GENESIS P-ORRIDGE & PSYCHIC TV

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Her Majesty, the Godfather of Industrial Music

Genesis Breyer P-Orridge, 1950 als Neil Andrew Megson in Manchester geboren, ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten, die die Musikgeschichte der letzten fünfzig Jahre hervorgebracht hat. Ein wandelndes Gesamtkunstwerk zwischen den Polen Kunst, Literatur und Musik, das sich inzwischen in ein androgynes Zwitterwesen verwandelt hat, das als „sie“ adressiert werden möchte und von sich als „wir“ spricht. Ihre Beteiligung an THROBBING GRISTLE in den Siebzigern brachte ihr die Bezeichnung „Godfather of Industrial Music“ ein, weiter ging es ab 1981 mit PSYCHIC TV und ihrer Organisation Thee Temple Ov Psychic Youth, durch die GPO kurz zu einer Art Sektenguru mutierte. Seit 1993 lebt sie in New York, da sie fälschliche Pädophilie-Vorwürfe zwangen, England für einige Jahre zu meiden, wo sie sich mit ihrer 2007 verstorbenen Partnerin Lady Jaye vor allem dem Pandrogyne Project widmete – aber auch PSYCHIC TV blieben weiterhin aktiv.

Genesis, Live-Auftritte waren bei PSYCHIC TV, vielleicht noch mehr als bei anderen Bands, ein wichtiger Teil des künstlerischen Gesamtkonzepts, wovon ja auch die unzähligen Live-Mitschnitte zeugen. Und aktuell seid ihr wieder live unterwegs, allerdings muss ich gestehen, euch bisher nie gesehen zu haben.

Das ist schon in Ordnung, denn wir sind jetzt besser als je zuvor. Man kann jetzt die bisher beste Version von PTV erleben.

Und woran liegt das?

In dieser Besetzung spielen wir jetzt schon seit 2003 zusammen. 2007 verstarb allerdings Lady Jaye, also mussten wir jemand Neues in die Band holen. Es hat eigentlich nur dreimal der Keyboarder gewechselt, ansonsten ist die Besetzung sehr stabil. Durch diese Musiker, mit denen wir jetzt arbeiten, ist es das mit Abstand beste Line-up von PTV seit 1981, als alles losging. Es ist genau die Musik, die wir bereits in den frühen Siebzigern und Sechzigern im Kopf hatten. Wir haben immer versucht, sie auch umzusetzen, und probierten dabei alle möglichen Arten von Sounds und Variationen aus, damit das passiert, und jetzt ist es endlich exakt so, wie wir es haben wollten. Und wir sind dennoch flexibel genug. Ich kann mich zur Band umdrehen und sagen: „Spielen wir eine Coverversion von BONEY M.“ Und sie sagen: „Okay.“ Sie stellen das nicht in Frage. Und sie spielen das auf eine interessante psychedelische Weise. Es ist alles sehr psychedelisch, auch die Lightshow. Es ist die perfekte Band, die wir uns auch selbst ansehen würden, wenn wir könnten. Wir denken oft, wie schade es ist, dass wir nicht erleben können, wie es ist, dabei im Publikum zu stehen.

Tun es zur Not nicht auch irgendwelche YouTube-Clips?

Nein, die sind selten gut. Die Leute richten ihre Telefone auf einen Teil der Bühne und nehmen nur einen kleinen Ausschnitt auf, und der Sound ist wirklich schlecht. Sie nehmen dann fünf Minuten auf und jeder denkt: Meine Güte, ist die Band fürchterlich! Ich wünschte, wir könnten Smartphones auf Konzerten verbieten.

Es ist auch ein wenig respektlos dem Künstler gegenüber, oder?

Ja, es ist respektlos und auch irgendwie seltsam. Sie stehen da mit erhobenem Arm, als ob sie nicht mehr wüssten, wie sie ansonsten so etwas erleben können. Man muss jeden Tag Bilder von sich selbst machen, damit man weiß, dass man noch am Leben ist.

Ich sehe schon, deine Einstellung dazu ist sehr oldschool.

Ja, wir werden ja auch nächste Woche 66. Die meisten Leute denken zwar nicht, dass ich so schon so alt bin, aber nun gut, haha.

Du lebst ja schon eine ganze Weile in New York. Womit beschäftigst du dich momentan vor allem?

Oh, ich arbeite viel von meinem Apartment aus. Ich habe heute einige kleine Skulpturen vollendet und arbeite an fünf neuen Bildern für eine Museumsausstellung in New York. Der Name ist „Try to Altar Everything“, „Versuche alles zu verändern“. „Altar“ wird dabei wie der Altar in der Kirche geschrieben, damit es wirklich ehrwürdig wirkt. Wie du sicherlich schon gemerkt hast, mögen wir Wortspiele, haha. Wir bekommen dafür eine ganze Etage des Rubin Museum of Art, das sich auf schamanische und buddhistische Kunst aus Tibet und dem Himalaja spezialisiert hat. Kathmandu ist einer meiner Lieblingsorte auf der Welt, wir waren bereits achtmal dort. Es ist also der perfekte Ort, um meine Arbeiten zu präsentieren, und sie werden dort für vier Monate zu sehen sein, was ungewöhnlich ist. Also arbeiten wir wie verrückt, um alles fertig zu kriegen, ebenso wie den Katalog, und es so wunderschön und interessant wie möglich hinzubekommen. Und seltsam – natürlich auch immer etwas seltsam, haha.

Aber es gibt dabei keine direkte Verbindung zu dem 1993 von dir und Lady Jaye gestarteten Pandrogyne Project, bei dem es darum ging, durch Körpermodifikation zu einer Einheit zu verschmelzen?

Alles ist damit verbunden, haha. Aber es ist nicht so offensichtlich – es ist nicht der zentrale Aspekt dabei. Es gibt aber Arbeiten, die damit zu tun haben. Zum Beispiel eine kleine Skulptur namens „Blood Bunny“, die ungefähr dreißig Zentimeter groß ist. Es handelt sich um einen einfachen, aus Holz geschnitzten Hasen, der auf seinen Hinterpfoten steht, und den wir und Lady Jaye in New Mexico gefunden hatten. Dort verkaufte eine mexikanische Familie am Straßenrand diese Skulpturen. Die meisten Skulpturen waren angemalt, aber diese mochten sie wohl nicht und hatten sie unter den Tisch geworfen. Wir verliebten uns sofort in sie, weil sie nicht perfekt und unvollendet war. Wir kauften sie und nahmen sie mit nach Hause. Zu dieser Zeit experimentierten wir viel mit psychedelischen Drogen und außerkörperlichen Erfahrungen, und benutzten dabei Ketamin-Injektionen, so wie auch John C. Lilly, der die Intelligenz von Delfinen erforscht hatte. Der Film „Der Höllentrip“ von Ken Russell, in dem sich der Hauptdarsteller in einen prähistorischen Höhlenmenschen verwandelt, basiert auf Lillys Forschungen, also was die Sache mit dem Isolations-Tank betrifft. Wir haben solche Experimente auch durchgeführt. Und manchmal blutet man dabei, auch wenn Ketamin in den Muskel injiziert wird. Als wir es das erste Mal benutzten, hatten wir den Hasen am Bett liegen, und wir rieben das Blut und das Ketamin, das aus der Einstichstelle austrat, auf den Hasen und es wurde vom Holz aufgesaugt. Es wurde dann ein Ritual. Und immer, wenn das passierte, rieben wir den Hasen damit ein. Schließlich war er völlig bedeckt mit Hunderten Blut- und Ketaminflecken von mir und Lady Jaye. So wurde er zum „Blood Bunny“, mit unserem Blut und Ketamin, das sich vermischte. Es ist ein Fetisch-Objekt. Im ganzen Museum geht es um spirituelle und schamanische Gegenstände, es ist ein perfektes Objekt dafür. Es gibt immer etwas, was mit Pandrogyne zu tun hat, das wir tun – das passiert ganz zwangsläufig. Einige Wochen später gibt es noch eine Einzelausstellung in New York mit meinen Collagen. Und natürlich nehmen wir ein neues Album auf und sind dabei, drei Bücher zu vollenden. Und wir haben einen kleinen Hund, um den wir uns kümmern müssen. Wir sind also beschäftigt.

Dir wird also nicht langweilig. Du scheinst auch noch jede Menge kreative Energie zu besitzen.

Ja, das sagt man uns zumindest immer. Man sagt uns auch, dass wir immer noch sehr kindisch wären, haha. Aber unser Arzt meinte, als er erfuhr, das wir in acht Ländern innerhalb von zwölf Tagen auf Tour seien: „Ich frage mich, wieso du immer noch hier stehst und am Leben bist.“ Und wir entgegneten: „Das ist einfach nur Gewohnheit.“ Haha! Wir können uns also sehr glücklich schätzen.

Und wie sieht dein sonstiger Lebensstil aus, bist du Vegetarier ...?

Wir ernähren uns überwiegend vegetarisch. Wir gehen ins Fitnessstudio, fast jeden Abend für eine Stunde. Wir trinken immer noch gerne Cocktails oder manchmal Champagner. Mein Lieblingscocktail ist ein Wodka-Cranberry ohne Eis. Ansonsten trinken wir keinen Alkohol, kein Bier, keinen Wein oder ähnliches. Alles sehr harmlos also. Wir haben alles andere vor langer Zeit ausprobiert, und jetzt geht es darum, körperlich fit und gesund zu bleiben, um so lange hier zu bleiben, wie es geht. Wenn man auf die siebzig zugeht, wird einem klar, dass man sich langsam dem Tod nähert und denkt: Was will man noch erreichen? Und dann beginnt man, hart und fokussiert zu arbeiten, und das tun wir jetzt.

Die Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit reicht bei dir ja bis zu THROBBING GRISTLE zurück. Hat sich an deinem Umgang damit seitdem etwas verändert?

Oh ja, das hat es. Als wir damals in den Siebzigern mit TG unterwegs waren, schrieben wir an die Wände der Death Factory in London, wo wir probten, in großen Lettern „We all die“, „Wir werden alle sterben“. Und wir redeten immer darüber, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, und dass einem nicht viel Zeit bleibt. Und wir tendierten dazu, unser ganzes Leben und unsere Arbeit nach dem Sprichwort auszurichten: „Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter, denn dein ganzes Leben wird nach diesem einen Tag beurteilt werden.“ Wir versuchten also, jeden Tag etwas Konstruktives zu tun. Aber dann trafen wir Lady Jaye und es veränderte vieles. Wir redeten zwangsläufig über den Tod, und dass wir den Gedanken fürchteten, ohne den anderen zu sterben und dann allein zu sein. Und wir überlegten, was wohl nach dem Tod passieren wird. Wir waren wie schon gesagt viele Male in Kathmandu. Wir arbeiteten dort viel mit tibetanischen Buddhisten zusammen und kamen durch sie zu der Einsicht – auch aufgrund bestimmter Dinge, die wir erlebten –, dass es manchmal möglich ist, dass ein Körper stirbt, aber das Bewusstsein in Folge eines Individuationsprozesses erhalten bleibt, als einzigartiges Wesen mit Selbstwahrnehmung. So dass man sich daran erinnern kann, dass man ein eigenständiges Wesen ist und das auch bleibt, und nicht nur Teil des kollektiven Bewusstsein dort draußen wird. Das war meine erste Offenbarung, dass so etwas vielleicht möglich sein könnte. Oder nimm zum Beispiel den Dalai Lama, der im Alter von vier Jahren Dinge identifizieren musste, die ihm vorher gehört hatten, um zu beweisen, dass er die Reinkarnation des verstorbenen vorherigen Dalai Lama war. Für mich ist das ein Beweis dafür, dass man zurückkommen kann in einem anderen Körper oder außerhalb eines Körpers das eigene Sein erhalten kann. Das war ermutigend.

Ehrlich gesagt, bin ich bei so was eher skeptisch ...

Ich bin eigentlich immer sehr skeptisch, was so was angeht, und sage, dass bestimmte Phänomene mysteriös sind, mehr aber auch nicht. Aber wie viele Beweise braucht man noch dafür? Man sollte zumindest unvoreingenommen sein. Und wir haben jede Menge andere seltsame Erfahrungen gemacht. Man nimmt eine psychedelische Droge wie LSD und diese Welt verschwindet. Es kann sich um keine besonders stabile Welt handeln, wenn sie so einfach verschwindet. Es gibt keinen wirklichen Beweis für unsere Realität. Wir denken, dass die Welt so ist, wie sie ist, weil wir alle zustimmen, dass sie so aussieht. Das ist der einzige Beweis, den wir haben. Man kann sich etwas ansehen und sagen, das ist ein Auto. Wir können uns dasselbe ansehen und sehen ein Kamel, aber nennen es ein Auto, weil man uns beigebracht hat, es Auto zu nennen. Wir wissen nicht, was der andere sieht oder welche Erfahrungen er macht. Es gibt keinen Beweis dafür, dass wir überhaupt hier sind. Man muss alle vorgefassten Meinungen hinter sich lassen und sagen: Das ist eines der wundervollsten Rätsel, denn es passiert so vieles.

Das gefiel mir immer besonders an einem Autor wie Philip K. Dick, der unsere Realität oft komplett in Frage gestellt hat.

Exakt! Ich hatte einen Freund, der ihn kannte, Al Ackerman, und der sagte, dass Philip K. Dick eine der unglaublichsten Personen war, die er jemals getroffen hat. Seltsam, aber erstaunlich. Und wir waren uns einig, dass es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass all das hier wirklich existiert.

Macht dir das keine Angst?

Überhaupt nicht. Wenn man nicht mehr daran festhält, spielt es keine Rolle mehr. Man würde sonst auch wunderbare Erfahrungen und Möglichkeiten verpassen. Das ist der merkwürdigste Teil unserer Existenz.

Als Künstler bist du jedenfalls in der privilegierten Situation, dass dein Werk weiter existiert, selbst wenn du nicht mehr da bist.

Aber das kann uns doch egal sein, oder? Uns kümmert das dann nicht mehr, haha. Wir sind dann woanders und müssen uns mit anderen Dingen und Rätseln herumschlagen. Oder wir haben niemals existiert und es gibt sonst nichts weiter, haha. Wir werden also entweder im Universum mit Jaye umherstreifen oder einfach weg sein. Im zweiten Fall wäre es egal, man würde einfach in Vergessenheit geraten und das andere wäre ein erstaunliches Vergnügen. Die Optionen sind in Ordnung, entweder ist es egal oder du hast Spaß.

Aber ist das unbedingt weit von den christlichen Vorstellungen bezüglich des Lebens nach dem Tod entfernt?

Nein, das hat nichts damit zu tun. Sie reden über Bestrafung, ewige Verdammnis, hab Angst, tu, was man dir sagt, fühl dich schuldig, fühl dich erniedrigt und beschämt. Wir haben auch nie von einem Himmel gesprochen, wir sprachen von Abenteuern anderer Art in einer anderen Dimension. Natürlich hätten wir Jaye lieber nicht verloren, also in physischer Form. Es wäre uns auch lieber gewesen, wenn uns die Regierung damals nicht aus England vertrieben hätte und wir dadurch alles, was wir besaßen, über Nacht verloren haben. Aber es ist passiert und man macht weiter, es gibt neue Abenteuer. Ansonsten wären wir nie nach Amerika gekommen. Und wenn wir nicht nach Amerika gekommen wären, hätten wir Lady Jaye nicht getroffen. Und wir hätten dann nicht all diese Theorien und Ideen entdeckt, die wir verbreiten, und nicht all diese anderen erstaunlichen Abenteuer erlebt. Auch wenn ihr Körper gestorben ist, waren wir in der Lage, den Leuten Ideen zu vermitteln über bedingungslose Liebe und Pandrogynie, die Beschaffenheit unserer Identität, was ansonsten vielleicht nicht passiert wäre. Wir sehen das auf lange Sicht als neue Möglichkeiten, auch wenn sie zuerst unerfreulich sind. Bei langfristiger Betrachtung passiert ständig etwas Erstaunliches, falls man keine Angst davor hat.

Die meisten Menschen empfinden vor allem Furcht vor solchen Unwägbarkeiten des Lebens, anstatt die damit verbundenen neuen Möglichkeiten zu sehen.

Als wir 17 waren, dachten wir auch, wir tun, was unsere Familie will, und gehen auf Nummer sicher. Wir gehen zur Universität, machen einen Abschluss und denken dann darüber nach, kreativ zu sein. Oder wollen wir ein herumreisender unkonventioneller Beatnik sein und es einfach tun? Warum warten? Man weiß nicht, wie viel Zeit einem noch bleibt. Und wir überlegten, was das Schlimmste ist, das passieren könnte, wenn wir uns zu 100% unserem Traum verschreiben. Wir könnten verhungern, im Gefängnis landen oder sterben. Na und? Das könnte sowieso passieren, also scheiß drauf! Wenn man sich von seinen Ängsten befreit, ist es das Einfachste einfach loszulassen. Wovor die Leute Angst haben, ist loszulassen. Sie wollen Garantien, sie wollen Sicherheiten. Die gibt es aber nicht. Es funktioniert ansonsten nicht, man würde es damit ruinieren und keinen Erfolg haben. Aber es ist natürlich trotzdem nicht leicht. Wir haben viele Jahre in besetzten Häusern gelebt, ohne warmes Wasser und Badezimmer, mit Außentoiletten. Viele Leute würden sich das nicht so lange antun. Aber für mich waren das keine Entbehrungen, weil wir Sachen tun konnten, an die wir wirklich glaubten. Und wenn der Glaube so stark ist, dann sind die Entbehrungen nur nebensächlich. Nur muss man sich wirklich sicher sein. Aber wenn man sich entschieden hat, dass man sich sicher ist, dann ist es nicht mehr schwer.

So sahen also deine Lebensumstände in den Siebzigern mit TG aus?

Ja, schon seit den Sechzigern. Wir gaben alles auf, zogen nach London und lebten in einer Kommune. Und wir überließen der Kommune alle unsere Habseligkeiten. Und wenn es uns nicht gefiel, hauten wir wieder ab, nur mit einem Schlafsack und einer Violine. Und trampten, bis wir in Hull landeten, wo es mit COUM Transmissions losging und wir immer weitermachten. Und es geht immer noch weiter! Man muss sich wirklich vollkommen sicher sein. Wenn man zögert, sollte man erst gar nicht springen. Aber Lady Jaye hatte eine Philosophie: Wenn man eine Klippe sieht, sollte man hinunterspringen. So hat es bei uns funktioniert.

Klingt das nicht ein wenig selbstmörderisch?

Nein, es soll nur bedeuten, dass man keine Angst davor haben sollte, was passieren könnte, was an sich eine gute Sache ist. Zumindest stirbst du glücklich und hattest ein möglichst erfülltes Leben. Und das haben viele Menschen eben nicht.

Du selbst warst früher Selbstmord gegenüber nicht unbedingt abgeneigt, richtig?

Bis mein Freund Monte Cazazza zu mir sagte: „Warum bleibst du nicht lieber aus reiner Gehässigkeit am Leben?“ Und ich sagte: „Was meinst du damit?“ Und er sagte: „Denk nur an all die Leute, die dich nicht leiden können und hassen, was du sagst und tust, und die deswegen aufgebracht sind. Indem du am Leben bleibst, werden sie auch weiterhin verärgert sein.“ Und wir dachten: „Stimmt, er hat recht.“ Inzwischen gibt es noch mehr Gründe, denn wir haben zwei Töchter, die wir nicht freiwillig verlassen können. Wir haben einen Hund, den wir auch nicht verlassen können. Wir haben uns entschieden zu bleiben. Aber das Leben ist immer ein langsamer schleichender Selbstmord, weil man weiß, dass man sterben muss.

Du siehst also nicht wie andere Künstler in Selbstmord irgendetwas Romantisches?

Nein, es gab daran nie etwas Romantisches. Es ging darum, nicht mehr hier sein zu wollen, zumindest trifft das auf die meisten Leute zu. Es ist dieser Drang, alles zu stoppen, man will nicht mehr bei Bewusstsein sein. Und was mich betrifft: Je älter man wird, desto weniger Gründe hat man dafür, nicht mehr hier sein zu wollen. Es wird früh genug passieren. Und es gibt noch so viel, was wir tun und sagen wollen.

Du hast also jemand wie JOY DIVISION-Sänger Ian Curtis nie wirklich verstehen können?

Wie du vielleicht weißt, waren wir die letzte Person, mit der er sprach, bevor er Selbstmord beging. Ich verstehe schon, warum er es tat. Er war an einem Tiefpunkt angelangt und wollte nicht mehr hier sein. Er wollte nicht mehr hier sein, weil er sich nicht mit seinen Problemen auseinandersetzen wollte, wie seiner Affäre und dem Kind. Und er wollte nicht mehr Teil von JOY DIVISION sein, weil er nach Amerika sollte, und er wollte das stoppen. Er wollte nicht tot sein, er wollte nur, dass es verschwindet. Wir haben damals versucht, Leute in Manchester zu erreichen. Das war zu einer Zeit, als kaum jemand einen Anrufbeantworter hatte geschweige denn ein Handy. Wir riefen Leute in Manchester an und sagten ihnen, dass Ian sich heute Abend umbringen würde. Bitte, jemand muss ihn aufhalten und zu ihm gehen und mit ihm reden. Aber die Leute, die wir erreichten, wollten nicht und die anderen, die einen Anrufbeantworter hatten, bekamen die Nachricht nicht rechtzeitig. Und wir haben uns immer schlecht gefühlt, weil wir nichts tun konnten, um ihn zu retten. Er dachte absolut nicht, dass es romantisch sei, er wollte nur, dass seine Probleme verschwinden. Es ist eine psychische Erkrankung.

Auf recht zynische Art habt ihr 1979 mit TG das Thema Selbstmord auch auf dem Cover des Albums „20 Jazz Funk Greats“ verarbeitet. Darauf sieht man ein Foto der Bandmitglieder, die adrett gekleidet und freundlich lächelnd am Rand des Kreidefelsens Beachy Head stehen, einem berüchtigten Ausflugsziel für Selbstmörder.

Das war nur schwarzer Humor. Es sollte lustig sein. Bei TG gab es immer viel schwarzen Humor. Wir haben immer versucht, die ekelhaften Schattenseiten unserer Gesellschaft zu zeigen. Wir wollten die Gewalttätigkeit und Bösartigkeit der Menschen zeigen, die die Gesellschaft kontrollieren und die es überall gibt. Und gleichzeitig haben wir darin auch eine humorvolle Seite gesehen. Es ist eine alte Tradition, die Dummheit und Ignoranz der Menschheit zu verspotten.

Es war also doch eine Art Statement.

Ja, auf eine satirische Art. Das Cover war auch an meine Mutter gerichtet, sie wusste das aber nie. Denn als wir mal an Weihnachten zu Hause waren, sagte sie zu mir: „Ich verstehe, dass du deine Gründe dafür hast, warum du so was mit dieser Band machst, aber kannst du nicht einmal was Nettes machen? Ein Bild mit Blumen oder so was, und wo du lächelst.“ Und wir dachten: „Keine schlechte Idee.“ Und wir überlegten, wir wir das auf eine TG-Art ein wenig verdrehen könnten. Es war dann Sleazy, der die Selbstmörder-Klippe vorschlug. Es gab dort Blumen, wir waren nett angezogen und lächelten, haha. Und meine Mutter mochte das Albumcover. Sie war sehr zufrieden, dass ich auf sie gehört hatte. Aber sie wusste nie, wo wir das aufgenommen haben, wir haben es ihr nie gesagt.

Kann man denn nicht erkennen, wo das Foto aufgenommen wurde? Beachy Head war ja als Selbstmörder-Klippe landesweit bekannt.

Doch, schon, aber sie lebte oben im Norden, und Beachy Head liegt unten an der Südküste, es gehörte nicht zur ihrer kulturellen Welt. Sie wusste es also nicht und es hat ihr auch nie jemand erzählt. Die Sache war auch, dass wir für eine Weile nicht verraten haben, wo das Foto entstanden ist. Deshalb dachten die Leute lange, wir wären nur sarkastisch gewesen, indem wir so ein nettes Bild benutzt haben. Und später haben wir dann erzählt, dass es dieser spezielle Ort war. So konnten wir zweimal einen Witz auf Kosten der Leute machen.

Würdest du zustimmen, dass es sich um eines der diabolischsten Cover aller Zeiten handelt?

Nichts hat für alle Zeiten Bestand, aber es ist sicher ein wenig diabolisch, ja. Und ein wenig unanständig, haha.

Es gibt auch noch eine Schwarz/Weiß-Version des Covers, wo man zwischen euch eine Leiche liegen sieht, was die Wirkung des Fotos aber völlig zerstört.

Das war auch Sleazys Idee. Ich muss dir zustimmen, mir gefiel dieses trostlose Schwarz/Weiß-Bild auch nie. Das entstand ohne meine Zustimmung, ich wurde da überstimmt. Ich meine, was war der tiefere Sinn? Das andere Cover zeigte das Gleiche auf eine viel amüsantere Weise, deswegen war es eine kluge Idee. Das andere Cover war nicht klug, es war, als ob man sich im Schmutz wälzte. Nein, das war nicht interessant. Aber es gab eigentlich immer Unstimmigkeiten, was die Strategien von TG betraf.

Zumal man heutzutage kaum noch jemand mit so was schocken kann, wo das Internet oder die Nachrichten voll von Gräuelbildern sind.

Heutzutage nicht mehr, ja, aber es kommt immer auf den Kontext an. Damals war es neu, im Kontext von Musik Dinge zu tun, die düster waren und etwas über unsere Gesellschaft offenbarten, was normalerweise nicht thematisiert wurde. Aber da sich die Zeiten ändern, müssen sich auch die Strategien ändern, weswegen die große Strategie ist, die Leute zu umarmen und Liebe, Freude und positive Ideen zu benutzen. Das ist das Überraschendste, was man tun kann. Und das tun wir, wir bestärken sie, zu kommunizieren, zu teilen, sich zu unterstützen und nicht zu konkurrieren, und über Wege nachzudenken, das Leben weniger zerstörerisch zu gestalten. Angesichts einer Welt, in der alles schon düster und böse genug ist, macht es keinen Sinn, dem noch etwas hinzuzufügen. In einer Welt, die schon verdreht und hässlich ist, und wo alles nur noch schlimmer wird, muss man sich neue Wege überlegen, sie zu erleuchten, und das versuchen wir jetzt zu tun.

Anlässlich der Kunstausstellung „Prostitution“ im Jahr 1976 brandmarkte der 1995 verstorbene konservative schottische Abgeordnete Sir Nicholas Fairbairn eure damalige Performancegruppe COUM Transmissions als „wreckers of civilisation“, als „Zerstörer der Zivilisation“. Anfang der Neunziger sahst du dich schließlich gezwungen, wegen fälschlicher Pädophilie-Vorwürfe England zu verlassen. 2014 wurde Fairbairn dann posthum als Kinderschänder überführt. Siehst du darin eine gewisse Ironie?

Ich wusste schon immer, dass er ein schlechter Mensch war, der ekelhafte sexuelle Dinge tat, und der sich selbst entlarvte, als seine Sekretärin, mit der er eine Affäre hatte, versuchte, vor seiner Wohnung Selbstmord zu begehen. Aber es ist doch irgendwie klassisch, dass die Menschen, die an der Macht sind, am verdorbensten sind. Und es ist ebenfalls typisch, dass sie libertäre Menschen wie uns attackieren, um die Aufmerksamkeit der Leute von dem abzulenken, was wirklich vor sich geht. Gerade England ist voll von Heuchelei. Die Leute sagen, wir sollen die königliche Familie verehren. Aber wie ist die denn an die Macht gekommen? Indem ihre Vorfahren mögliche Rivalen ermordet haben, es sind also im Prinzip Verbrecher gewesen. Und deren Vorfahren haben ebenfalls ihre Rivalen ermordet und so weiter. Es ist ein serielles Verbrechertum, warum sollten wir so etwas respektieren? Und wieso haben sie immer noch so viel Macht, obwohl sie längst entlarvt wurden? Und deswegen kann ich nicht mehr in England leben. Unsere Anwälte sagten uns damals sehr direkt: „Du kannst nicht zurückkommen, wir können nicht für deine Sicherheit garantieren.“ Damals war es wirklich so schlimm, heute natürlich nicht mehr. Die Konservativen wurden rausgeworfen und die Labour Party kam an die Macht, und alles wurde viel liberaler. Und dann gab es die Young British Artists und jemand wie Damien Hirst. Plötzlich waren sonderbare Künstler wieder angesagt. Das heißt aber nicht, dass wir wieder dort leben wollen, auch wenn England viel liberaler geworden ist.

Vermisst du denn England, vielleicht verbunden mit irgendwelchen Kindheitserinnerungen?

Nein, überhaupt nicht. Wir waren als Kind auch ständig krank und wurden an der Schule gehänselt. Und ehrlich gesagt erinnern wir uns an kaum etwas vor dem Alter von 14. Wir erinnern uns wahrscheinlich nicht daran, weil es so schrecklich war.

Von Neil Megson ist also nicht mehr viel übrig geblieben in dir?

Das haben wir uns auch oft gefragt, da wir uns nicht mehr wie Neil fühlen, sondern wie Genesis. Wir haben uns oft gefragt, was aus Neil Megson geworden ist. Neil hatte 1967 die Idee, dieses Wesen Genesis zu erfinden, als eine Art Kunstprojekt. Die Idee eines Superstars wie Andy Warhol, um daraus etwas viel Komplexeres zu machen, und zu sehen, was mit so jemand innerhalb der Populärkultur passieren würde. Aber wo ist Neil Megson? Haben wir ihn umgebracht oder hat er kapituliert? Hat er unbeabsichtigt ästhetischen Selbstmord begangen, haha? Ich weiß es nicht ...

Es war dein Vater, der dir ein Exemplar von Jack Kerouacs Buch „Unterwegs“ besorgte. War das Buch wirklich so einflussreich für dich, wie immer behauptet wird?

Ja, und mein Vater ahnte nicht, was für einen Schaden er damit anrichten würde, haha. Es war aber für viele Leute sehr einflussreich. Wir hatten schon immer davon geträumt, ein Künstler auf Wanderschaft zu sein, und dann lasen wir in diesem Buch, dass so etwas wirklich geht. Denn darin ging es um reale Menschen. Wir fanden dann heraus, wer sie waren und erfuhren immer mehr über William S. Burroughs und Allen Ginsberg. Wir dachten, dass es eine tolle Art zu leben sei. Mit Kunst und Philosophie zu leben, als Zentrum von allem, was du tust. Das ist das bestmögliche Leben, und das gilt immer noch. Wir entschieden uns dann, genau das zu tun. Tut mir leid, Papa!

Wie sah generell die Akzeptanz deiner Eltern hinsichtlich deines extremen künstlerischen Schaffens aus?

Nun ja, sie haben mir nie verboten, etwas zu tun. Und sie haben sich nie bei mir deswegen beklagt. Sie haben nur manchmal gesagt: „Wir verstehen nicht, warum du das tust, aber wir wissen, dass du immer einen Grund dafür hast.“ Und manchmal dachten sie, vor allem mein Vater, dass es etwas extrem sei. Aber sie sagten nie: „Du sollst das nicht tun, wir wollen nicht, dass du das machst.“ Auch nicht, als dumme Journalisten von News of the World vor ihrer Haustür standen und fragen: „Stimmt es, dass ihr Sohn schon immer ein Triebtäter war?“ Haha! Dann taten die Journalisten aber etwas Wunderbares. Sie verschwanden wieder und schrieben, dass meine Eltern eine Katzenfarm in Schottland besitzen würden, was auch immer das sein sollte. Aber sie arbeiteten in einem Reinigungsunternehmen in Shrewsbury an der Grenze zu Wales. Und da wurde meinen Eltern klar, dass die Journalisten sich das alles nur ausdachten. Und selbst wenn diese skandalösen Sachen zur Abwechslung tatsächlich wahr waren, glaubten meine Eltern es nicht mehr. Insofern kam es mir sehr entgegen, dass die Journalisten sich das ausgedacht hatten, weil es meine Eltern nicht mehr empörte. Selbst wenn ihre Freunde von der Kirche sagten: „Ist das etwa euer Sohn, über den wir diese schlimmen Dinge gehört haben?“

Erinnerst du dich in diesem Zusammenhang noch an Sue Bishop, die einen Artikel über dich mit dem Titel „This vile man corrupts kids“, „Dieser abscheuliche Mann verdirbt Kinder“, schrieb?

Oh ja, diese Journalistin von Scientology, die uns damals angriff. Ich hatte Freunde, die bei den Nachrichtendiensten der USA arbeiteten, und die mich vor ihr warnten. Sie meinten: „Scientology hat davon gehört, was du so treibst, und dass du dieses Netzwerk von 10.000 Leuten weltweit hast, das mit Sigillenmagie und mit anderen Ritualen experimentiert, deshalb haben sie dich auf die Abschussliste gesetzt.“ Wir waren auch mit Leuten befreundet, die damals Prozesse gegen Scientology führten. Deswegen wurden wir zu einem Angriffsziel und man setzte diese Frau auf uns an. Sie war wirklich scheußlich, und sie hat viel Schaden angerichtet. Natürlich hatte sie sich das wie üblich alles nur ausgedacht.

In diesem Artikel wirst du auch als „greedy gutter guru“ bezeichnet, als „geldgieriger Guru aus der Gosse“ ...

Haha, ja. Allerdings habe ich nie von jemand Geld verlangt. Wir haben für alles selbst gezahlt. Alle unsere zur Hochzeit von Thee Temple Ov Psychic Youth entstandenen Schriften haben wir selbst finanziert und dann an die Leute verschenkt. Die Leute lebten auch umsonst in unserem Haus. Zum Schluss hatten wir drei oder vier Häuser, wo wir die Leute wohnen ließen. Es war also genau andersherum. Aber das passte ihnen natürlich nicht und war auch keine gute Story. Zu sagen, dass wir eigentlich ziemlich nett sind und uns für wohltätige Zwecke einsetzen. Damit verkauft man keine Zeitungen. Ein Freund von uns versuchte sogar, einen positiven Artikel über uns für den Sunday Mirror zu schreiben, aber sie lehnten ihn ab. Wir haben sogar noch das Schreiben, worin steht, dass sie ihn nicht abdrucken wollten, weil er viel zu positiv war.

Eine letzte Frage: Erst kürzlich schrieb jemand über dich „Genesis Breyer P-Orridge läuft Gefahr, zur Institution“ zu werden, wie siehst du das?

Es gibt einen bestimmten kulturellen Aspekt dabei, weswegen wir – ohne jetzt allzu egozentrisch klingen zu wollen – uns ein wenig in einer ähnlichen Position befinden wie etwa William S. Burroughs. Also eine Art Kultfigur zu sein, die lange genug aktiv ist, um dadurch hoffentlich die Leute dazu zu ermuntern, sich ihre eigenen Gedanken zu machen beziehungsweise Bereiche der Kultur zu entdecken, von denen sie sonst nichts erfahren hätten. Und dass sie die Kontrolle durch die Gesellschaft und deren Funktionsweise kritisch hinterfragen. In diesem Sinne sind wir möglicherweise innerhalb der Kultur etabliert. Aber das wäre nur gefährlich, wenn wir selbst daran glauben würden und es uns wirklich kümmern würde. Was sollen wir auch sonst tun, außer Veränderung zu propagieren und Skepsis bezüglich der Gesellschaft? Denn wir bewegen uns auf ein Zeitalter des totalitären Kapitalismus zu, der sich zurückentwickelt zu einer scheußlichen Form von mittelalterlichem Feudalismus, was die Menschheit möglicherweise für immer ruinieren würde. Es ist eine wirklich wichtige Zeit, die Leute müssen aufwachen und über alternative Lebensweisen nachdenken, ihr Leben selbst gestalten.

 


Die Genesis-Geschichte

Der Dreh- und Angelpunkt des Schaffens von Genesis Breyer P-Orridge ist die ständige Veränderung. Das begann bereits in den Sechzigern, als Neil Andrew Megson sein Alter Ego Genesis P-Orridge erschuf. In den Achtzigern spiegelte sich das vor allem im unberechenbaren musikalischen Output von PSYCHIC TV wider, deren Alben selbst alte THROBBING GRISTLE-Fans irritierten, mit ihrer Mischung aus Pop-Experimenten, Neo-Folk und Psychedelic-Rock.

Später wandte man sich dann verstärkt Acid House zu. Hinzu kam eine unüberschaubare Anzahl von Live-Veröffentlichungen, auf denen PTV das Publikum ganz in der Tradition von TG entweder mit purem Noise attackierten oder ein konventionelles Rock-Set ablieferten. Seinen Höhepunkt fand P-Orridges Streben nach Transformation, als sie 1993 in den Staaten – ihrem selbstgewählten Exil – auf ihre langjährige Partnerin Jacqueline Breyer alias Lady Jaye traf und mit ihr ein bizarres Kunstprojekt in Angriff nahm, das Pandrogyne Project. Ziel war es, durch radikale Körpermodifikationen ein geschlechtlich identisches Zwitterwesen zu erschaffen und dadurch zu einer Einheit zu verschmelzen. Dadurch wurde der „Godfather of Industrial Music“ auch zu einer Pionierin im Bereich von Geschlechtsidentitäts-Fragen. Das Kunstwort „Pandrogyne“ findet man allerdings in keinem Wörterbuch und ist letztendlich nur der Begriff Androgynie mit einem „P“ vorne dran, wobei das „P“ laut GPO für Begriffe wie „positive“, „power“, „potent“ oder „precious“ stehen soll.

Es war dann ein harter Schlag für GPO, als Lady Jaye 2007 in Folge ihrer Magenkrebs-Erkrankung an einem Herzinfarkt verstarb. Der 2011 veröffentlichte Dokumentarfilm „The Ballad of Genesis and Lady Jaye“ lieferte einige Jahren später dann intime Einblicke in die seltsame, aber äußerst liebevolle Beziehung der beiden. Es handelte sich nicht um den ersten Schicksalsschlag, den GPO verkraften musste, denn Anfang der Neunziger zwangen sie Pädophilie-Vorwürfe eines TV-Senders, England aus Angst vor Strafverfolgung für viele Jahre zu meiden. Und 1995 wurde sie in Rick Rubins Haus bei einem Brand schwer verletzt, als sie Gastmusikerin bei Aufnahmen von LOVE AND ROCKETS war. Für die Verletzungen konnte sie später 1,5 Millionen Dollar Schmerzensgeld einklagen.

Seit knapp fünfzig Jahren ist GPO (die an über 200 Platten beteiligt war) nun fester Bestandteil der Popkultur, auch wenn es Ende der Sechziger noch so aussah, als ob Neil Megson trotz schon damals vorhandener künstlerischer Interessen ein normales bürgerliches Leben vorherbestimmt sei. Eine Zäsur stellte 1969 der Abbruch des Studiums in Hull dar und der Gründung von COUM Transmissions, eine an die Wiener Aktionisten erinnernde Performancegruppe, zu der auch das spätere TG-Mitglied Cosey Fanni Tutti gehörte, die sich als Stripperin und Darstellerin in Pornofilmen verdingte, und mit der GPO bei Aktionen vor Publikum Geschlechtsverkehr hatte. Nach dem Umzug nach London gipfelten die provokanten Aktivitäten der Gruppe in der skandalösen Kunstausstellung „Prostitution“ im Jahr 1976, was einherging mit der Gründung von THROBBING GRISTLE – bestehend aus GPO, Cosey Fanni Tutti, Peter „Sleazy“ Christopherson und Chris Carter – und dem Label Industrial Records, auf dem Platten von CABARET VOLTAIRE, CLOCK DVA, SPK, THE LEATHER NUN und natürlich TG veröffentlicht wurden, neben Arbeiten von Autor William S. Burroughs, den GPO bereits Anfang der Siebziger kennen gelernt hatte.

Auch das musikalische Schaffen von TG blieb weiterhin anstößig und kontrovers, selbst wenn sich unter die harschen Noise-Exzesse dieser Wegbereiter von Industrial Music auf dem dritten Studioalbum „20 Jazz Funk Greats“ von 1979 auch mal melodischere Töne mischten. Nach nur drei Studioplatten – neben „20 Jazz Funk Greats“ noch „The Second Annual Report“ (1977) und „D.o.A: The Third And Final Report Of Throbbing Gristle“ (1978) – sowie zahlreichen Live-Aufnahmen, trennten sich 1981 die Wege von TG. Während Cosey Fanni Tutti und Chris Carter als Duo weitermachten, gründete GPO mit Sleazy (der seit 1974 auch für die Grafikdesign-Agentur Hipgnosis tätig war, die zahlreiche legendäre Plattencover gestaltete wie etwa „Wish You Were Here“ von PINK FLOYD) PSYCHIC TV, deren erstes Album „Force The Hand Of Chance“ 1982 auf Some Bizarre erschien. Als Gastmusiker involviert war Marc Almond von SOFT CELL.

An dem Nachfolger „Dreams Less Sweet“ von 1983 war dann auch GPOs damalige Frau Paula P-Orridge beteiligt, mit der sie die beiden Töchter Caresse und Genesse hat. Diese bis 1987 andauernde Phase war musikalisch noch von Alex Fergusson von ALTERNATIVE TV geprägt, danach stand im Fokus der Band besonders das Interesse für die aufkeimende Acid-House-Szene. Derweil hatte Christopherson PTV schon wieder verlassen, um COIL zu gründen, die bis zu seinem Tod im Jahr 2010 aktiv blieben. Seit 2004 waren auch TG wieder sporadisch aktiv in Form von gelegentlichen Auftritten und Plattenveröffentlichungen, die für alte Fans wohl überwiegend enttäuschend gewesen sein dürften, denn wie GPO auch im Interview betont, die Zeiten und Strategien ändern sich nun mal. Auch wenn es 2009 hieß, GPO hätte ihre Bandaktivitäten hinsichtlich TG und PTV endgültig ad acta gelegt, erschien mit „Snakes“ 2014 doch noch ein neues PTV-Album, neben einigen 12“-Releases. Und für Ende 2016 ist ein neues Album namens „Alienist“ angekündigt, ebenso wie ein Vinyl-Rerelease des PTV-Debüts „Force The Hand Of Chance“.