OlIVER „KLEISTER“ SCHMID

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Ein Nachruf

Als ich das erste Mal bewusst auf Kleister traf, war für jeden offensichtlich, woher sein Spitzname stammte, denn zu dieser Zeit trug er noch einen Irokesenschnitt, der aufgrund seiner Höhe nur mittels Klebstoff zu bändigen war. Trotz Nietenpanzer auf der Lederjacke weckte er im Gegensatz zu den meisten anderen Bewohnern vom „Haus“ in der Hauptstätter Straße in Stuttgart sofort mein Interesse, denn er bekam etwas gebacken und hatte mit seinem Ossessione-Fanzine auch etwas zu sagen, das in Ansätzen schon hätte erahnen lassen können, was er später mit seinem Label alles auf die Beine stellen würde.

Nach einem Platzregen, der die schädliche Kombination von Haupthaar und Tapetenkleister offenbarte, wich der Kamm zunächst einem Kahlschlag, der sich über die Jahre dann zu den Dreads auswuchs, mit denen die meisten Leute ihn kennen gelernt haben dürften. „Kleister“ dagegen blieb erhalten.


Nach Jahren in Bremen, Berlin, Frankfurt und Touren in der halben Welt, verschlug es ihn wieder zurück in die Nähe von Stuttgart, in ein kleines Nest namens Renningen, wo er in einem alten Fachwerkhaus seine Grafikdienstleistungsfirma Repro Desaster und sein damals noch kleines Label „Skuld“ („ist schuld“), betrieb, das sich zu einem der wichtigsten im weltweiten Crust- und Anarchopunknetzwerk entwickeln sollte. Skuld-Releases zeichnete sich von Anfang an durch besonders hohe Qualitätsansprüche an Musik, Aufmachung sowie Artwork aus und trug mit seinen Veröffentlichungen maßgeblich zur Sozialisation vieler Leute bei.

Was die Auswahl der Bands anging, hatte Kleister stets eine klare Vorstellung davon, was er machen wollte und was nicht. Faule Kompromisse waren nie eine Option, denn bevor er etwas herausbringen sollte, hinter dem er nicht voll und ganz stehen konnte, machte er es lieber gar nicht, ganz egal, wie gut die Absatzaussichten auch aussehen mochten. Totenköpfe auf den Covern? Können andere machen!

Neben dem US-Label Profane Existence, mit dem es eine jahrelange Kooperation gab, prägte er maßgeblich das Bild der Crust- und D.I.Y.-Szene der Neunziger. Hätte es ein Motto gegeben, es hätte gelautet: „Ganz oder gar nicht“. Sämtliche Schritte bis zur fertigen Platte waren D.I.Y. in Reinkultur. Eine freundschaftliche Beziehung über alle Entstehungsschritte bis hin zum Presswerk waren ihm immer wichtiger als Profitmaximierung. Was andere nur predigten, lebte Kleister bis ins Mark, ohne darüber große Worte zu verlieren. Das unterschied ihn auch von vielen anderen Labelmachern, die nur zu gerne über die neue Platte oder eine angesagte Band reden, die sie demnächst machen würden. Kleister machte einfach. Die Bands waren Freunde, keine Geschäftspartner, und das kleine Haus in Renningen für viele ein fester Bestandteil ihrer Europatour. Die Tür stand immer offen, wobei die Wahrscheinlichkeit, dort nicht nur Kleister, sondern auch ein paar Musiker auf der Durchreise anzutreffen, über die Jahre hinweg durchweg sehr hoch war.

Es war im Hinterhof der Scheune in der Malmsheimer Straße, in dem sich die Keimzelle das erste Mal konspirativ traf, die kurze Zeit später mit dem Plot-Fanzine für eine unerwartete Resonanz sorgen sollte. Seinen Lieblingsspruch „Drink and be merry“ tauschte er gegen eine abstinente, gesunde Ernährung ein. Wer einmal das Glück hatte, von ihm bekocht zu werden, wird sich daran erinnern, dass er auch das sehr gut konnte.

Mit seinem Rückzug ins Privat- und Familienleben nach 2002 entdeckte er ein neues Hobby: das Aufspüren und Sammeln von Ammoniten. Auch hier handelte er entsprechend seiner Maxime und erwarb sich unter Fossilienjägern recht schnell einen sehr guten Ruf als Experte mit einem extrem guten Riecher. Neben seiner Rolle als Vater, Familienmensch, Betreiber von Skuld-Releases, das bis zuletzt hochwertige Platten veröffentlichte, der Reproherstellung und dem Großhandel, verbrachte er viel Zeit in alten Steinbrüchen auf der Suche nach Fossilien aller Art. Hierbei verunglückte Kleister am 30. Mai 2015 tödlich. Er hinterlässt eine zwölfjährige Tochter, seine Lebensgefährtin, seine Eltern und eine riesige Lücke, die nicht zu schließen sein wird.