CRETIN

Foto

Grind-Prosa

2006 erschien das erste CRETIN-Album „Freakery“ auf Relapse, danach war acht lange Jahre nichts von der Band aus San Jose, CA zu hören, deren Mitglieder allesamt in weiteren Bands aktiv sind – zu nennen wären da zum Beispiel REPULSION, EXHUMED, LIBERTEER und CITIZEN. Vor der Veröffentlichung ihres Debüts hatte es ähnlich lange gedauert, bis man sich überhaupt ins Studio begeben hat und die ersten Songs aufnahm. Matt Widener, Bassist und kreativer Kopf von CRETIN, erzählte uns, wieso es so lange bis zum neuen Album „Stranger“ gedauert hat.

Matt, acht Jahre zwischen zwei Alben sind eine verdammt lange Zeit. Was war der Grund dafür?


Wir haben uns niemals aufgelöst, die Band befand sich lediglich in einer Art Winterschlaf. Wir verfolgen keinen Zeitplan. Vielmehr setzen wir uns zusammen und beginnen zu arbeiten, sobald wir spüren, dass wir wieder etwas machen sollten. In den vergangenen acht Jahren haben wir alle an unseren Karrieren gearbeitet, uns um die Familie und das Privatleben gekümmert. Irgendwann aber fehlten einem die anderen Bandmitglieder, das Kämpfen für eine Band und das Proben.

Kann man bei CRETIN noch von einer Band sprechen oder ist es lediglich ein Projekt?

Derartige Bezeichnungen bedeuten mir rein gar nichts. Ich bin es gewohnt, diesen Begriff allenfalls für Zweitbands zu benutzen, allerdings unterhält ja jeder mittlerweile unzählige Bands. Da stellt sich einem schon die Frage, welche eigentlich die Hauptband ist, wenn alle Projekte ebenfalls bei Labels untergebracht sind und Platten herausbringen. Ich nenne es lieber einfach Musik. Deswegen kann ich auch nicht sagen, ob es jemals einen Nachfolger zu „Stranger“ geben wird; wir haben in dieser Richtung keinen Plan, weil wir eben niemals etwas planen.

Gibt es denn vielleicht den Plan, in Zukunft einmal in Europa zu spielen?

Wir würden gerne mal in Europa spielen, es wäre sicherlich toll, auf einigen Festivals aufzutreten. Diesbezüglich liegt auch etwas in der Luft. Im letzten Jahr waren wir auf Tour und es hat sehr viel Spaß gemacht, allerdings gehen wir alle normalen Berufen nach und es ist verdammt schwierig, das zu koordinieren. Aber einige Festivals in Europa sollten machbar sein.

Lass uns über das neue Album sprechen. Die Wurzeln sind nach wie vor unverkennbar, aber „Stranger“ klingt im Vergleich zum Vorgänger aufgeräumter und der Sound ist etwas wärmer. Mit welchen Überlegungen seid ihr an die Platte herangegangen?

Marissa und Col wollten eine sauberere Produktion, damit die Riffs einfach deutlicher erkennbar sind. Ich war ohnehin offen für alles. Zur gleichen Zeit kam Col damit an, dass er keinen modernen Drumsound wolle – also keine Produktion, in der nahezu alles durch Samples ersetzt wird und dadurch nur noch unecht klingt. Er bevorzugt einen natürlichen Achtziger-Sound mit gemäßigten Toms und behutsamer Kompression, der vornehmlich über die Raummikrofone aufgezeichnet wird. Insgesamt ist die Produktion demnach wirklich recht aufgeräumt, aber sie klingt nicht besonders zeitgemäß, denn der komplette Schlagzeugsound erinnert stark an viele gut produzierte Alben aus den Achtzigern. Das übergeordnete Ziel war die Entwicklung des Sounds. Wir haben den Grind mit mehr Death Metal angereichert, einige griffige Riffs hinzugefügt, wobei wir genau wussten, wohin wir wollten. Uns ging es auch darum, keine Hörer beispielsweise durch eine schlechte Produktion zu befremden oder zu verunsichern. Wenn man nämlich Grindcore spielt und dabei eine grausige Produktion als Ausdruck besonderer Extremität versteht, muss man keine guten Riffs schreiben. Einige Grind-Bands machen das so und es funktioniert, wir aber wollen unsere Riffs hören können.

Als ich damals das Artwork von „Freakery“ sah, dachte ich zunächst: „Meine Güte, ein HipHop-Album!“ Euer neues Albumcover erweckt diesen Eindruck zwar nicht mehr, allerdings ist trotzdem ein gemeinsamer Nenner sichtbar. Welche Beziehung existiert zwischen den beiden Motiven und welche zwischen den Bildern und eurer Musik?

Beide Alben haben ein Cover, das die Songs illustriert. Bei „Freakery“ war es etwas repräsentativer und prosaischer, wohingegen es bei „Stranger“ ein wenig abstrakter ist. Wir wollten dem Album eine etwas ernsthaftere Form geben, und zwar diesmal sowohl über unsere Texte als auch über das Artwork. Zudem war es uns wichtig, ein zeitgenössisches Gemälde zu verwenden; wir besuchten meinen Freund Emerson Murray, ein fantastischer Künstler, der seine eigene Interpretation meiner Texte auf die Leinwand gebracht hat. Auf mich wirkt das Ganze wie ein Kunstbuch, die Bilder machen mich richtig glücklich. Ich habe sie hauptsächlich aufgrund ihrer Farben ausgesucht.

Deine anderen Bands, LIBERTEER und CITIZEN, setzen sich in ihren Texten häufig mit sozialen und politischen Umständen auseinander. Die Texte bei CRETIN sind anders, gerade im Vergleich zu den meisten anderen Grindcore-Bands, die entweder blutrünstige Storys erzählen oder politische Statements rausbrüllen. Ihr erzählt eher kleine Geschichten. Was inspiriert dich dazu und wie entscheidest du, welche Geschichte zu welchem Song passt?

In erster Linie lasse ich mich von Literaten wie Franz Kafka, Samuel Beckett, Thomas Bernhard, Raymond Carver inspirieren. Ich versuche ständig, mich als Autor zu verbessern und ich schreibe wirklich gern. Die meisten Bands verarbeiten abstrakte Geschichten in ihren Texten, ohne konkret Ereignisse oder Charaktere. Ebenso sind diese Texte zumeist der Zeit enthoben und nur ein bestimmter Moment wird beschrieben. Ganz typisch ist, dass Songwriter eben über allgemeine Befindlichkeiten oder bestimmte Zustände schreiben; zum Beispiel Songs über Verlust oder Liebe, die der Verarbeitung eben jener Gefühle dienen. Allerdings ist dieses Prinzip nicht sonderlich effektiv, sonst würden die Texte bei gewöhnlicher Popmusik vermutlich auch ernster genommen werden. Geschichten erzählen von Bewegungen, von der Zeit, Figuren müssen sich in der Zeit entwickeln. Die unzähligen Wahlmöglichkeiten, denen jeder Mensch ausgesetzt ist, machen ihm auch Angst, und diese Angst wiederum treibt ihn zu weiteren Wahlmöglichkeiten, das ist das Abbild des Menschseins. Was wird passieren? Das ist doch die entscheidende Frage, aus der sich eine wirkliche Geschichte ergibt. Der Großteil der Musik stellt sich allerdings derartigen Fragen gar nicht. Eine Ausnahme bildet hier allerdings die Countrymusik. Sie erzählt manchmal tolle Geschichten mit spannenden Charakteren. Ich habe schon viele Country-Songs gehört mit zum Teil grauenhafter Musik, die aber eine großartige Geschichte erzählen, die mir eine Gänsehaut bereitet hat. Wir sind nun mal Menschen, unser Denken läuft nach bestimmten Mustern ab, wir verarbeiten unser Leben in den Kategorien einer erzählten Geschichte. Daher ist es unglaublich schade, dass nicht mehr Musik diesem Muster folgt. Ich habe Geschichten geschrieben und sie an die Musik angepasst. Wenn man sich Zeit nimmt und die Texte liest, wird man feststellen, dass „Stranger“ wie ein kleines Buch mit Kurzgeschichten ist.

Auch wenn das Leben an sich bestimmt eine große Inspirationsquelle ist, so beschäftigt sich doch fast ein jeder, der kreativ arbeitet, auch mit anderer Kunst. Was war es bei dir während der Arbeit an „Stranger“?

In meiner Freizeit höre ich vornehmlich klassische Musik. Mahler ist mein Lieblingskomponist; allerdings beschäftige ich mich auch mit zeitgenössischer Musik, zum Beispiel interessieren mich die Ideen hinter der Spektralmusik. Während der Arbeit an „Stranger“ habe ich aber auch viel Doom gehört. Ich habe mir nicht auferlegt, irgendwas Bestimmtes hören zu müssen, so hatte Doom zum Beispiel auch keinen Einfluss auf die Arbeit, da bei CRETIN für derartige Einflüsse einfach kein Platz ist. Alles, was ich während der Arbeit las, bekomme ich ohnehin nicht mehr zusammen, schließlich war es ein Zeitraum von beinahe drei Jahren. Ich kann auf jeden Fall sagen, dass ich europäische Literatur sehr schätze; die amerikanische Gegenwartsliteratur hingegen interessiert mich weniger, sie ist mir mitunter auch zu frivol. Eines meiner Lieblingsbücher ist definitiv Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Lesen war mich einfach immer schon extrem wichtig, ich bin nicht der Typ, der einfach nur abhängt.