BLONDIE

BLONDIE waren (und sind!) eine der besten Pop-Bands aller Zeiten. Ich hoffe mal, dass es unter den Leserinnen und Lesern dieses Heftes niemand gibt, der nicht mit Überhits wie "Call me", "Hanging on the telephone" - übrigens "nur" eine Coverversion, im Original ist der Song von den NERVES (wer hat diese Platte- ich will sie haben und ich bezahle mit meiner Seele, andi) -, "Atomic", "Heart of glass", "Rapture" oder "Dreaming" vertraut ist - sämtlich Songs, die alle Ansprüche erfüllen, die man an einen perfekten Pop-Song stellt. Doch so sehr BLONDIE, die ihre Hoch-Zeit zwischen 1977 und 1982 hatten, seinerzeit auch Teil des Pop-Mainstreams waren, so ist es doch eine Tatsache, dass die im Sommer ´74 gegründete Band ihre Wurzeln in der gerade im Entstehen begriffenen Punkszene von New York City hat. Von dieser Punk-Connection zeugen bis heute unzählige von Punkbands gespielte Coverversionen, und auch was Äusserlichkeiten anbelangt haben BLONDIE respektive ihre blonde, strahlende Frontfrau Debbie Harry (die übrigens u.a. auch in den Filmen "Videodrome" und "Hairspray" mitspielte) nicht wenige Bands bzw. Sängerinnen beeinflusst. Nach über 15 Jahren, in denen man getrennte Wege ging, haben BLONDIE dieser Tage beinahe in Originalbesetzung wieder ein neues Album veröffentlicht. Ich sprach am Tag nach dem Konzert im Docks in der feinen Suite eines Hamburger Hotels mit Clem Burke (Drums), Chris Stein (Gitarre) und Debbie Harry (Gesang), übrigens allesamt sehr sympathische Interviewpartner.

BLONDIE, das ist bzw. war eine sehr erfolgreiche Popband, doch die Wurzeln liegen in der Punkszene des New Yorks der Mittsiebziger.

Chris: Wir haben uns immer als Popband verstanden und wollten nie auf den Status einer Punkband reduziert werden. Damals war Punk ein Trend, auf den viele aufgesprungen sind, weil es ihnen die Möglichkeit gab, ihrer Musik einen Namen zu geben. Das hatte so einen Sensationscharakter. Als damals das "Punk"-Magazin erschien - ich erinnere mich noch genau daran, wie plötzlich überall Flyer hingen, auf denen stand "Punk is coming!" - wusste niemand, was das sein sollte, und die meisten dachten, es wäre nur eine weitere neue Band mit einem dämlichen Namen. Es stellte sich dann heraus, dass es ein Fanzine ist, das letztendlich gar nicht so übel war.

Clem: Wir gründeten BLONDIE Mitte der Siebziger und waren damals vor allem von den NEW YORK DOLLS inspiriert, aber auch den SHANGRI-LAS und VELVET UNDERGROUND.

Chris: Und dann war damals auch noch Glitter-Rock angesagt, wobei ich mir jetzt aber nicht mal sicher bin, ob dieser Ausdruck nicht erst nach Punk benutzt wurde.

Debbie: Natürlich, Glitter gab es schon vorher.

Clem: Der Übergang von Glitter zu Punk war fliessend. Es gab seinerzeit in New Yorks Lower East Side einen Laden namens "Club 82", das war ein Glitter-Rock-Club, in dem die NEW YORK DOLLS permanent spielten. Um die Ecke war auch gleich das CBGB´s, und es fand zu dieser Zeit einfach ein "Wachwechsel" statt von Glitter- zu Punkrock. Das war 1974/75. All die Musikfans und Musiker wanderten damals vom Club 82 zum CBGB´s ab. Der Name CBGB´s steht übrigens für "Country, Bluegrass and Blues", der Zusatz OMFUG für "and other music for urban gourmets".

Chris: Interessant ist, dass dem 82-Club in den Annalen der Musikgeschichte nicht viel Aufmerksamkeit eingeräumt wird, weil es ein kleiner Laden war, in dem vor allem Leute von Bands abhingen. Dabei ist er sehr wichtig gewesen für das, was danach kam. Eigentlich war es ein Drag-Queen-Club, der von Lesben geführt wurde, und dementsprechend bunt war auch diese Szene. Der Laden hatte damals schon eine ziemlich schillernde Vergangenheit, so hingen an den Wänden Fotos von Abbot und Costello mit irgendwelchen Drag-Queens.

Auf Munster Records ist unlängst in Zusammenarbeit mit dem Red Star-Label ein Sampler mit dem Titel "Songs of the naked city" erschienen, auf dem sich neben BLONDIE Bands wie FLESHTONES, NEW YORK DOLLS, RAMONES, THE REAL KIDS und SUICIDE finden, also durchweg Bands, die zu der Gründergeneration des Punks in New York gehörten.

Chris: Ich kenne den Sampler zwar nicht, aber klar, Red Star, das ist das Label von Marty, der damals auch Manager der NEW YORK DOLLS war.

Clem: Marty Thau war damals der wichtigste Förderer von BLONDIE, der half die Band zusammenzustellen und einen Plattenvertrag zu bekommen. Er war damals, wie Chris schon sagte, der Manager der NEW YORK DOLLS und hatte den Ruf, ein echter Profi zu sein, ein Visionär, der auch am Erfolg von SUICIDE beteiligt war. Und auch für uns war er von sehr grosser Bedeutung.

Chris: Er war wirklich ein Visionär, aber nicht bereit, über Leichen zu gehen, weshalb ihm der grosse Erfolg verwehrt blieb. Er hatte einfach nicht diesen Killer-Instinkt, den man in diesem Business braucht.

Clem: Für uns hatten Bands wie die RAMONES, TELEVISION, TALKING HEADS oder Patti Smith damals Vorbildfunktion, das war die Szene, in der wir uns bewegten.

Chris: Und eben diese Glitter-Bands, wobei man die natürlich von den Spandex-Bands unterscheiden muss; Bands wie KID BLAST...

Debbie: ...TEENAGE LUST...

Chris: ...ANOTHER PRETTY FACE - erinnert ihr euch noch an die? Da dachte jeder, die würden richtig gross, aber es wurde nichts draus. In gewisser Weise waren sie die Vorboten von Bands, die erst viel später kamen, du weisst schon, diese ganzen "Hair"-Bands, schwarzes Leder, lange Haare und so, Bands wie GUNS´N´ROSES, dieses L.A.-Rockding. Man muss auch sehen, dass in diesen frühen Tagen des CBGB´s dort unzählige verschiedene Stilrichtungen vertreten waren, man sich heute aber fast nur noch an die Punksachen erinnert.

Punk, das sollte man an dieser Stelle vielleicht mal erwähnt werden, war damals viel mehr als nur Lederjacken und bunte Haare.

Clem: Richtig, denn die amerikanische Punkszene unterschied sich damals gewaltig von der in England. Punk in den USA war nicht so eindimensional, das umfasste eine viel grössere stilistische Bandbreite: nimm BLONDIE, TELEVISION und die RAMONES, das waren drei ziemlich verschiedene Bands, während Punk in England vor allem die RAMONES wahrnahm und sich an denen orientierte.

Chris: Dabei waren die RAMONES selbst ja eine sehr pop-orientierte Band. Für mich waren die immer in weit geringerem Umfang eine reine Punkband als beispielsweise 999 oder diese anderen, fuck, wie hiessen die doch gleich?

Clem: CLASH? BUZZCOCKS?

Chris: Nee, shit, mir fällt der Name grade nicht ein. Jedenfalls waren die RAMONES musikalisch ein ganz anderes musikalisches Kaliber als diese britischen Bands, orientierten sie sich doch zu einem guten Teil am Rock´n´roll der Fünfziger, der wiederum ein wichtiger Einfluss für Phil Spector war.

Clem: Ausserdem waren die RAMONES grosse BAY CITY ROLLERS-Fans, von denen haben sie nämlich dieses "Hey-ho, let´s go!".

Chris: Ja, genau, und sie waren auch grosse Surfmusik-Fans. So, jetzt ist mir auch endlich die Band eingefallen, die ich eben meinte: SHAM 69. Dieses grölige, grobe Element, das machte für mich Punk aus.

Und was war eure Herangehensweise?

Chris: Keine bestimmte. Uns ging´s einfach drum, was zu machen, Musik zu machen. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum wir so viele Bands überlebt haben: Wir haben uns nie auf einen Stil versteift. Am meisten bewunderte ich damals allerdings David Bowie und die ROLLING STONES, und generell Bands, die ihr eigenes Ding machten, die sich nicht selbst Beschränkungen unterwarfen. LED ZEPPELIN etwa interessierten mich überhaupt nicht, die waren musikalisch so beschränkt. Und ich denke, es war diese Eigenständigkeit, die BLONDIE so lange hat überleben lassen. Im Laufe der Jahre haben wir dann sicher unseren Stil definiert, aber alles in allem sind bzw. waren wir eine Popband, hielten wir uns von Kategorisierungen wie Punk fern.

In einem Musiklexikon werden BLONDIE als "punk´s first pop crossover" bezeichnet - trifft´s das?

Debbie: Ja, das ist eine gute Beschreibung.

Chris: Das ist gut, ja. Übrigens fällt mir dazu ein, dass heutzutage sehr viele Interviews mit der Frage beginnen, wann, wie und wo sich eine Band gegründet hat. Damals jedoch lautete die erste Frage "Seid ihr eine Punkband?", und wir antworteten "Nein, wir sind eine Popband".

Clem: Pop war damals einfach schon bald subversiver als Punk, auch wenn das jetzt paradox klingt. Punk war eine homogene Sache, die musikalisch nicht viele Möglichkeiten offen liess. Pop dagegen war viel offener, das umfasste die verschiedensten Arten von Musik - du kamst einfach mit anderen Sachen durch, wenn du dich als Popband bezeichnet hast. So kamen wir etwa dazu, später Rap-Elemente zu verwenden. Wir waren nie ein Fall für musikalische Scheuklappen - und ich finde, das ist letztendlich subversiver als mit einem Musikstil völlig konform zu gehen.

Ich denke, es macht es einfacher kreativ zu sein, wenn man sich nicht von vorne herein engen stilistischen Grenzen unterwirft.

Chris: Ja, genau. Solche Beschränkungen sind nichts für mich, ich war schon immer jemand, der gerne macht, wozu er gerade Lust hat. Wie schlimm muss es sein in einer Band zu spielen, in der neue Ideen mit dem Argument abgebügelt werden, dass dies oder das nicht zum Stil der Band passe.

Zu BLONDIE fallen mir zwei weitere Pop-Bands ein, nämlich die BANGLES und die GO-GOS, auch wenn ihr nie eine Frauenband wart.

Chris: Seht ihr? Der hat auch diese Assoziation! Wir hatten erst vorhin eine Diskussion genau darüber, welche Band wen beeinflusst. Clem hält nämlich die GO-GOS für eine einflussreichere Band als die BANGLES, während ich sie auf einem Level sehe.

Clem: Ja, und weisst du auch warum? Die GO-GOS waren die erste Frauenband, die ihre Songs selbst geschrieben und gespielt hat und einen Nummer 1-Hit hatte. Sie waren in dieser Hinsicht sehr innovativ, in musikalischer Hinsicht allerdings weniger, denn von ihrem Grundschema wichen sie so gut wie nie ab. Mit unserem alten Produzenten Richard Gottehrer gibt es da sogar eine Connection, denn er produzierte auch die GO-GOS.

Debbie: Was ist denn mit den RUNAWAYS? Die muss man doch bei dem Thema auch erwähnen.

Chris: Ja, aber die haben ihre Songs nicht selbst geschrieben. Doch klar, die haben schon ihren Beitrag zum Genre der Frauenbands geleistet, auch wenn sie wie die SPICE GIRLS eine Kunstband waren.

Clem: Und musikalisch machten sie auch was völlig anderes.

Chris: Oh ja - ihr Sound basierte auf traditionellem "Cock-Rock.

Um auf BLONDIE zurückzukommen: ich musste feststellen - und der Besucheraltersdurchschnitt beim Konzert gestern, der deutlich über 30 lag, spricht da schon Bände -, dass Leute unter 20 BLONDIE oft nur daher kennen, weil eure Songs ziemlich oft gecovert werden.

Chris: Das ist doch gut, schön, damit habe ich kein Problem. Kennst du "Southpark", diese Fernsehserie? Die ganzen Kids kennen Isaac Hayes nur von seiner Rolle dort, weil er einer Figur dort seine Stimme leiht. Und das ist schon irgendwie ironisch. Mit uns ist das nicht anders: da kennen die Kids eben die Remixe unserer Songs oder ´ne Coverversion, aber nicht das Original. Das ist schon eine seltsame Vorstellung.

Clem: Wir kommen gerade aus London, wo uns vom Q-Magazin eine Auszeichnung für den inspirierenden Charakter unseres Schaffens verliehen wurde. Ich finde das sehr schön, und es ist eine angenehme Vorstellung, dass wir womöglich eine ganze Menge Bands beeinflusst haben - wenn uns jemand covert, ist das wohl ein Indiz dafür.

Chris: Irgendwie stimmt mich das alles aber auch nachdenklich: Was halten die Kids denn dann von den BEATLES? Ist das für die nur Aufzugsmusik? Halten die das gar nicht mehr für Rock´n´roll?

Ich denke, die BEATLES und die ROLLING STONES sind allgegenwärtig, an denen kommt doch eigentlich niemand vorbei. BLONDIE dagegen muss man aktiv entdecken bzw. wiederentdecken, das ist der Unterschied. Aber um auf den Altersdurchschnitt eures Publikums zurückzukommen...

Chris: Ja, woran lag das? Ist die Szene hier so oder lag´s daran, dass das Konzert recht spät anfing? Oder waren das alles unsere Fans?

Hm, ich denke mal, das sind genau die Leute, die sich heute noch für BLONDIE interessieren.

Chris: Ja, aber wir sind doch noch eine Generation älter als die meisten. Aber wahrscheinlich sind es die Leute, die mit uns aufgewachsen sind. Ich denke aber doch, dass mit dem neuen Album auch die Jüngeren sich für uns interessieren werden. Andererseits bin ich mir nicht sicher, wie sich MTV uns gegenüber verhalten wird: dort wird heute schon ein extremer Jugendkult gepflegt, und ich weiss echt nicht, ob die uns da überhaupt spielen werden. Kids wollen eben andere Kids sehen, so ist das nun mal. Nun, wir werden sehen. Es könnte jedenfalls sein, dass wir noch nicht alt genug sind, um wieder für richtig cool gehalten zu werden, hehe. Womöglich müssen wir alle erst die sechzig überschreiten, damit wir ein Image wie John Lee Hooker haben. Es werden also wohl noch weitere 15 Jahre vergehen müssen, damit man uns akzeptiert - und dann werden auch die ganzen fünfzehnjährigen Kids auf uns stehen.

BLONDIE waren immer eine Band, bei der Debbies Image als strahlend schöne Frontfrau eine zentrale Rolle spielt. Wie wichtig ist bzw. war das für euch?

Chris: Die Sache mit Debbie ist die: in der Zeit, als wir anfingen, war es noch nicht selbstverständlich, dass eine Frau in einer Rock´n´roll-Band singt. Heute dagegen wird das als selbstverständlich angesehen, damals war es das absolut nicht: Rock´n´roll war Männersache. Schon von daher war es ein starkes Zeichen, dass wir mit Debbie eine Frontfrau hatten. Ausser ihr gab es damals nur zwei, drei vergleichbare Frauen.

Debbie: ...und die habe ich umbringen lassen.

Chris: Debbie hatte eine sehr aggressive Herangehensweise, das war neu, anders, ungewohnt. Bis dahin war das mit Frauen in der Rockmusik immer so eine Bewusstseinssache: Frauen wie Janis Joplin waren immer irgendwie Opfer. Debbie dagegen spielte als Frau die Rolle eines Mannes, hatte die Position eines Mannes inne, und das sorgte für jede Menge Kontroversen. Ehrlich, das war so, nur erinnert sich heute kaum noch jemand, wie vehement wir in unserer Anfangszeit kritisiert wurden. Zum Beispiel dafür, dass Debbie mal als Playboy-Bunny quasi ihre Sexualität verkaufte. Diese Kritik war natürlich völliger Bullshit, aber sie war da.

Clem: Wir hatten grosses Glück, eine Sängerin wie Debbie zu finden. Im Rock´n´roll-Business dreht sich eben sehr viel um das Image, und es ist mühsam zu erkennen, was sich unter der Oberfläche befindet. Das Image allerdings hat uns geholfen, dahin zu kommen, wo wir heute stehen, also...

Chris: Es gibt auch Leute, die behaupten, ohne die langen Haare hätte sich niemand für die BEATLES interessiert. Wer weiss...

Debbie: Mir persönlich haben die ganzen Äusserlichkeiten, der ganze Showbiz-Aspekt meiner Position bei BLONDIE immer sehr gut gefallen, aber meine wirkliche Motivation war die Musik. Ich hatte immer ein ehrliches Interesse an der Musik, ich spielte nie nur eine monströse Rolle.

Chris: Das Image von Debbie war für uns absolut zweitrangig, ganz klar.

Debbie: Was nicht heissen soll, dass ich nicht grossen Spass hatte an meiner Rolle. Warum auch nicht? Ich bin eine Frau, I´m a girl, es macht Spass sich herauszuputzen. Das Showbusiness, der Glamour, das machte einfach Spass, auch in kreativer Hinsicht. Das hätte ich aber auch haben können, wenn ich zum Theater gegangen wäre. Nein, ich wollte in einer Band sein - das war mein Theater.

In gewisser Weise hast du mit deiner durchaus aggressiven Einnahme einer bislang rein männlichen Rolle ja auch Pionierarbeit geleistet für Generationen von Frauen nach dir - selbst für die Riot Grrrls.

Debbie: Ja, das sehe ich auch so.

Chris: Ich habe diese Riot Grrrl-Sache nicht so genau verfolgt, aber was ich etwa von Courtney Love und HOLE gesehen habe, fand ich durchaus gut. Mir gefällt, dass es irgendwie Protestmusik ist, die gesellschaftliche Zustände kommentiert.

Clem: Bei der Gelegenheit sollte ich vielleicht anmerken, dass wir damals niemand hatten, der uns geraten oder gesagt hätte, was wir tun und was wir lassen sollten. Debbie hat gemacht, worauf sie Lust hatte, sie war immer 100% sie selbst. Wir waren keine dieser Retortenbands. Trotzdem mussten wir uns nach unserem ersten Erfolg für vieles rechtfertigen, uns wurde unterstellt, wir wären gekünstelt. Erfolg, das lernten wir schnell, ist eine zweischneidige Sache und ruft immer auch Kritiker auf den Plan.

Chris: Künstler erwecken immer gerne den Eindruck, sie analysierten, was sie tun. Aber ich denke, die Analyse kommt immer erst hinterher, wenn bereits etwas geschaffen wurde. Nimm ein Bild: da wird analysiert. was da gemalt wurde, was gemeint sein könnte. Aber beim Malen denkt ein Künstler doch nicht daran, was hinterher andere darüber denken könnten. Genauso war es bei unseren Songs: wir haben die einfach so gemacht, ohne ihnen gleich eine bestimmte Bedeutung zuzumessen.

Wenn man mal den Vergleich zu heutigen Popstars zieht, dann fällt vor allem auf, dass BLONDIE immer "echt" waren, im Gegensatz zu dem ganzen Teenietrash von heute à la SPICE GIRLS.

Chris: Genau! Wie "echt" können die denn auch sein, wenn sowieso jeder weiss, dass die Mädels exakt für diesen Zweck zusammengesucht wurden? So eine Gruppe muss sich schon von Anfang an mit diesem Problem herumschlagen.

Clem: Ich finde, man sollte den Erfolg von Debbie nicht an ihrem Geschlecht festmachen: sie hat Talent, und damit wäre sie auch als Mann erfolgreich gewesen.

Chris: Ja, stimmt, denn was im Bereich der Popmusik geschieht, reflektiert nur die Vorgänge in der "normalen" Gesellschaft. Wenn Mick Jagger auf der Bühne sein T-Shirt auszog, warf ihm doch auch niemand vor, er verkaufe seine Sexualität - machte eine Frau wie Debbie das, hattest du sofort diesen Vorwurf. Das Rollenverständnis der Frauen hat sich natürlich stark geändert, aber Gleichheit zwischen den Geschlechtern besteht immer noch nicht: unsere Gesellschaft ist immer noch männerdominiert, das ist immer noch der gleiche Vorurteilsbullshit.

Dafür gibt es ein ganz aktuelles Beispiel, nämlich die Sache mit dem Alter: über alternde männliche Rockstars wie die ROLLING STONES zerreisst sich keiner das Maul, aber über eine alternde Popdiva wie Debbie Harry: Wie sieht die denn heute so aus, hat die viele Falten? Aber irgendwie ist das auch verständlich, denn in der Erinnerung der Leute lebt Debbie Harry so fort, wie sie vor 20 Jahren aussah.

Debbie: Es ist wohl einfach so, dass Frauen anders altern als Männer und sich dabei auch anders verändern. Das war schon immer ein "Problem", das ist für mich nichts neues. Was die Akzeptanz alter Frauen durch die Gesellschaft anbelangt, so ist das alles andere als ein neues Phänomen. Früher wurden alte Frauen als Hexen bezeichnet und verbrannt, während alte Männer als Weise galten - und in mancherlei Hinsicht hat sich da bis heute nicht viel geändert. Solche Vorurteile sind heimtückisch, sie sind in unser Bewusstsein eingebrannt und stellen die schreckliche Realität dar, mit der wir alle leben. Viel von diesem Vorurteil hat natürlich mit Religion zu tun, mit dem Christentum, ist somit menschheitsgeschichtlich eine ziemlich moderne Entwicklung. Man kann sich dieser ganzen Thematik natürlich bewusst sein und versuchen sich diesen Vourteilen zu entziehen, aber das eigene Denken wird doch immer wieder davon beeinflusst. Aber wer weiss, vielleicht kann uns die nahe Zukunft da schon eine Veränderung bringen.

Chris: Schau dir Hollywood an: in diesen Filmen siehst du ständig alte Männer, die mit jungen Frauen rummachen, etwa Walter Matthau, der Zwanzigjährige fickt und als grosses Sexsymbol gilt. Aber das ist doch völliger Blödsinn, kein alter Sack wie er wird je so eine junge Frau abbekommen. Sowas gibt´s nur im Film, das ist völliger Bullshit, da wird bewusst ein falsches Image aufgebaut.

Debbie: Für mich ist seltsam, dass mich am Rock´n´roll immer die Idee angezogen hat, dass man rebellisch sein und gesellschaftliche Standards durchbrechen konnte, ja musste. Heute dagegen ist Rock´n´roll so ein integraler Bestandteil des Alltagslebens, dass die Kids schon damit aufwachsen und eine vollkommen andere Sichtweise darauf haben. Und man muss schon ganz genau hinschauen und analysieren, warum das so ist, warum wer was getan hat bzw. tut. Ich stelle mir beispielsweise immer wieder die Frage, was die Kids von heute tun, um rebellisch zu sein, um Abenteuer zu erleben, um sich eine Nische in der Erwachsenenwelt zu schaffen. Wir hatten damals den Rock´n´roll, aber was haben die Kids heute? Oder brauchen die das nicht mehr, weil sie soviel Wissen und Information um sich haben, dass sie ihre Entscheidungen besser und einfacher treffen können? Ich weiss es nicht.

Chris: Ich stelle mir schon seit Jahren die Frage, ob es für mich als Kid heute überhaupt noch interessant wäre, in einer Band zu spielen, denn das ist doch totaler Mainstream. Daran ist nichts mehr gefährlich, es ist nicht mehr aufregend.

Debbie: Es ist alles so vorhersehbar, das ist es.

Chris: Genau. Womöglich ist es viel spannender ein Computerhacker zu sein. Immerhin ist das noch gefährlich und wird von den Erwachsenen ernst genommen. Rock´n´roll dagegen ist nicht mehr gefährlich, weist nicht mehr dieses Element von "mystery and excitement" auf, woran auch MTV mitwirkt: MTV hat dazu beigetragen, dass Rock´n´roll heute ein Hintergrundgeräusch für die Realität ist. Vor 15 Jahren wäre Rock´n´roll als Begleitmusik für einen Cornflakes-Werbespot nicht denkbar gewesen, heute ist das Standard. Früher war Rock´n´roll gefährlich, heute ist alles Rock´n´roll, es spielt keine Rolle mehr. Schau dir nur MARILYN MANSON an! Die werden einfach so hingenommen!

Ich wollte die eben ins Gespräch bringen.

Chris: MARILYN MANSON haben kein Bedrohungspotential mehr, das ist höchst erstaunlich: klar haben ein paar Eltern ihre Probleme damit, aber letztendlich sind MARILYN MANSON "sicher". ALICE COOPER dagegen war echt, der war gefährlich, da wurde den Kids verboten auf die Konzerte zu gehen.

Was ganz anderes: in einem Rocklexikon wird zur Herkunft des Namens BLONDIE was davon gefaselt, dass LKW-Fahrer Debbie hinterhergepfiffen und "Hey, Blondie!" gerufen hätten. Keine schlechte Erklärung eigentlich, aber andererseits ist da noch die Sache mit Adolf Hitlers Schäferhündin, die Blondie hiess...

Chris: ...und das ist auch der Grund, weshalb wir als "Geheimname" für die Band manchmal "Adolf´s dog" verwenden. Du bist einer der ersten Journalisten überhaupt, die uns darauf angesprochen haben, das heisst, wenn ich´s mir recht überlege, bist du sogar der erste. Keine Ahnung, warum darauf bisher noch niemand kam. Als Hitler damals in den letzten Kriegstagen mit Eva Braun im Berliner Bunker sass und sie beschlossen hatten, sich umzubringen, testeten sie das Gift am Hund.

Debbie: Blondie went first - sie musste als erste daran glauben.

Chris: Ja, Blondie musste als erste daran glauben, denn das Gift wirkte.

Debbie: Vielleicht wäre das ja auch ein neuer Name für uns: POISON TASTER. Oder nur TASTER.

Chris: Etwas abstrakt, aber gut. Mir ist übrigens aufgefallen, dass aus zwei Worten bestehende Bandnamen heute nicht mehr so angesagt sind, der Trend geht eindeutig zu nur aus einem Wort bestehenden Namen.

Und es gibt den Trend, eine Bandnamen mit "The" zu haben.

Chris: Da fallen mir natürlich THE THE ein. Dieser Name ist ein absoluter Klassiker: man muss sich mal vorstellen, dass da ein paar Typen ´ne Woche lang in ihrer Bude rumsitzen und über ´nen Bandnamen grübeln, und dann kommt dabei THE THE heraus. Das ist echt erstaunlich...

BLONDIE: es gibt ein neues Album und ihr befindet euch derzeit auf eurer Reunion-Tour. Wie kam´s dazu?

Chris: Erstmal muss ich sagen, dass ohne ein neues Album eine Tour für und nicht denkbar gewesen wäre. So spüren wir die Vibes wieder, und es ist echt ein grossartiges Gefühl. Clem hat erst zu mir gesagt, dass wir schon deshalb erfolgreich seien, weil wir es überhaupt geschafft haben, zusammen ein neues Album zu machen. Und ich stimme dem zu.

Debbie: Ich muss sagen, dass es mir viel mehr Spass gemacht hat diese Platte zu machen als unsere anderen. Ich finde, es ist eine sehr gute Platte geworden.

Wie kam´s zur Entscheidung BLONDIE wiederzubeleben?

Chris: Ich habe diesen Typen getroffen und er hat mich einfach überzeugt, es nochmal zu versuchen. Klar, in all den Jahren haben mich immer wieder mal Leute daraufangesprochen, aber ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, was das bedeuten würde, was es für Konsequenzen hätte. Aber mein Freund Harry hielt dann eine richtige Rede vor mir, appellierte theatralisch an mich, beschrieb detailliert, wie es sein würde, nach all den Jahren wieder auf die Bühne zu treten, und danach fing ich an, die Idee mit anderen Augen zu sehen.

Clem: Vor rund drei Jahren kam man mit der Idee auf uns zu, ein weiteres Compilationalbum zu veröffentlichen, für das wir ein oder zwei neue Songs einspielen könnten, und danach dann vielleicht eine Tour. Aber nachdem wir uns getroffen hatten, um darüber zu beratschlagen, war klar, dass das nur in Frage kommt, wenn wir wieder eine Band sind, und das bedeutete, neue Songs zu schreiben und wirklich wieder als Band zu arbeiten. Und jetzt sind wir richtig froh, dass wir das geschafft haben: für uns ist es einfach die nächste BLONDIE-Platte, die eben ein paar Jahre hat auf sich warten lassen. Echt, für uns war das wie eine lange Pause, es hat so gar nichts von einem Comeback. Und es ist uns sehr wichtig, dass wir neue Songs spielen können, denn allein mit altem Material auf der Bühne zu stehen, das wäre schon etwas plump gewesen. Allein mit ein oder zwei neuen Songs und einer "Greatest Hits"-Compilation im Gepäck wären wir uns ziemlich blöd vorgekommen, gerade dieser Tage, wo so viele sinnlose Reissues auf dem Markt sind.

Chris: Wir hatten auch zwei Songs, die die beiden Typen von DURAN DURAN für uns geschrieben hatten, aber die waren ziemlich klischeehaft.

Clem: Ja, wir waren für ein paar Songs mit Nick und Warren im Studio, damit aber nicht so ganz zufrieden.

Debbie: Die beiden sind gute Songwriter, aber wenn du einen Songs für jemand anderes schreibst und das darauf basiert, was du von dieser Band aus der Vergangenheit kennst, dann ist das ziemlich schwer. Die Songs waren nicht schlecht, aber das entscheidende Etwas fehlte. Es war also schon besser, dass wir selbst die Sache in die Hand genommen haben.

Clem: Es machte auch grossen Spass an den Songs zu arbeiten: wir hatten unser Equipment in Chris´ Keller aufgebaut und probten monatelang, einfach nur so, ohne den kommerziellen Aspekt im Kopf zu haben. Das machte Spass, es brachte uns als Band wieder zusammen, und demgegenüber hätte sture Studioarbeit einfach nichts gebracht. So haben wir die Platte selbst gemacht, und deshalb sind wir damit auch so zufrieden.

Danke für das Interview!