Wochen keine richtige Lust auf Live-Shows hatte. Tokyo bietet nicht nur fast jeden Abend interessante Konzerte, sondern es gibt auch einen ganzen Plattenladen-Bezirk nördlich des Bahnhofs Shinjuku. Für meine erste Tour durch die verschiedenen Plattenläden dort traf ich mich mit Teppei Serisawa, der eine Webseite betreibt, auf der er die Tokyoter Konzerttermine veröffentlicht. Wer sich für japanischen Hardcore interessiert, kann dort immer nachschauen, was ansteht und vor Neid rot anlaufen. Ausserdem macht er eine Radiosendung, in der er vor allem Garagenpunk spielt, seines Wissens die landesweit einzige Punk-Show.

Wir sind zuerst zu Barn Home gegangen, dem Plattenladen für Garagenpunk und Rock´n´roll. Es gab dort erstaunlich viele Sachen aus Deutschland, zum Beispiel GERM ATTACK und das Radio Blast-Programm, ausserdem kannten sie auch das Ox. Gegenüber liegt die Tokyoter Filiale von Nat Records, hier mit Schwerpunkt auf Crust, Japcore, und Oi!. Das Label HG Fact betreibt in derselben Strasse Allman Records, wo man ein ziemlich ähnliches Programm findet. Natürlich gibt es auch Beat- oder Rock´n ´Roll-Plattenläden sowie zahlreiche Second Hand-Läden. Östlich des Bahnhofes liegt Disk Union, eine Kette, die dort einen Plattenladen mit acht Stockwerken betreibt, eines davon nur mit Punk.

Es gibt aber auch in anderen Stadtteilen interessante Plattenläden: In Ikebukuro hat Disk Wave eine Filiale, wo überwiegend Punk, Hardcore und Metal verkauft wird. Der DIY-Record-Shop im beschaulichen Vorort Daitabashi war leider ausserplanmässig geschlossen, als ich an meinem vorletzten Tag da war. Den stilvollsten Plattenladen habe ich zufällig gefunden, als ich am Yoyogi-Park durch die Gegend gelaufen bin: Peet Moss, spezialisiert auf Surf und Garage. Dort gab es das aktuelle Ox und ein richtiges Café, in dem man sich hinsetzen konnte, um Musik zu hören und Fanzines durchzublättern.

Man hat also grosse Auswahl an Plattenläden und die grossen Plattenläden wie Tower, Virgin oder HMV sind die grössten der Welt. Es gibt noch viel Vinyl und sogar viele 7"es. Für den passionierten Plattensammler lohnt sich fast ein Wochenendtrip nach Tokyo, weil die Preise für Raritäten überraschend gemässigt sind. Neben den Japcore-Perlen, die es in jedem Laden gibt, findet man zahlreiche weitere Platten, die ich in Deutschland schon ewig nicht mehr oder noch nie gesehen habe. Vinyl Japan ist der kompletteste Plattenladen, den ich je gesehen habe: Es gibt wohl keine UK-Punk- oder Ami-Hardcore-Platte, die die nicht haben. Japanische Plattensammler, die mit Europäern tauschen, haben umfangreiche Tauschlisten, besitzen aber wenige dieser Platten tatsächlich, sondern kaufen sie bei Bedarf erst ein. Man kann in den Läden recht gut tauschen, muss aber halbwegs bekannte und gute Sachen mitnehmen, insbesondere ältere Europapressungen japanischer Bands sind ziemlich begehrt.

Da die Läden und die Labels sehr professionell aufgezogen sind und hohe Ausgaben haben, können sie sich richtige Flops nicht erlauben und müssen immer sehr knapp kalkulieren: Tauschen mit europäischen Labels kommt erst in Frage, wenn die Platten in Japan nicht mehr verkauft werden, dann werden sie nach Europa oder in die USA vertauscht. Viele Platten, die deutsche Vertriebe im Angebot haben, sind in Japan schon lange nicht mehr erhältlich und interessieren auch fast niemanden mehr. Die grossen Labels haben sowieso kein Interesse am Tauschen und für hiesige Vertriebe ist das Risiko bei den hohen Einkaufspreisen einfach zu gross.

Fanzines gibt es übrigens recht wenig, das Doll und das Indies Mag sind die grössten, daneben gibt es noch einige kleinere. Dafür gibt es viel mehr und viel bessere Flyer als bei uns. Nach jedem Konzert hatte ich immer etwa zehn Flyer für andere Konzerte, neue Platten oder Klubs in der Hand.

Man kann in Tokyo noch viel mehr machen, das Angebot ist riesengross: Shibuya ist ein weiteres grosses Vergnügungsviertel, wo auch häufig Konzerte stattfinden. Da die Kneipen und Restaurants dort relativ preiswert sind, ist es bei Studenten und Schülern sehr beliebt. In Roppongi leben viele Ausländer aus Europa und Nordamerika, dort gibt es viele Läden, Restaurants und Diskotheken, wo eher Ausländer hingehen. Ginza ist der elegante Einkaufsbezirk mit vielen Cafés, Restaurants und Kaufhäusern, die jedoch sehr teuer sind. Ich fand´s schon deshalb interessant, weil Anfang der Neunziger Jahre der Quadratmeter dort 500.000 DM gekostet hat. Ryogoku ist der Sumo-Stadtteil, wo fast alle Sumo-Ställe ihren Sitz haben, und wenn man Glück hat, sieht man auch ein paar Sumo-Ringer in ihren Kimonos durch die Gegend laufen. Für Technik- und Elektronikfreaks ist ein Besuch der "Electric Town" Akihabara Pflicht: es gibt unzählige Geschäfte mit einer grossen Auswahl an elektronischen Geräten. Ich fand vor allem die Auswahl an sehr kleinen Geräten beeindruckend: Minidisk-Geräte sind beispielsweise nur halb so teuer wie bei uns und es gibt eine viel, viel grössere Auswahl.

Sehr wichtig bei der Freizeitgestaltung sind Spiel- und Pachinko-Hallen: die Spielhallen sind riesengross und unglaublich laut und die Geräte sind mindestens zwei Generationen weiter. Pachinko ist ein Glücksspiel, in dem man daumennagelgrosse Kugeln in einen Automaten einwirft und die Kugeln dann in eine Öffnung fallen müssen. Sehr stumpfsinnig und überhaupt unverständlich, wie man es bei dem ohrenbetäubenden Lärm überhaupt länger als fünf Minuten aushalten kann, geschweige denn sich entspannen kann. Trotzdem sind die Pachinko-Hallen am Wochenende bis auf den letzten Platz besetzt.

Am 2. Juni war mein letzter Tag in Tokyo. Wegen der U-Bahn-Rush-Hour musste ich bereits um kurz vor 7 Uhr losfahren, später kommt man mit einem Koffer einfach nicht mehr in die Züge. Nach drei Stunden Warten auf dem Flughafen von Tokyo, zwölf Stunden Flug, der üblichen Verspätung in Paris und weiteren zwei Stunden Flug war ich nach 18 Stunden wieder in Berlin - mit dem festen Vorsatz so schnell wie möglich wieder nach Japan zu fahren!!