CULTURE SHOCK

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Go wild, reloaded!

Als sich die englischen Anarchopunks SUBHUMANS 1985 auflösten, gründete Sänger Dick Lucas die Reggae-Dub-Punkband CULTURE SHOCK. Zwischen 1986 und 1989 kreierten sie eine einzigartige Mischung aus Anarchopunk, Reggae und Dub, ohne THE CLASH oder THE RUTS zu kopieren. Nach über 200 Shows, zwei Alben, einer Mini-LP sowie diversen Demos und Samplerbeiträgen löste sich die Band auf – Familie ging damals vor. Dick Lucas gründete 1990 daraufhin die Skapunk-Band CITIZEN FISH, die bis heute aktiv ist. 1998 wurden die SUBHUMANS reaktiviert und seit 2012 sind nun tatsächlich wieder CULTURE SHOCK aktiv. Nachdem 2012 zuerst das Gesamtwerk der Band in Form der Triple-CD-Box „Everything“ erschienen war, wurde im Juni dieses Jahres mit „Attention Span“ auf Alternative Tentacles nach über 25 Jahren das erste neue Album veröffentlicht.

Dick, als wir 1999 während der CITIZEN FISH-„Millenium Madness“-Tour das erste Mal Kontakt hatten, hast du eine Reunion von CULTURE SHOCK kategorisch abgelehnt. Mir schien, dass dies in erster Linie mit dem 1993 verstorbenen Gitarristen Nige zu tun hatte. Jetzt gibt es doch eine Reunion. Was hat die CD-Box „Everything“ damit zu tun?

Uns beschlich schon länger der Gedanke, dass es eine feine Sache wäre, alles bislang Veröffentlichte, sprich die drei Alben nebst Demos, in Form einer 3CD-Box zu würdigen. Jon von Active Distribution hat dies 2012 realisiert. Das geschah aber noch vor der Idee, CULTURE SHOCK auch live wieder auf die Bühne zu bringen. Die Jahre zuvor erschien uns das ohne Nige unmöglich. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Für Jasper und mich waren CULTURE SHOCK Geschichte und wir machten mit CITIZEN FISH weiter. Aber immer öfter wurden wir gefragt, wann es denn endlich mit CULTURE SHOCK weitergehen würde. So viele Leute wünschten sich, die Songs endlich wieder live zu hören, und die meisten kannten CULTURE SHOCK bislang nur auf Platte. Irgendwann 2012 nach einem CITIZEN FISH-Gig in Falmouth, nachdem uns erneut viele auf eine Reunion ansprachen, machten wir uns das erste Mal ernsthaft Gedanken, ob wir es nicht doch noch einmal mit CULTURE SHOCK versuchen sollten, denn scheinbar gab es da draußen immer noch Menschen, denen diese Songs viel bedeuten und ihnen Freude bereiten. Und wenn wir es nicht ausprobieren, würden wir es auch nie erfahren, ob es wirklich so ist. Vorausgesetzt nur, wir fänden jemanden, der Niges Gitarrenstil und seine Energie irgendwie umsetzen konnte. So kamen wir auf Alex, der ein großer CULTURE SHOCK-Fan und guter Freund ist. Alex ist ein echter Multi-Instrumentalist und mit verschiedensten Stilrichtungen vertraut. Er hat bereits bei einigen CITIZEN FISH-Stücken Trompete gespielt. Früher sang und spielte er Gitarre bei BENDER. Alex trieb dann das Sound-Fußpedal auf, das auch Nige für seinen Gitarrensound benutzte, und er übte die Stücke, um sich so nah wie nur möglich an Niges Stil heranzuarbeiten. Nige hätte es sicher zu schätzen gewusst, dass die Songs auf diese Art und Weise live wieder zum Leben erweckt werden, statt für immer nur auf Konserve beschränkt zu sein. Was uns zu Bill am Schlagzeug bringt. Auf dessen Anruf habe ich all die Jahre gewartet. Mehr muss ich dazu wohl nicht sagen, oder?

Wie fühlt sich das an, nach all den Jahren wieder CULTURE SHOCK-Stücke zu spielen?

Die ersten Proben waren für uns eher eine Art Test, um festzustellen, ob wir wirklich so klingen und rüberkommen, wie wir uns das vorgestellt haben. Und glücklicherweise hat alles so gut funktioniert. Es war großartig, mit Bill wieder Musik zu machen, und auch er war sichtlich froh darüber, die Songs endlich wieder spielen zu können. Unser erster Auftritt war ein Open Air-Konzert in Alex’ Kommune. Wir waren vorher richtig nervös, aber wurden von Stück zu Stück lockerer. Wenn ich mir vorstelle, wie krampfhaft ich mich in den Achtzigern beim Singen am Mikrofonständer festklammerte ... Heute hingegen geht die Musik sofort in die Beine und die machen dann, was sie wollen. Ein paar Monate später gingen wir in Großbritannien auf eine Tour mit 17 Terminen. Wir hatten so viel Spaß. Das waren mit die besten Auftritte, die ich je gespielt habe. Wir haben ganz viele Leute von damals getroffen, die wir jahrelang aus den Augen verloren hatten. Das waren wirklich sehr aufregende Momente. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, wie aufregend die Musik von CULTURE SHOCK doch immer noch ist.

Du machst das jetzt bald vierzig Jahre und scheinst dich dafür immer noch zu begeistern zu können. Gibt es gar nichts, was dich annervt, und wenn ja, was tust du dagegen?

Ehrlich gesagt, da gibt es nicht viel, was mich sonderlich nervt. Okay, gelegentlich ärgere ich mich darüber, wenn ein Vorhaben nicht klappt. Krank hingegen ist, wie viel Zeit ich mittlerweile verschwende, um wie doof auf irgendeinen Bildschirm zu glotzen. Mag ja sein, dass E-Mails billiger und platzsparender sind, aber das ganz Persönliche eines handgeschriebenen Briefes vermisse ich doch sehr. Nach wie vor macht es mir großen Spaß, Musik zu machen. Sollte dies irgendwann mal nicht mehr so sein, stecke ich wahrscheinlich in ganz großen Schwierigkeiten. Ich würde aber auch gerne etwas mehr Zeit damit verbringen, mich um meine Bilder zu kümmern, mehr Ausstellungen zu machen. Das eine oder andere verkaufe ich auch schon mal. Und es stehen noch über 200 Bilder in einer Garage, die bislang kein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Auch verrückt.

Was ist für dich, einmal abgesehen vom anderen Sound der Band, das Besondere, Unvergleichliche an CULTURE SHOCK, was du mit CITIZEN FISH und den SUBHUMANS so nicht erleben kannst?

Der ganz wesentliche Unterschied sind die an den einzelnen Bands beteiligten Leute, auch wenn von den insgesamt 14 Musikern neun in zwei oder drei Bands spielen. Jede Band hat ihren ganz eigenen Sound. CITIZEN FISH arbeiten mit Bläsern, THE SUBHUMANS klingen oftmals etwas älter und damit auch wesentlich rauher und CULTURE SHOCK haben ihren ganz eigenen musikalischen Stilmix. Aber die Chemie unter den Leuten in jeder Formation ist ganz eigen, und nur so erreichen wir dann sowohl als soziales als auch als musikalisches Gefüge ein ganz besonderes Level, um unsere Musik so einzigartig zu machen.

Wann habt ihr begonnen, „Attention Span“ einzuspielen und wie habt ihr Alternative Tentacles überzeugen können, das Album zu veröffentlichen?

Wir haben ungefähr ein Jahr nur geprobt, um jeweils im Abstand von ungefähr einem Monat ein neues Stück für „Attention Span“ zu schreiben. So entstanden die ersten neun Nummern. „Sky high“ haben wir gemeinsam im Studio komponiert. Letzteres war absolutes Neuland für uns. Dieser kreative Prozess war sehr spannend, auch wenn das Stück sehr rauh geworden ist. Binnen drei Tagen im Juli 2015 hatten wir die zehn Songs eingespielt und abgemischt. Und nur weil die Presswerke derzeit so ausgebucht sind, zog sich das jetzt noch fast über ein Jahr, bis wir die Platte nun endlich präsentieren konnten. Jello Biafra hatte schon lange davor verlauten lassen, dass er auf seinem Label Alternative Tentacles neues CULTURE SHOCK-Material veröffentlichen würde, sobald wir neue Aufnahmen hätten. Sein Label ist in Sachen Vertrieb und Werbung so viel besser aufgestellt als mein Label Bluurg, das mittlerweile mehr als kleiner Vertrieb fungiert. Das mit AT war letztendlich eine rationale Entscheidung.

Im letzten Interview hast du erwähnt, dass Punk für dich in erster Linie Unterhaltung ist. Wie geht ihr damit um, dass sich die Linien bei großen Festivals zwischen unpolitisch, links und rechts immer mehr annähern?

Das ist ein schmaler Grat. Wir spielen definitiv auf keinem Festival, auf dem wir es mit rechtsextremen Bands zu tun bekommen. Allerdings käme auch kein Veranstalter auf die Idee, uns für so etwas zu buchen. Dann aber gibt es die Art von Bands, die auf ihre Art und Weise patriotische Lieder spielen, aber sicher keine Nazis sind. Nehmen wir beispielsweise das Rebellion Festival. Ich sehe uns da als politisches Gegengewicht und es ist besser, wir vertreten dort lautstark unsere anarchistischen und linken Ideen, als das Festival zu boykottieren. Punk erlaubt uns jegliche Freiheit. Andere Meinungen und Ansichten werden bis zu dem Punkt toleriert, an dem es rassistisch oder fanatisch wird. Die meisten alten Punkbands machen einen Bogen um Politik. Viele junge Bands jedoch sind auf den unterschiedlichsten Events dabei und all die Festivals, die stilübergreifend die verschiedensten Menschen erreichen, sind großartige Gelegenheiten, gehört zu werden.

Europa hat sich durch die Flüchtlingsdiskussion als rein wirtschaftliches Konstrukt entlarvt, in dem Menschenrechte bestenfalls ein zweitrangiges Thema sind. Was denkt ihr über das Verhalten der britischen Regierung?

Übernimmt man die Meinungen der großen Tageszeitungen, kann man schon den Eindruck erhalten, die Briten wären alle xenophob, möchten jegliche Einwanderung unterbinden und geben den Flüchtlingen die Schuld, dass die Jobsituation so ist, wie sie ist, und man keine bezahlbaren Wohnungen mehr bekommt. Aber siehst du mal genauer hin, siehst du überall den Slogan „Refugees welcome“. Das beweist doch einmal mehr, dass die Wirklichkeit eine andere ist, als das, was man den Leuten als Realität zu verkaufen versucht. Menschen haben an sich ein freundliches Wesen. Aber es reicht, ihre Angst zu schüren, um Menschen ganz einfach zu manipulieren. Die Regierung Großbritanniens ist ein konservativer, aus reichen, weißen Männern bestehender sowie historisch betrachtet rassistischer und ausbeuterischer Haufen. Man hilft den Flüchtlingen gerade mal so viel, um nicht ganz den Eindruck zu vermitteln, dass es einem eigentlich egal ist. Diese Hilfe fällt jedoch bewusst minimal aus, um der Boulevardpresse kein Futter zu geben. Europa basiert nur noch auf lediglich wirtschaftlichen Interessen. Aber damit lassen sich die menschlichen Probleme und erst recht humanitäre Krisen nicht lösen. Sollten die rechtsextremen Parteien weiterhin so viel Aufwind bekommen, stürzen wir ins Chaos und geraten unter Druck. Hoffen wir, dass unser Widerstand aufkeimt, denn momentan entwickelt sich alles in die falsche Richtung. Und da wir gerade in den USA auf Tour sind: Sollte tatsächlich so jemand wie Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen, dann sind die Probleme in Europa lächerlich, verglichen mit dem, was uns mit Trump erwarten wird. Simples Appellieren an die Grundinstinkte, gepaart mit irrationaler Angst vor dem Fremden, genau mit diesen einfachen Mitteln kam 1933 Hitler an die Macht. Die Ignoranz und das moralische Vakuum der Unterstützer Trumps sind die Auswüchse einer verblödeten Gesellschaft.

Mit welchem Set seid ihr unterwegs und wann kann man euch live in Deutschland erleben?

Wir haben keine festgelegte Setlist. Definitiv nicht mehr spielen werden wir „Northern Ireland“ und „Stonehenge“. Beide Stücke hatten in den Achtziger Jahren eine große politische Relevanz, dem ist heute nicht mehr so. Deutschland haben wir auf dem Schirm, aber vor 2017 wird das sicher nichts werden.