NEGATIV

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Anarchy in Oslo

Seit weit über dreißig Jahren verehre ich derben Hardcore-Punk aus Norwegen. Eine Vielzahl an Bands waren seitdem hier auf Tour und haben ganz erhebliche Duftmarken hinterlassen. Jede Dekade hatte ihre guten Bands und stets ist eine neue Generation Punks nachgewachsen, die das Genre am Leben halten. Anfang 2017 bin ich auf eine ganz neue Band gestoßen, NEGATIV aus Oslo, die gerade ihre erste 7“ „Automatic Thoughts“ veröffentlicht haben. Zum 35-jährigen Jubiläum des Blitz-Squats trafen wir uns Anfang Mai in Oslo, wo mir Sänger Skünk einen tiefen Einblick in die lokale Hausbesetzerszene vermittelte.

Skünk, wer spielt aktuell bei NEGATIV? Habt ihr noch andere Bands derzeit?

NEGATIV sind Sigrun am Bass, Mr. Møkk an der Gitarre und Erik hämmert auf den Drums herum. Ich übernehme den Gesang. Møkk spielt dazu in seiner anderen Hardcore-Band, KNUSTE RUTER, die es bereits gibt, seit ich nach Oslo gekommen bin. Sigrun spielt bei HYSJ, einem Electro-Noise-Duo, und Erik ist immer mit tausend Projekten zugleich beschäftigt und treibt sich dabei in allen Bereichen der D.I.Y.-Musik herum. Mittlerweile haben wir alle Prioritäten setzen müssen und ein paar Bands verlassen, damit genügend Zeit für NEGATIV da ist.

Wie sieht euer Background aus, wann und warum ihr NEGATIV gegründet habt?

2016 war ein ziemlich schlimmes Jahr für Oslo, was die D.I.Y.-Hardcore Punk Szene betrifft. Viele unserer Bandprojekte, wie JENKEM WARRIORS oder KNUSTE RUTER, schienen sich in einem Tiefschlaf zu befinden. Und auch viele besetzte Häuser, Konzertläden wie das Barrikaden oder das Endless Tinnitus-Studio standen kurz vor der Auflösung. Räumungen standen kurz bevor und die Saat, die wir in den vergangenen Jahren mühsam ausgebracht hatten, drohte durch die kapitalistische Gier vergiftet zu werden. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mit Sigrun darüber sprach, eine Japcore-Raw-Punk-Band zu gründen, wo sie die Gitarre spielen sollte und ich singe. Gleichzeitig standen Erik und Mr. Møkk in Kontakt wegen einer Bandgründung, weil sie das Endless Tinnitus-Studio antesten wollten. Irgendwann war es ein natürlicher Prozess, diese beiden Projekte zu fusionieren. So kam das aktuelle Line-up zustande. Dabei hatten Erik und Sigrun nie zuvor Schlagzeug oder Bass in einer Band gespielt, also haben wir alle auf einem ziemlich vergleichbaren Level angefangen. Wir haben direkt vier Songs geschrieben und diese selbst aufgenommen. So entstand das „Krömatik Glue For Me And You“-Demotape, das wir später in „Demo 2016“ umbenannt haben. Mittlerweile

Wie würdet ihr euren eigenen Stil beschreiben? Habt ihr irgendwelche speziellen Einflüsse?

Ich würde sagen, wir sind vor allem auf eine primitive Form von Punk-Songs fokussiert, die ausschließlich dazu dienen, unsere Frustration rauszulassen. Der Name NEGATIV ist nicht zuletzt eine Hommage an NEGATIVE APPROACH. Wir lassen uns gerne von Bands wie den GERMS, SEX PISTOLS und den STOOGES inspirieren, aber wir stehen auch auf alte italienische Bands wie IMPACT und NEGAZIONE, allgemein der Achtziger-Jahre-Hardcore weltweit, von RUDIMENTARY PENI aus England bis zu den Norwegern SO MUCH HATE. Aber ein spezielles Vorbild gibt es nicht. Ich höre mir viele Platten an, alte wie neue.

Wovon handeln eure Songtexte? Bei „Shock disorder“ gefallen mir Musik und Text besonders gut. Braucht ihr wirklich ein paar Elektroschocks, damit eure „mental anarkey“ nach vorne gepusht wird?

Es fing alles mit einem simplen MOTÖRHEAD-mäßigen Riff an, der den Song zusammenhält. Dieses Riff hat einiges an Inhalt und Substanz! Was den Text betrifft, bin ich der Meinung, dass im Jahr 2017 viele Leute wie eingeschlafen wirken. Es ist eine Entwicklung, für die wir zu 100% selbst verantwortlich sind. Die Jugend im Nordwesten Europas ist apathischer, achtloser und stumpfer als je zuvor. Wir sehen uns klar und deutlich umgeben vom Ausmaß der Grausamkeiten der Neuzeit, beruhigen uns aber selbst damit, dass wir „nicht fähig“ seien, uns den Problemen und Herausforderungen zu stellen. Das ist auch der Grund, warum Punk so zahnlos geworden ist, sowohl politisch als auch auf sozialer Ebene. Ich selbst bin da auch nicht besser, denn ich lenke mich ebenfalls mit bedeutungslosen Aktivitäten ab und beschäftige mich, nur damit die Zeit schneller vorbeigeht. Ich war mal auf Ritalin, dann auf Concerta, gefolgt von Strattera, dann Amphetamine, wieder zurück zu Ritalin, war geplagt von kalten Entzügen und schütte nun lächerlich große Mengen an Kaffee in mich hinein. Während der vergangenen Jahre habe ich versucht, den Gründe für unser kollektives Koma nachzugehen. Ich denke, es liegt zum einen daran, dass Punk als solcher zu einer Institution geworden ist, aber auch an der eigenen komfortablen Ignoranz, ein Privileg, das wir im Westen zu pflegen scheinen. Wir dürfen täglich einen flüchtigen Blick auf die Ungerechtigkeiten der Welt werfen, während wir betäubt und unfähig zu handeln daneben stehen. Dabei sind wir von Kräften umgeben, die darauf aus sind, uns fertig zu machen. Vielleicht würde es uns aufwecken, wenn wir einmal den Terror eines Krieges selbst erleben müssten. Vielleicht sollten wir besser darin werden, unsere Erkenntnisse im Kontakt zur Außenwelt zu kommunizieren. Bei mir wurden das Asperger-Syndrom und ADHS diagnostiziert, das heißt, dass die Frontseite meines Hirns nur eingeschränkt mit dem Reaktionszentrum zusammenarbeitet. Ich versuche, unterschiedlichen Routinen zu verwenden, damit die kleine bestehende Verbindung von Bestand ist. Damit kämpfe ich jeden Tag, um wach und wachsam zu bleiben. Tatsächlich wünschte ich mir manchmal, dass ich mich selbst mit Elektroschocks behandeln könnte.

Die Songs „Thermavision“ und „To die in outer space“ geben mir so ungefähr einen Eindruck über den bevorstehenden Doomsday, der Tag, an dem die menschliche Rasse ausradiert wird.

Der einzige apokalyptische Song auf „Automatic Thoughts“ ist „3 minutes to midnight“. Er handelt von der „Doomsday Clock“, einer symbolischen Uhr, mit der die Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists visualisieren möchte, wie groß das Risiko einer globalen Katastrophe ist, zum Beispiel durch einen atomaren Schlagabtausch, wobei soziale, klimatische als auch politische Faktoren mit einer bestimmten Formel kalkuliert werden. Es gab schon vor uns Punkbands, die das als Motiv für Songs verwendet haben, etwa ANTISECT oder KOVAA RASVAA. Wir springen auf einen nihilistischen Trend auf, ohne dass wir eine aktive Wahl treffen. Wir beobachten höchstens die Vorgänge und formulieren unser Unbehagen in Medien, die von Regierungen überwacht werden. Das ist alles sehr unschön und verstörend. „Thermavision“ ist jenen Menschen gewidmet, die auf der Flucht sind, als auch jenen, die unter Beobachtung stehen, und bei denen der Überlebenskampf niemals ein Ende finden wird, während man von tausend elektronischen „Augen“ kontrolliert wird. Wir können dem Druck der staatlichen Stellen widerstehen. Sie überwachen jeden unserer Schritte, deshalb sollten wir die gleiche Sprache sprechen wie unsere Feinde und unsere Wege verschleiern. Das System bietet keine Schlupflöcher für Leute, die versuchen, die uns unterdrückenden Gesetze zu brechen. Bleib wachsam, bleib im Untergrund.

Und worum geht es in „To die in outer space“?

Er handelt davon, wie die Linke ihre Substanz in einer Art individuellen Nabelschau verliert, weil sich jeder nur auf seine eigene persönliche Befreiung fokussiert, während er den kollektiven Kampf vergisst. Die linken Attacken richten sich mehr nach Innen und sie verschrecken diejenigen Leute, die den Kampf unterstützen wollen, durch eine akademische Sprache und inhaltliche Verschwommenheit. Wir werden niemals den sich selbst verzehrenden Institutionalismus der Linken mitmachen. Der Text handelt von der heutigen Punk-Kultur, die für mich nur eine große Suppe voll von Nichts ist. Jeder kritisiert Hippies dafür, dass sie sich in keinerlei Aktionen einbringen, aber ich sehe weniger Aggression und Power als jemals zuvor bei unserer Punk-Szene. Zumindest haben sich die Hippies irgendwo angekettet und haben versucht herauszufinden, was uns Menschen vom System unterscheidet: Scheiß auf Hierarchien in all ihren Formen! Und auch wenn sie angeblich jeder infrage stellt, sind die patriarchalischen Tendenzen wieder so stark, wie schon lange nicht mehr.

Ihr habt „Automatic Thoughts“ auf eurem eigenen Label Byllepest veröffentlicht. Es gibt bereits 24 Veröffentlichungen auf Byllepest, also recht viel in kurzer Zeit. Betreibt ihr das Label beziehungsweise den Distro alleine oder sind noch mehr Leute involviert?

Byllepest wurde als Solidaritätsvertrieb gegründet, um Geld für das Hausprojekt zu sammeln, weil das alte Squatter-Netzwerk nicht mehr da war. Dann saß ich auf einmal auf 3.000 Platten aus dem Bestand des Nakkeskudd Plater-Labels, nachdem die ihren Laden geschlossen haben. Sie haben mir gesagt, ich könne mit den Platten machen, was immer ich will. Das war eine großartige Ausgangsgrundlage, da ich immer mal einen Plattenvertrieb wollte. Es hat also als Vertrieb angefangen, aber beinahe über Nacht hatte ich bereits fünf Platten selbst veröffentlicht. Und das Ganze wächst unaufhörlich weiter, was vor allem an dem guten Ruf und den Vertriebsstrukturen liegt. Die Geschäftsprinzipien sind die gleichen geblieben, und was das Finanzielle betrifft, befinde ich mich meist im Minus. Ich selbst lebe von Sozialhilfe und komme damit ganz gut zurecht. Ich sehe auch keinen Grund dafür, warum ich großartig Geld mit dem Vertrieb und dem Label verdienen sollte. Ich bin mit dem, was ich habe, in einer privilegierten Situation, denn ich habe ja jetzt einen Job, dem ich voller Leidenschaft nachgehe und wo alles fast von selbst läuft. Ich bekomme jede Menge Unterstützung von meinen Freunden, wobei ich mich allerdings um den Papierkram und den Mailorder selbst kümmern muss. Ich möchte den Bands das Gefühl vermitteln, dass das auch ihr Label ist, wo sie so viel wie möglich selbst entscheiden können. Ich arbeite sowieso am liebsten im Kollektiv, alles andere macht nur traurig und einsam. Nachbarn und Freunde helfen mir zum Beispiel oft dabei, die schweren Kisten zu schleppen, oder leihen mir Geld. Ich werde Mr. Møkk auf ewig dafür dankbar sein, dass ich beim Endless Tinnitus-Studioprojekt dabei sein kann, wo ich bald mein eigenes Büro haben werde. Das wird ein geile D.I.Y.-Zentrale! Wir werden unser eigenes Aufnahmestudio und das Labelbüro unter einem Dach haben. Wobei ich erwähnen muss, dass er mehr Zeit in sein Studio steckt als ich. Es ist auch immer schwierig, eine gute Balance zu finden zwischen dem Label und dem persönlichen Auskommen, wenn das Geld aus dem gleichen Topf stammt. Manchmal erscheinen die Veröffentlichungen etwas später, weil ich es mir in dem Moment kaum leisten kann, etwas zu essen zu kaufen. Außerdem schulde ich einigen Leuten noch viel Geld!

2016 habt ihr eine Reihe von Konzerten in Deutschland gespielt, und Anfang Juni wart ihr in England. Ihr scheint recht beschäftigt zu sein.

Ich hatte beim Buchen einer Skandinavientour für eine befreundete Band namens SIEVEHEAD aus Sheffield ausgeholfen. Deren Drummer Bryan ist sehr aktiv in der Hardcore-Punk-Szene, er spielt außerdem bei DETERGENTS und RATCAGE, und ist supergut vernetzt. Wir hatten daher an einen Tour-Austausch gedacht. Der Typ ist eine echte Legende! Er hat nicht nur ein Diskografie-Tape von uns auf seinem Kassettenlabel RatRatRat herausgebracht, er hat alle Konzerte unserer Tour in England klargemacht, war unser Fahrer, hat die Backline besorgt und noch den Merch betreut. Wir waren zusammen mit SPLIT-VEINS unterwegs, die sind ein echtes Bastard-D-Beat-Bataillon mit Leuten von NAILBITER. Carlos, ihr Gitarrist, hat auch viel großartiges Artwork für NEGATIV beigesteuert.

Ihr lebt teilweise in einem Squat in der Hausmannsgate 40 in Oslo. Wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben dort zwei ziemlich harte Jahre hinter uns und es macht mich regelrecht krank, darüber zu reden, weil wir uns immer noch mitten in einem Kampf befinden. Aber es ist eine wichtige Sache und viele andere Leute können die Geschehnisse bestimmt wesentlich akkurater schildern. Hausmannsgate 40 wurde 1999 besetzt und ist heute eins der ältesten Squats in Skandinavien. Das war der Grundstein für die Straße, die als „Hauskvartalet“ bekannt geworden ist. Die Häuser in der ganzen Straße sind bereits mehrfach besetzt worden, werden aber gerade vom norwegischen Staat an einen Anzug tragenden Schleimbeutel der Firma Urbanium AS verkauft. Das lief in einer Art Auktion, bei der die ganze Straße verhökert wurde, mit dem Ziel, uns Squatter loszuwerden. Es ging ständig hin und her zwischen Räumungsandrohungen, Squatter-Aktionen, Demonstrationen, Treffen mit Offiziellen und allem möglichen unerfreulichen Mist. Im Augenblick ist unsere Situation etwas sicherer im Vergleich zum vorherigen Jahr, aber wir sind nach wie vor nicht außer Reichweite der kapitalistischen Begehrlichkeiten. Hausmania in der Nummer 34 bleibt eine kommunale Kulturinstitution und unser Nachbarhaus, Nummer 42, ist seit 2009 zugemauert, abgesehen von einer Besetzungsaktion, als Protest gegen die neuen Eigentümer und eine mögliche Räumung. Außerdem ist in der Nähe auf einem leerstehenden Gelände in der Brenneriveien 1 ein Bauwagenplatz entstanden, worüber es viele Artikel im Internet zu lesen gibt. Our Future Records hat ein Foto von der Räumung der Hausmannsgate 42 und vom Bauwagenplatz als Coverfoto für ihren neuesten CD-Sampler „The Grave New Beat Vol. 2“ verwendet. Die Geschichte der Straße ist einzigartig, aber aktuell ist sie eher ein Symptom der auch in Oslo um sich greifenden Gentrifizierung. Es gibt weitere solcher bedrohten Häuser, wie das Enebakkveien 37, die auch um ihr Überleben beziehungsweise ihre Autonomie kämpfen. Die Geschichte der Räumungen in Oslo erzählt dir viel darüber, wie viel Energie und Hingabe es braucht, um den Untergrund am Leben zu halten. Es gab einmal tolle Konzertläden wie das Kafe Kakkerlakken, den Bauwagenplatz Brakkebygrenda und das alte Aufnahmestudio von Endless Tinnitus, die von der Kapitalmacht in Oslo mit einem brutalen Schlag ausradiert wurden.

Ich habe gehört, dass ihr bald eine neue Platte aufnehmen werdet und das Angebot von einem anderen Label ausgeschlagen habt, sie zu veröffentlichen. Wie kommt’s?

Im Augenblick arbeiten wir an zwei Projekten. Wir werden eine LP mit allen neuen Songs aufnehmen. Die meisten Stücke haben wir bereits fertig, aber wir müssen noch drei, vier weitere schreiben, damit die LP komplett wird. Es macht wirklich Spaß, neue Songs mit NEGATIV zu schreiben, weil den Songs meist ein Anlass zugrunde liegt und es ist cool, wie schnell das gehen kann. Dazu bereiten wir gerade auch noch eine Aufnahme vor für den Byllepest-Sampler, der „Infection 1“ heißen wird. Das wird eine Kooperation von Bands aus drei unterschiedlichen Kontinenten, außer uns sind das BLANK SPELL aus den USA, MURO aus Kolumbien und GAZM aus Kanada. Wir haben diese Songs im berüchtigten Lughole Studio in Sheffield nach unserem dortigen Konzert aufgenommen. Es hat uns regelrecht in den Fingern gejuckt, wieder aufzunehmen. Und ja, wir hatten eine Anfrage von Franz von Sabotage Records aus Bremen erhalten, ob er unsere neue Platten herausbringen kann. Aber wir wollen so viel Kontrolle wie möglich über die jeweilige Erstpressung unserer Platten haben. Das heißt, dass wir die Aufnahme, den Mix als auch das Mastering selbst machen. Die Sache hat sich ein bisschen verzögert, hauptsächlich weil Møkk sehr damit beschäftigt ist, ein neues Studio in Gamlebyen in der Altstadt von Oslo aufzubauen, wo wir die LP einspielen wollen.

Können wir damit rechnen, dass ihr in der nahen Zukunft wieder ein paar Konzerte in Deutschland spielen werdet?

Wer weiß ... Wir planen eine Spanientour für diesen Herbst. Hoffentlich dann bereits mit der neuen LP im Gepäck! Diejenigen, die Interesse an uns haben, werden es sicherlich herausfinden, wo und wann wir spielen. Bleibt wachsam, bleibt negativ!