Go Ost!

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Punk & Artverwandtes aus den Subkulturen Osteuropas

Mit „Go Ost! Klang – Zeit – Raum: Reisen in die Subkulturzonen Osteuropas“ veröffentlichte Alexander Pehlemann, Herausgeber des Zonic-Fanzines, vor einigen Monaten ein Buch über die Subkulturen im „Ostblock“, jener Region jenseits des „Eisernen Vorhang“, der bis zum Mauerfall 1989/90 West- und Osteuropa trennte. So unterdrückerisch die Regime der Vasallenstaaten der UdSSR auch waren, ganz konnten sie nicht verhindern, dass die Saat des widerständischen Punks auch hier keimte. Für das Ox hat Pehlemann einige Platten herausgekramt.

SPIONS „Russian Way Of Life/Total Czecho-Slovakia“ (7“, Barclay, 1978)

Die nach drei Skandal-Auftritten aus dem Land geworfene jüdische Konzept-Punkband aus Budapest mit Background in der Performance-Kunst und experimentellem Theater – hier gelandet im Umfeld von Malcolm McLaren in Paris, wo sie gleich ein Meisterstück in zelebrierter Überaffirmation lieferten. Musikalisch eher New Wave als Industrial-Punk, der angesichts der inhaltlichen Vehemenzballung klanglich weitaus angemessener gewesen wäre. Abschweifungsanmerkung: Zwei Jahre später tauchten, den radikalen SPIONS konzeptionell-ideologisch nicht unverwandt, plötzlich LAIBACH auf, die damals ebenso als Teil der Punk-Szene galten. Den ersten Auftritt im September 1980 in ihrer slowenischen Heimatkleinstadt Trebovlje, zusammen mit den Bands KAOS (toller Synthiepunk mit irrer Sängerin, checkt die Aufarbeitung bei NE Records!) und (den eher traditionellen) BERLINSKI ZID (deutsch: Berliner Mauer), untersagen allerdings die lokalen Behörden.

V.A. „Victim Of Safety Pin. Polski Punk Underground 1977-1982“ (LP, Supreme Echo, 2003)

Verdienstvolle Aufarbeitung von polnischem Früh-Punk durch den Kanadier Jason Flower, empfohlen vor allem für Authentizitätfreaks und Liebhaber verrauschter Urschrei-Momente. Vom proto-punkigen Folk des Walek Dzedzej über UK-Punk im 77er-Stil bei DEADLOCK, dem frühen Hardcore von DEZERTER, TZN XENNA oder REJESTRACJA bis zur Polski Punky Reggae Party, vibrierend verkörpert durch KRYZYS und im Geiste durch TILT. Dickes Booklet inklusive.

BRYGADA KRYZYS „s/t“ (LP, Tonpress, 1982)

Psycho-Punkedelic meets Reggae-Groove und anti-babylonische Attitüde im kalten Warschau zur Hochzeit des Kriegsrechts. Eingespielt und veröffentlicht von einer frühen Supergroup polnischer Punks als erstes offizielles Underground-Album des Warschauer Pakts – ein fantastisch funktionierender Widerspruch in sich. Da sie jedoch auf die Existenz einer Krise mittels Namen verwies und jene nicht zu einem K verkürzen wollte, war dann aber auch bald Schluss mit der Brigade. Verlorener Klassiker des (Ost-Post-)Punk, egal welchen Blocks.

DISCIPLINA KICME „Svida Mi Se Da Ti Ne Bude Prijatno“ (LP, Helidon, 1983)

„Drum’n’Bass für Titos Waisen“, um den mich hiermit unheilbar infiziert habenden YU-Post-Punk-Experten Johannes Ullmaier zu zitieren. Als eine von zwei Ableitungen der ebenfalls extrem guten, aber schnell wieder auseinandergebrochenen ŠARLO AKROBATA wirbelt das explosive Duo hier durch einen brodelnden Hardcore-Funk-Dub-Gaga-No Wave-Mix, der wirklich unvergleichlich ist.

DEZERTER „Kolaboracja“ (LP, Razem, 1987)

Kurz nach dem illegalen internationalen Debüt „Underground Out Of Poland“, das als Materialsammlung vom D.O.A.-Sänger Joe Shithead nach gemeinsamer Polska-Tour auf dem Label des Maximumrocknroll-Fanzines lanciert wurde, erschien endlich auch in Polen der erste Longplayer der Anarchopunk-Legenden, die als SS20 anfingen (was dann nicht ging), und als „Deserteure“ (zu Kriegsrechtszeiten!) weitermachen konnten. Allerdings auch nur im Rahmen eines Plattenklubs in limitierter Auflage. Den notwendigen Handshake mit dem System kommentierte die Band offensiv mit dem Albumtitel, der Sound sägt situationsentsprechend ätzend, treibt energetisch, drischt und wütet – und zeigt doch auch erste sympathisch auflockernde Einflüsse über Hardcore-Punk hinaus.

J.M.K.E. „Kylmälle Maalle“ (LP, Stupido Twins, 1989)

Villu Tamme, oft (vollkommen fälschlich) als „Jello Biafra der Sowjetunion“ bezeichnet, tauchte für mich zuerst als Mitglied von VELIKIJE LUKI auf: seit 1982 geprügelter, radikaler, estnischer Hardcore-Punk, der de facto illegal beim DDR-Sender DT64 lief. Mit J.M.K.E. fing er in den Mittachtzigern an, zwar DEAD KENNEDYS-geschulten, aber doch sehr eigenständigen, stürmisch-melodischen Punk zu spielen, der es Ende des Jahrzehnts erstaunlicherweise auf ein finnisches Label schaffte. Zumal hier (und auf der „Go Ost!“-CD-Beilage) „Tere Perestroika“ enthalten ist, ein ironischer Abgesang auf Gorbatschows gesellschaftliche Umwandlungsversuche, der in Finnland in die Top Ten ging und J.M.K.E. auf Einladung der finnischen KP sogar in den (nördlichen) Westen brachte. Weigerte sich Villu dem DDR-Journalisten von DT64 gegenüber übrigens noch, überhaupt Russisch zu sprechen, nahm er als „Fuck off“ den neuen Verhältnissen gegenüber 1995 eine LP mit Sowjet-Klassikern und Revolutionsliedern auf, komplett in der Sprache der Ex-Besatzer, unter denen Villu so sehr zu leiden hatte.

F.P.B. „Kdo Z Koho, Ten Toho“ (CD, N.A.R., 1991)

1991 eingespielte Songs aus den Jahren 1981 bis 85 von der FOURTH PRIZE BAND aus Teplice, deren Name sich von der billigsten Pub-Kategorie ableitete. Wer aber dumpfen Sauf-Haudrauf-Sound erwartet, trifft stattdessen auf ultra-intelligenten Punk, abwechslungsreich und virtuos, übervoll mit Ideen, ganz gegen die Konvention des Genres und doch mit berstender Energie gespielt. Zudem textlich auf höchstem Niveau, was man in der Gesamtwerk-Sammlung „Kniha Prání A Stížností“ nachlesen kann, das sie bei Malarie Records auf drei CDs verpackt als Gäste- und Beschwerdebuch veröffentlichten. Wobei man dort neben diesem Nachzügler, der endlich zu Studiobedingungen eingespielt werden konnte, auch Live- und Demoversionen findet, darunter Coverversionen von Stücken der RESIDENTS. Mit denen die Band (bei der die drei Ur-F.P.B.-Mitglieder zum Zeitpunkt der Aufnahme dieser LP längst spielten) später dann als UŽ JSME DOMA sogar kooperieren sollte: Der tschechische Prog-Punk-Sonderweg!

ARMIA „Legenda“ (LP, Wifon, 1991)

Uneingeschränkt ganz weit oben in der audiobiografischen Top Ten. Hartkernige und Metal-bewehrte polnische Punk-Gewalt mit entsprechender Vorgeschichte (SIEKIERA) trifft Gothic-ähnliche Ästhetik. Als hätten DISCHARGE mit DEAD CAN DANCE fusioniert oder die DEAD KENNEDYS der „Frankenchrist“- mit den SWANS der „Children Of God“-Ära, unter Beihilfe von KILLING JOKE. Gebrüllte Poesie, mit Rimbaud- und Beckett-Zitaten, mystisch aufgeladen, stürmend und drängend auf Langwalz-Hymnen mit Waldhorn, Flöten oder Akustikgitarre in einem effektreichen Breitband-Sound. ARMIA wurden später, nach Abgang des musikalischen Kopfes und Produzenten Robert Brylewski (zuvor KRYZYS/BRYGADA KRYZYS) übrigens offensiv katholisch, obwohl ein Großteil der Band parallel auch bei den apokalyptischen Reggae-Rockern IZRAEL spielte. Das scheinbar Unvereinbare tanzt hier genialisch-verrückte Konstellationen.

VÁGTÁZÓ HALOTTKÉMEK/RASENDE LEICHENBESCHAUER „A Világösztön Kiugrasztása/Jumping Out The World-Instinct“ (LP, Sonic Boom/Alternative Tentacles, 1991)

1975 als Proto-Punk geboren, in Ungarns Underground der Achtziger aufgeblüht und schließlich international erstrahlt wie eine neue, alles verzehrende Sonne. VHK, so die Band in kurz, sind Raserei praktizierender Astro-Schamanismus mit szientistischer Expertise und zugleich entflammte Esoterik. Mit Kesseltrommeln, Wolfsgeheul, fiesen Flöten, vor allem aber geballter Kraft jenseits des Rock – dessen Mittel man sich lediglich bedient, um transzendentale Trance mit anti-zivilisatorischem Wüten anzurühren. Live unbarmherzig und keine Distanz (außer totaler) zulassend – wie hier zu hören als in Mannheim live eingefangener Wahn. Mastermind Attila Grandpierre taumelte zuletzt allerdings leider vom derartig avisierten Ur-Folk mit Béla Bartók-Bezug in die magyarische Grauzone zum Eso-Völkischen auserwählter Hunnen-Abkömmlinge, besinnt sich aber hoffentlich wieder.

JEGOR I OPISDENEWSCHIJE „Sto Let Odinotschestwa“ (2LP, GrOb, 1992)

„Hundert Jahre Einsamkeit“ heißt dieses ungewöhnlich psychedelisch designte und auch um solche Sound-Elemente bereicherte, vor allem aber irrsinnig intensive und von höchster emotionaler Dringlichkeit durchzogene Meisterwerk von Jegor Letow. Das kaufte ich mir auf Empfehlung von Villu Tamme 1995 in Tallinn in einem russischen Laden, ohne irgendeine Ahnung von sibirischem Punk zu haben. Dessen Hauptprotagonist war Letow zweifelsohne mit den 1984 in Omsk gegründeten GRASCHDANSKAJA OBORONA, der aber zur Zeit des Einkaufs auch gerade zum wichtigsten Subkultur-Unterstützer der frisch gegründeten National-Bolschewisten wurde. Wie so oft im realen wie imaginierten Osten: zu erkundende Widersprüche galore!