TON STEINE SCHERBEN

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Der Fluch der Scherben

„Keine Macht für Niemand“ heißt wohl der bekannteste Song von TON STEINE SCHERBEN – der Berliner Band, die von einer WG am Tempelhofer Ufer aus die Studentenrevolte Anfang der Siebziger Jahre vorangetrieben hat. Auf Konzerten wurde zum Widerstand gegen Staat und Kapital aufgerufen. Die Band wurde zum Sprachrohr der linken Szene und der Hausbesetzerbewegung und später zur Blaupause für Polit-Punkbands wie SLIME, RAWSIDE oder TOXOPLASMA.

„Keine Macht für Niemand“ haben TON STEINE SCHERBEN nach eigenen Angaben im Auftrag der RAF als Revoluzzer-Hymne geschrieben. Von den Auftraggebern wurde der Song aber als untauglich abgelehnt. 2012 feierte das gleichnamige Album sein vierzigjähriges Jubiläum. Und im April 2014 waren die Scherben auf Tour und zwar das erste Mal seit 1985 in der verbliebenen Originalbesetzung mit Gitarrist R.P.S. Lanrue. Neben Lanrue finden sich in der aktuellen Besetzung der Bassist der ersten Stunde, Kai Sichtermann, und der aus Würzburg stammende Drummer Funky Götzner.

Von 1970 bis 1985 erfanden sich die Scherben personell und inhaltlich immer wieder neu, der Kern aber blieb immer das Songwriter-Duo Rio Reiser/R.P.S. Lanrue, aus dessen Feder die größten Hits der Bands stammen. Nach der Auflösung im Jahr 1985 hatte es fast zwanzig Jahre gedauert, bis ein Teil der ursprünglichen Mitglieder wieder gemeinsam auf die Bühne zurückkehrte. Die verschiedenen Revival-Projekte firmierten unter Namen wie NEUES GLAS AUS ALTEN SCHERBEN oder TON STEINE SCHERBEN FAMILY.

Den Quantensprung im aktuellen Line-up stellt nun die Rückkehr von Ur-Gitarrist R.P.S. Lanrue dar, der seinen letzten Auftritt mit Rio Reiser 1988 in Ost-Berlin spielte. Danach hatte der Gitarrist viele Jahre in Portugal verbracht, bis er Unterschlupf fand in Fresenhagen, dem ehemaligen Bauernhof der Band in Nordfriesland. 2011 wurde der Hof von einer Jugendhilfeeinrichtung übernommen, die inzwischen allerdings Insolvenz anmelden musste. Das Haus mit der Adresse Fresenhagen 11 musste in die Zwangsversteigerung. Das Grab von Rio Reiser, das das Anwesen lange zu einer Pilgerstätte für Fans gemacht hatte, wurde auf Initiative seiner Familie vor drei Jahren nach Berlin umgebettet. Lanrue lebt heute wieder in Kreuzberg. Dem Ox-Fanzine hat der scheue Gitarrist beim Auftritt im Nürnberger Hirsch ein Interview gegeben, obwohl er normalerweise nicht so gerne mit Journalisten spricht.

Du hast bis 2004 zurückgezogen in Portugal gelebt und bist dann zurückgekommen. Warum?


Ich habe durch einen schlimmen Waldbrand alles verloren. In Portugal brennt es jedes Jahr, zwei oder drei Jahre ging es gut und im vierten Jahr hat es mich erwischt. Ich hatte nichts mehr und habe dann ein paar Jahre in einem Wohnwagen gelebt, bis es die Möglichkeit gab, eine Zeitlang in Fresenhagen zu leben. Und das habe ich dann wahrgenommen. Ich musste wieder nach Deutschland, weil ich nichts mehr hatte.

Du bist aber nicht lange auf dem ehemaligen Bauernhof der Scherben in Fresenhagen geblieben und jetzt wieder in Berlin, oder?

Den Hof gibt es ja nicht mehr. Fresenhagen ist verkauft worden. Dann wollte ich noch eine Zeit in Nordfriesland bleiben, aber da ging einiges schief und deshalb bin ich zurück nach Berlin gekommen. Jetzt wohne ich wieder in Kreuzberg, ganz in der Nähe unseres ehemaligen Proberaums am Moritzplatz. Ich bin quasi zurück in die Siebziger gereist.

Wie war es für dich, nach Berlin zurückzukommen? Die Stadt hat sich in den letzten Jahren ja rasant verändert ...

Die Mieten steigen und ich habe das Gefühl, es sind immer noch die gleichen Probleme wie in den Siebzigern. Es ist zwar durch die sozialen Medien wahrscheinlich einfacher, Leute zu mobilisieren, andererseits gibt es Entwicklungen, die ich so nicht kenne. Berlin ist aber auf jeden Fall noch meine Lieblingsstadt, die einfach pulsiert. Ich wohne gerne in Berlin und habe gleich ein eigenes Netzwerk geknüpft.

Warum bist du wieder bei den Scherben eingestiegen?

Vor zwei Jahren gab es eine Veranstaltung zum vierzigjährigen Jubiläum von „Keine Macht für Niemand“. Da haben wir die aktuelle Besetzung getestet und dann hatte ich einfach weiter Lust, in dieser Konstellation zu spielen. Ich hatte dann wieder eine Gitarre und das ist immerhin mein Beruf. Ich kann sonst nichts anderes.

Vierzig Jahre „Keine Macht für Niemand“ zu feiern – wie war das für dich?

Das Album hat ja immer noch Aktualität. Das sieht man bei den Konzerten, die wir gespielt haben. Es war natürlich sehr schwierig ohne Rio, aber so langsam grooven wir uns ein. Und es macht mir einfach Spaß, verschiedene Generationen auf der Bühne zu haben.

In der aktuellen Besetzung steht unter anderem deine Tochter Ella Josephine Ebsen am Mikrofon. Im Background singt deine Schwester Elfie-Esther Steitz und dein Neffe Maxime hilft am Schlagzeug aus. Wie kam das zustande?

Mein Neffe ist dabei, weil Funky vor zwei Jahren bei einem Konzert einen Herzinfarkt hatte und bei der Vierzig-Jahr-Feier nicht dabei sein konnte. Und seitdem ist Maxime dabei. Für mich steht bei der Besetzung die Glaubwürdigkeit im Vordergrund. Wir haben für die Besetzung am Mikrofon ja keinen Wettbewerb gemacht: Wer kann so singen wie Rio? Für mich ist es wichtig, dass es menschlich passt und dass es auch Spaß macht. Das ist meine Priorität.

Wie gehst du heute mit dem „Fluch der Scherben“ um? Damit, dass euch die linke Szene als Vorzeige-Protestband für ihre Zwecke missbraucht hat? Ihr habt ja sehr darunter gelitten, dass ihr nicht als Musiker wahrgenommen wurdet.

Das ist ja heute nicht mehr so. Damals war es natürlich so, dass sich jeder auf die Scherben draufgesetzt hat und uns für sich vereinnahmt hat. Wir mussten ständig irgendwelche Soli-Konzerte ohne Gage spielen und die Konzerte wurden oft zu Diskussionsveranstaltungen umfunktioniert. Das passiert uns heute nicht mehr. Die Leute freuen sich, singen mit und tanzen. Das ist schon mal ein Anfang. Gestern habe ich in einer Zeitung gelesen: „Der Star ist die Musik!“ Das fand ich gut.

TON STEINE SCHERBEN gelten als Blaupause für Punkbands wie SLIME. Kannst du mit diesem Sound was anfangen?

Mit SLIME standen wir ja sogar auf der Bühne. Die haben schon vor zwanzig Jahren „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ gespielt. Inzwischen gibt es schon über tausend Bands, die unsere Songs covern. Das ist natürlich eine sehr coole Geschichte. Und für unser erstes Album „Warum geht es mir so dreckig?“, das 1971 herauskam, wurden wir als Erfinder des Punks bezeichnet.

Eure Slogans wie „Keine Macht für Niemand“ oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ werden ja inzwischen von allen möglichen Leuten verwendet, aber leider auch missbraucht.

Das ist uns schon 1971 passiert. Damals hat die NPD in Niedersachsen mit „Allein machen sie dich ein“ für sich geworben. Wie willst du dich dagegen wehren? Wir haben es immer versucht, aber das ist schwierig. Es spricht auf jeden Fall für die Einfallslosigkeit dieser Leute, dass sie bei uns klauen. Es hat uns aber immer sehr wehgetan, wenn unsere Texte in einem falschen Kontext verwendet wurden.

Aktuell sind die Tonträger der Scherben nicht im Handel erhältlich, nur bei Konzerten dürfen sie verkauft werden. Grund dafür ist ein Rechtsstreit mit Rios Erben, seinen Brüdern Gert und Peter Möbius. Gibt es dafür irgendwann eine Lösung?

Dazu sage ich gar nichts, sonst ist meine gute Laune weg.

Ihr wart ja auch die erste Band in Deutschland, die mit David Volksmund Produktion ihre eigene Plattenfirma gegründet und den Vertrieb über linksalternative Buchläden selbst organisiert hat. Heute ist dieses Prinzip in der Punkrock-Szene als D.I.Y. weit verbreitet. Hat sich dieser Weg bewährt?

Wir wollten so unabhängig und selbstständig sein, wie es geht. Wir hatten ja auch damals mit April Records den Verbund mit EMBRYO, MISSUS BEASTLY und SPARIFANKAL und mit denen ein eigenes Vertriebssystem aufgebaut. So konnten wir unsere Platten verkaufen wie ein Bäcker sein Brot und davon haben wir auch gelebt, denn 95% der Scherben-Konzerte waren Solidaritätsveranstaltungen für Nicaragua oder ähnliches. Deshalb hatte ich mit der Plattenindustrie fast nie etwas zu tun. Es gab natürlich Angebote. Die Industrie ist uns immer nachgereist, aber wir haben nie aufgegeben, und es gab auch irgendwann mal ein Angebot, aber das war so lächerlich, dass wir sofort abgesagt haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mit der Industrie einen Deal hatten.

Du bist also im Nachhinein froh, dass ihr diesen Weg gegangen seid? Wie läuft es denn finanziell bei dir? Euer Schlagzeuger Funky hat ja zwischenzeitlich sogar Versicherungen verkauft, um über die Runden zu kommen.

Weil wir aus juristischen Gründen jahrelang keine Platten verkaufen durften, lebe ich von der GEMA-Sozialkasse. Die haben eine soziale Einrichtung für Leute, die so wenig Geld verdienen. Und weil ich nicht gerade viele Einnahmen habe, bekomme ich diese Unterstützung. Ich führe ein sehr bescheidenes Leben, wohne in Kreuzberg in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und muss manchmal kämpfen, dass ich die Miete zusammengekratzt bekomme.

Das wundert mich, immerhin bist du ja Komponist von bekannten Songs wie „Keine Macht für Niemand“. Du dürftest doch eigentlich keine finanziellen Probleme haben ...

Das könnte man denken, aber dem ist nicht so. Man konnte eben jahrelang keine Scherben-Platten kaufen. Und wenn du keine Lizenzeinnahmen hast und die Songs nicht gespielt werden, hast du auch keine Einnahmen. Ich habe auch jahrelang keine Konzerte gespielt. Aber wir haben TON STEINE SCHERBEN auch nie gemacht, um Geld zu verdienen. Das wäre ja absurd. Wenn ich Geld verdienen wollte, hätte ich andere Möglichkeiten gehabt, als so eine Band zu gründen.

Wie geht es nun weiter mit den Scherben? Wird es auch neue Songs geben?

Diese Tour ist für mich ein kleiner Test, ob wir klarkommen. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, was danach passiert. Das Problem ist: Ich habe mit den Scherben unter anderem Schluss gemacht, weil ich das Gefühl hatte, wir haben alles gesagt. Deshalb stellt sich die Frage: Haben wir in der neuen Form etwas zu sagen? Das müsste man erst herausfinden. Eine Menge Musik habe ich auf jeden Fall noch und ich bin hungrig nach Geschichten. Ich schließe nichts aus.