CHRIS T-T AND THE HOODRATS

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Von Bären und Ratten

Ein Newcomer ist Chris T-T (1974 geboren als Christopher Thorpe-Tracey) nicht, schon 2003 fand sich eine Besprechung seines „London Is Sinking“-Albums im Ox, und auch das war bereits sein viertes, das Debüt „Beatverse“ erschien 1999. In Großbritannien ist der in Brighton lebende Singer/Songwriter schon recht bekannt, er hatte zwischenzeitlich eine eigene Radiosendung, ist Blogger und schreibt über Musik, mischt sich in popkulturelle Diskussionen ein, stand auch schon mit Frank Turner auf der Bühne und scheint auch ein politisch engagierter Mensch zu sein. In Deutschland hingegen dürfte ihn kaum jemand kennen, sein Label Xtra Mile bemühte sich nicht, seine letzten beiden Alben in Deutschland überhaupt zu promoten, doch mit „The Bear“ (sein neuntes Album), das Chris T-T nun mit seiner Backing-Band THE HOODRATS veröffentlicht hat, könnte sich das Blatt auch hierzulande wenden. „The Bear“ ist voller starker Songs, erinnert mal an Joe Strummer, an anderer Stelle lässt Kollege Turner grüßen, an wieder anderer sind es OASIS. Noch ist der Mann ein Geheimtip, aber ich bin sicher, das wird sich bald ändern.

Chris, bis heute bist du ein gut gehütetes Geheimnis in Deutschland, dein Label hat hier keinerlei Promotion für deine vorherigen Veröffentlichungen betrieben. Bestehen Pläne, den Kontinent zu erobern?


Es gibt auf jeden Fall Pläne für Europa! Um ehrlich zu sein, bin ich überall ein gut gehütetes Geheimnis, deshalb ist es aufregend, nach neun Alben nun neue Musik zu veröffentlichen, die einschlägt. Ich habe nur wenige Male außerhalb Großbritanniens gespielt, und bin auch schon einige Jahre lang nicht mehr auf dem Kontinent gewesen, deshalb behandle ich es wie ein ganz neues Abenteuer. Aber Xtra Mile ist mittlerweile ein größeres Label geworden, und da einige andere Künstler dort recht erfolgreich waren, denke ich, dass die Leute darauf vertrauen, dass dieses Label gute Sachen veröffentlicht. Im Moment buche ich Shows in Europa für den Frühling 2014 und wir werden „The Bear“ einen kräftigen Stoß geben, wo wir damit auch immer hinkommen. Ich suche nach noch nach Support und wäre genau so glücklich damit, solo zu spielen, wie eine Band mitzubringen, also wird es auf dieser Tour hoffentlich ein wenig Action geben. Ich habe ein viel größeres Interesse daran, ein breites europäisches Publikum zu gewinnen als ein amerikanisches, vor allem aufgrund der fantastischen Vielfältigkeit der Menschen in Europa.

Du hast in der Vergangenheit für Press Association-Presseagentur gearbeitet und regelmäßig eine Kolumne im Feuilleton der linken Tagezeitung The Morning Star geschrieben hast. Du scheinst neben der Musik auch sehr am Journalismus interessiert zu sein. Warum hast du dich nicht für eine Karriere in diesem Bereich entscheiden?

Ganz einfach:Als Musiker bekommst du Applaus und am Ende eines jeden Arbeitstages erzählt dir jemand, wie toll er dich findet. Als Journalist wirst du angebrüllt und du trinkst zu viel, wenn du alleine bist, bis du gefeuert wirst, weil du die Wahrheit schreibst. Gib mir lieber jeden Tag Musik. Im Ernst, ich liebe es zu schreiben, aber ich liebe Musik sehr viel mehr – vor allem das Reisen, das dazu gehört, es gibt keinen besseren Lebensstil. Eine Karriere im Journalismus hätte ich nie anstreben wollen, denn die Hierarchien in dieser Branche sind schrecklich. Um ehrlich zu sein, komme ich einfach nicht damit klar, einen Chef zu haben. Wenn ein Redakteur einen meiner Texte kürzt, schmerzt mich das immer viel zu sehr. Im Grunde möchte ich so direkt wie möglich kommunizieren, und mit Musik funktioniert das, indem man für Leute spielt. In Sachen Schreiben bevorzuge ich deshalb das Bloggen, da kann ich Texte genauso zu veröffentlichen, wie ich es möchte.

Bei Wikipedia steht: „2013 war Chris T-T der Artist-In-Residence im Bereich Populäre Musik an der Leeds Metropolitan University. Ab März 2013 ist er zudem für sechs Monate der Blogger-In-Residence des Royal Pavilion and Museums in Brighton.“ Kannst du erklären, was du dort getan hast oder tust?

Ich war dieses Jahr zweimal ein „Artist in Residence“, das erste Mal allerdings nur für eine kurze Zeit: Ich bin für wenige Wochen an der Metropolitan Universität in Leeds gewesen und habe in deren Studios gearbeitet und mit Studenten an gemeinsamen Stücken gearbeitet. Das hat Spaß gemacht und die Studenten waren toll, und einige der aufgenommenen Elemente haben es auf das Album geschafft, wenn auch keine vollständigen Songs. Mein Engagement für Royal Pavilion and Museums war deutlich gehaltvoller: Ich war dort für sechs Monate – ich lebe so oder so in Brighton – und hatte freien Eintritt zu allen Museen und den kultigen Royal Pavilion. Falls du den nicht kennst, such mal im Internet danach, es ist der einzige königliche Palast in Großbritannien, der mittlerweile den Bürgern gehört, er wird vom Gemeinderat verwaltet. Es ist ein wahnsinnig opulentes Gebäude, das von Georg IV. für seine obszönen Partys erbaut wurde, bevor er König war. Er liebte Alkohol und Sex, also hat er dort riesige Feste veranstaltet. Es ist ein unglaublicher Ort und hatte einen enormen Einfluss auf die Gestaltung Brightons als ein Zentrum für Kultur, die „dirty weekends“, liberales Gedankengut und vieler mehr.

Ich habe den Eindruck, dass du eine sehr vielseitig begabte Person bist: Schreiben, Musik und dazu Philosophie. Bist du ein ... Intellektueller?

Danke, das ist schön zu hören ... Aber, ist das Wort „intellektuell“ in Deutschland ein positives oder negatives? Es klingt schmeichelhaft – ich denke manchmal darüber nach, Philosoph zu werden, aber ich bin noch zu jung, mit noch zu vielen Möglichkeiten und nicht wirklich weise. Eines Tages vielleicht. Mir gefällt die Vorstellung, ein „Denker“ zu sein, aber das ist eine sehr eingebildete Bezeichnung. Ich habe einen weit über den Tellerrand blickenden, neugierigen Geist, und obwohl ich genauso sehr mit mir selbst beschäftigt bin, wie jeder andere Musiker, bin ich doch sehr viel intensiver am Rest der Welt interessiert. Deshalb frage ich zurück: Wird Intellektualismus – oder Philosophie – nicht dadurch gestärkt oder sogar definiert, Verbindungen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Teilen der Welt herzustellen, um einen weitreichenderen Überblick zu fördern? Im Gegensatz zu Menschen, deren Weltsicht eher beschränkt ist? Wenn ja, dann funktioniert mein Gehirn tatsächlich so, und vielleicht ist es unsere Aufgabe als tourende Musiker, genau das zu verbreiten. Leider scheitern wir – das Musikbusiness – auf ganzer Linie daran, vor allem seit Popmusik erheblich dümmer geworden ist, als sie es einmal war.

Aus irgendeinem Grund verachten vielen Musiker den Journalismus oder betrachten ihn als notwendiges Übel. Und Morrissey zum Beispiel scheint alle Journalisten zu hassen. Was denkst du über das teilweise doch sehr schwierige Verhältnis von Kunst und Medien?

Ich glaube, dass viele Künstler aus einer Position der Angst heraus operieren, denn am Anfang gehen sie immer von der Notwendigkeit kommerziellen Wachstums aus. Trügerische marktwirtschaftliche Ideale unterziehen dich einer Gehirnwäsche und geben vor, dass du wachsen, expandieren und „berühmt werden“ musst, um zu überleben. Und in dem Moment, in dem du aufhörst, diese Richtung zu verfolgen, ist es vorbei. Rockmusiker denken nicht über eine lebenslange Karriere nach, sie denken an die nächsten drei bis vier Jahre Wachstum. Das ist furchtbar kurzfristig und führt dazu, dass sie konstant Schiss davor haben, was die Journalisten oder die Medien ihnen antun könnten. Für mich ist das einfacher, da es keinen „Erfolg“ gibt. Ich bin bereits auf meine eigene Art und Weise ziemlich erfolgreich – ich verbringe meine Leben damit, meine geliebte Musik zu machen, schreibe, was auch immer ich möchte, und verdiene damit genug Geld, um mein eigener Boss zu sein. Im Prinzip besitze ich ein kleines Unternehmen, und das obwohl ich eher links bin! Das ist genau das, was ich möchte, und das kann mir keiner wegnehmen. Als Gesellschaft ziehen wir eine gefährlich verschwommene Grenze zwischen Kunst machen und Kunst vermarkten, bis zu einem Punkt, an dem die Menschen vergessen, was von beiden sie eigentlich tun. Das ist eine der schlimmsten Folgen des Kapitalismus und der Massenmedien. Aber zum Glück ändert sich das durch das Internet gerade wieder und in den nächsten Jahren werden wir uns, hoffentlich, wieder in die andere Richtung bewegen und das „Kunst machen“ und das „Verkaufen“ klarer trennen. Obwohl dieser Richtungswechsel zur Zeit sehr chaotisch und schmerzhaft verläuft, bin ich optimistisch.

Dir sind soziale Themen offensichtlich sehr wichtig, du hast dich in „The huntsman comes a-marchin’“ gegen die Jagdorganisation Countryside Alliance ausgesprochen. Siehst du dich selber als politischen Künstler – und da du gegen das Jagen bist, lebst du vegan?

Ich bin ein zutiefst politischer Mensch – das könnte ich auch nicht abstellen, selbst wenn ich es wollte – und zugleich Künstler. Diese beiden Seiten meiner Persönlichkeit sitzen direkt nebeneinander und sind die zwei mich am stärksten antreibenden Kräfte, gleichzeitig sind sie offensichtlich nicht dasselbe. Aber das Beste, was ich geschrieben habe, ist nichts Politisches – sondern das scheinen meine persönlicheren Songs zu sein. Ich bin Vegetarier und bin nicht unbedingt gegen die Jagd zum Zweck der Ernährung, aber ich bin absolut dagegen, als Sport oder zum Spaß zu jagen oder wissenschaftliche Experimente an Tieren durchzuführen. Ich lehne auch den industrialisierten Handel mit Fleisch ab, aber ich fände es viel unproblematischer, wenn einzelne Menschen jagen würden, um sich davon zu ernähren – auch wenn ich selbst das vermutlich nicht könnte. Für mich ist es praktisch dasselbe, Tiere oder Menschen zu verletzen, die nicht in der Lage sind, sich zu artikulieren. Nur weil wir Empfindungen entwickelt haben, verleiht uns das keine natürliche Überlegenheit, die traurigerweise viele als selbstverständlich ansehen. Ich wäre sehr gerne Veganer, aber immer, wenn ich es versuche, ist es irgendwie unmöglich, auch wenn ich mich dafür schäme. Es ist schon komisch, auch wenn ich mich sehr häufig über Politik auslasse, spreche ich kaum über meine Gedanken zum Thema Tierrechte, weil es mich zu sehr an den Rand des ethischen Mainstreams bringt. Wenn ich tatsächlich so leben würde, würde es große Barrieren zwischen mich und die Menschen treiben, die mir am wichtigsten sind.

Wie koordinierst du all deine Aktivitäten, schläfst du überhaupt manchmal?

Die meisten Menschen arbeiten jeden Tag hart für wenig Geld. Chris T-T zu sein ist mein Job und meistens macht es unglaublichen Spaß. Ich mache jeden Tag etwas anderes, und auch wenn ich hart arbeite, ist das nicht vollkommen normal? Vielleicht scheint es auch nur mehr Arbeit zu sein, als es tatsächlich ist.

Lass uns über Musik sprechen: Du wurdest 1974 geboren, was sind deine ersten Erinnerungen an Musik? Was waren die ersten Bands und Songs, die du bewusst wahrgenommen hast?

Ich bin dank meines Vaters mit Frank Sinatra und Barbra Streisand aufgewachsen, bevor ich Bruce Springsteen und den amerikanischen Mainstream-Rock der späten Achtziger entdeckt habe. Danach habe ich letztendlich mit Grunge und Underground Indie/Punk den Weg zur Underground-Musik und dem NME der frühen Neunzigern gefunden.

Auf deinem neuen Album erkenne ich Einflüsse von Joe Strummer, OASIS und Frank Turner, von Folk und Punk. Was interessiert dich, was sind deine Einflüsse, wer inspiriert dich?

Wir wollten das Album ursprünglich „Content Dictates Form“ nennen, ein Zitat von Stephen Sondheim, das besagt, dass die Stimmung oder der Inhalt des Textes den Klang jedes Songs bestimmt. Meine grundlegenden Einflüsse sind amerikanischer Underground-Rock und englische Folk-Songs. Ich bin mit SEBADOH, SONIC YOUTH und YO LA TENGO aufgewachsen. 1996 war ich in Großbritannien bei Chemikal Underground unter Vertrag und hatte so die Möglichkeit, Bands wie MOGWAI, DELGADOS und ARAB STRAP zu sehen, als sie noch in kleinen Clubs gespielt haben. Zu dem Zeitpunkt habe ich hauptsächlich Songs geschrieben, die vor allem von der Folkmusik der Sechziger Jahre beeinflusst waren , wie von Martin Carthy, THE WATERSONS und vor allem von June Tabors dramatischer Performance. Unser neues Album wurde besonders inspiriert von den frühen Garage-Bands wie THE FACES oder THE ANIMALS und HOLD STEADY – von denen hat meine Band HOODRATS ihren Namen. Allerdings nur zu der Zeit, in der Franz Nicolay dabei war, das beste Mitglied der Band überhaupt. Ohne ihn sind sie ziemlich scheiße, mittlerweile versuchen sie nur noch, typische Rockstars zu sein.

Du hast auch schon in Frank Turners Band Keybord gespielt. Was habt ihr für ein Verhältnis zueinander?

Ich habe das erste Mal von Frank gehört, als er ein paar meiner Songs coverte, da hat er gerade begonnen, solo aufzutreten. Ich mochte seine alte Band MILLION DEAD, aber ich wusste nicht, dass es derselbe Typ war. Ich bin zwar schon einige Jahre länger aktiv, aber als Frank allmählich bekannter wurde und anfing, mich auf der Bühne und in Interviews zu erwähnen, brachte das eine neue Generation von Publikum zu meinen Shows. Wir haben uns 2008 das erste Mal getroffen, und von da an sind wir überall in Europa, den USA und Großbritannien getourt, allerdings weniger, seit er deutlich bekannter geworden ist.

Leider werden viele Alben heutzutage ohne Textblatt veröffentlicht, deshalb habe ich keine Ahnung, worum es in vielen Songs auf deinem Album geht. Kannst du mir weiterhelfen? Fangen wir an mit „Jesus Christ“.

In „Jesus Christ“ geht es darum, wie die großen Kirchen die ursprüngliche Botschaft von Jesus – Liebe, Vergebung, Kameradschaft und Gleichheit – entstellen und verraten, stattdessen benutzen sie ihm als Galionsfigur für Bullshit wie Unterdrückung und restriktive Moral. Ich habe versucht, einen Song darüber zu schreiben, was ich gegenüber der Kirche empfinde – aber keinen „atheistischen“ Song, den hatte ich schon. Es ist schwer, innerhalb des christlichen Glaubens zu vermitteln, wie weit sie die ursprünglichen Ideen verdreht haben, aber genau das habe ich hier versucht. Manchmal glaube ich, dass man „Satan“ einfach als „Hierarchie“ interpretieren kann, schließlich sind wir alle gleich, bis zu dem Moment, in dem man irgendeine Form der Hierarchie durchsetzt oder akzeptiert – soziale, steuerliche, historische, was auch immer. Davon ausgehend ist die Kirche selber der „Satan“ aus den Evangelien – sie erschaffen genau das, wovor ihre eigenen Texte warnen.

„1994“?

In „1994“ geht es darum, das Leben als Party zu betrachten und sich keine Sorgen über das Älterwerden zu machen. Es ist ein optimistischer Ausbruch zu Beginn des Albums, es soll die Leute herausfordern, die Dinge positiver zu sehen. Es ist eigentlich von Prince geklaut, zur Erinnerung an alle, die damals zu „1999“ getanzt haben, dass wir auch heute immer noch tanzen sollten.

„Tunguska“?

Tunguska ist ein realer Ort in Sibirien, an dem es vor 110 Jahren durch einen Meteoriten eine riesige Explosion gab, die eine riesige Waldfläche zerstört hat. Als ich las, dass die abgeknickten Bäume alle zusammen die Form eines Schmetterlings hatten, erinnerte mich das an all die Menschen in komplizierten Beziehungen, die versuchen einander gegenseitig zu verändern , so eine Art Raupe-Schmetterlings-Metapher. Davon ausgehend entstand ein ganzer Song, der die Explosion in Tunguska als eine erweiterte Metapher für eine schwierige Beziehung verwendet. Anstatt Songs über Trennungen schreibe ich lieber welche darüber, sich nicht zu trennen. Ich habe mich seit zwölf Jahren von niemandem mehr getrennt und kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sich das anfühlt.

Übersetzung: Hannah Lang