SANGESFREUNDE MARTINSVIERTEL

Foto

Immer lauter singen als der Nachbar

Bei einem der kostenlosen Festivals im Rhein-Main-Gebiet, die vor allem aufgrund der familien- und kinderfreundlichen Atmosphäre und des abwechslungsreichen Programms punkten, durfte ich den Darmstädter „Punkchor“ SANGESFREUNDE MARTINSVIERTEL erleben, dessen Repertoire das Herz eines jeden Punkrockers höher schlagen lässt. Mitgründerin Alex Welsch war so nett, mich mit der Philosophie des Chors vertraut zu machen.

Wer nun einen einheitlich herausgeputzten Chor von etwa zehn Männern und zwanzig Frauen erwartet, der irrt gewaltig. Hauptsache ist, sich zu trauen – stimmgewaltig und vor allem mit viel Spaß. Die Professionalität kommt beim einfach mal machen, auch wenn schon mal auf Alkoholika als kleine Hilfe zurückgegriffen wird. Wer will schon Nummern von Alternative-, Rock- und Punkbands wie DEAD KENNEDYS, FAITH NO MORE, TON STEINE SCHERBEN, NIRVANA, SYSTEM OF A DOWN oder TALKING HEADS als geschliffene Chorarrangements hören, um nur einen kleinen Ausschnitt des eigenwilligen Programms zu nennen.

Gegründet wurde der bunte Haufen 2011 von Alex Welsch und Torsten Jahr. Beide sind seit Jahren in diversen Punk- und Indie-Bands im Rhein-Main-Gebiet aktiv. Ihre Überzeugung: „Jeder kann singen, solange man sich von festgelegten Standards losmachen kann. Also haben wir zunächst im Umfeld Freunde und Bekannte angesprochen. Der Hinweis, dass sie darauf totalen Bock haben, aber eigentlich nicht singen könnten, war dabei schon fast ein Auswahlkriterium. Die musikalische Auswahl ist stark geprägt von unserer Musiksozialisation und dem Anspruch, möglichst viel Dynamik zu erzeugen und mit ungewöhnlichem Liedgut zu überraschen.“

Notenmaterial? Fehlanzeige. Die meisten Lieder, auf die man im Hinblick auf einen Chor zunächst nicht kommen würde, bringen Alex und Torsten ein. Und so wollen sie sich auch ganz bewusst von den modernen und „vermeintlich pfiffigen“ Popchören abheben, die in ihren Standards verhaftet bleiben. „Dahinter steckt durchaus ein subkultureller Kulturanspruch jenseits des Mainstreams, der auf Brüche setzt und überraschen will.“

Die Arrangements entwickelt Chorleiter Axel Heintzenberg – Musiker, Studiotechniker und auch musikalischer Leiter von diversen Chören und Produktionen – allein oder mit Torsten und Alex zusammen. Axels Leitspruch lautet: „Ihr müsst nicht unbedingt richtig singen, aber lauter als der Nachbar.“

Ein neues Stück hören sie sich gemeinsam an, Axel gibt Stimmen vor und jeder kann sich für eine davon entscheiden. So erarbeitet sich das Ensemble zusammen das Arrangement, meist ganz ohne instrumentale Begleitung.

Ich will von Alex wissen, ob das Repertoire einen ideologischen oder politischen Hintergrund hat. „In erster Linie müssen die Stücke gefallen, aber wir würden schon sagen, dass uns eine humanistische Grundhaltung eint, die eher links zu verorten ist. Die wütende Dynamik und die politischen Botschaften der DEAD KENNEDYS sind aus unserer Sicht absolut zeitlos. Der in dem von uns gecoverten ,California über alles‘ erwähnte Gouverneur Jerry Brown ist heute sogar wieder Gouverneur von Kalifornien. ,We care a lot‘ von FAITH NO MORE ist ein wunderbar sarkastischer Abgesang auf Kriegstreiberei und letztlich auch auf den Kapitalismus. Und was TON STEINE SCHERBEN angeht, so ist es einfach unheimlich aktuell und befriedigend, ein Stück wie ,Wir müssen hier raus‘ beim Neujahrsempfang der Stadt Darmstadt vorm kompletten Magistrat zu singen.“

Eine bewusste Entscheidung war der traditionell klingende Chorname. Man wollte die Leute erst einmal auf die falsche Fährte führen. Ein Großteil der Mitglieder wohnt im Martinsviertel. Dort probt man auch in einem Hinterhoftheater. Alex beschreibt das es so: „Es ist ein sehr quirliges Quartier mit vielen Kneipen und Treffpunkten, in dem das alternative Darmstadt und viele Alteingesessene zusammenleben. Unsere Liaison mit dem Martinsviertel kam bislang wohl kaum schöner zum Ausdruck als bei unserer ,Lokalrunde‘, als wir durch Kneipen und Cafés gezogen und dort aufgetreten sind.“

Das Auftrittsspektrum ist mittlerweile weit, es reicht vom kleinen Indie-Club in Berlin über Festivals, vom Auftritt im Nachtbus bis zu offiziellen Empfängen. No-Gos sind parteipolitische Veranstaltungen oder wo man/frau sich vor einen Karren gespannt fühlt.