LYVTEN

Foto© by Christian Poffet

Eine große Schippe Wut

Vor zwei Jahren veröffentlichtemn LYVTEN ihr Debütalbum „Sondern vom Mut, mit dem du lebst“. Emotionaler Punkrock norddeutscher Schule, der aber nicht aus Flensburg, Kiel oder Hamburg kam, sondern aus Winterthur in der Schweiz. Jetzt legt die neue Band von Thorsten Polomski mit „Bausatzkummer“ nach. Polomski kennt man in der Punkrock-Gemeinde vor allem durch seine frühere Band BUBONIX. Auf ihrem zweiten Album klingen LYVTEN wütender, aggressiver und verzweifelter denn je. Frontmann Thorsten und Schlagzeuger Tobi erklären im Interview, warum.

Was ist bei euch seit dem Debütalbum passiert?

Tobi: Es gab vor allem einen Wechsel bei uns: unser Bassist Sandro ist ausgestiegen. Er hatte keinen Bock mehr, Musik zu machen, und betreibt jetzt intensiv sein neues Hobby Bierbrauen. Sein Ausstieg lief aber in aller Freundschaft und es gab sogar eine schöne Geste an den neuen Bassisten. Unsere größte Show haben wir bei den Winterthurer Musikfestwochen gespielt und beim letzten Song hat Sandro seinen Bass an seinen Nachfolger Kevin übergeben. Sandro hat dann noch mitgesungen und Kevin hat Bass gespielt. Mit ihm zusammen haben wir dann noch ein paar Konzerte mit HEISSKALT und MAX RAPTOR gespielt, und dann haben wir an den Songs vom neuen Album gefeilt.

Der neue Sound ist viel sperriger und wütender als auf dem Debüt. Was ist der Grund dafür?

Thorsten: Das hat natürlich auch was mit politischen Ereignissen zu tun, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, unserem Umfeld, unseren Kids, der Erziehung, Existenzängsten, Luxusproblemen. Das Album spiegelt textlich das unbewusste Gesamtbild. Unser neuer Bassist Kevin kommt wie Tobi und ich aus dem Hardcore-Punk. Viele Songs und Ideen sind in gemeinsamen Jams entstanden, wir wollten bewusst direkter werden und die Songs nicht unbedingt so weiterführen, wie sie auf der ersten Platte waren.

Tobi: Wir sind diesmal anders an die Tracks herangegangen. Wir haben jetzt ein besseres Bandgefüge. Beim ersten Album war es oft so, dass die Songs schon zu 90% fertig waren, die hatte unser Gitarrist Steff zusammen mit Thorsten oder Sandro geschrieben. Dann haben wir die Songs ein bisschen geübt und gleich aufgenommen. Es gibt auf dem ersten Album Songs, die wir als Band nie zusammen gespielt hatten. Das ist jetzt komplett anders. Wir haben die Songs alle live im Studio aufgenommen, deshalb haben wir die Songs extrem viel gespielt. Dadurch sind sie natürlich auch gewachsen.

Besonders aufgefallen ist mir der Song „Nur das Beste“. Ein sehr persönlicher Text. Verarbeitest du darin deine eigene Jugend, Thorsten?

Thorsten: Den Text habe ich zusammen mit Steff geschrieben, als wir uns über die Erziehung unserer Kinder unterhielten. Das hat uns dazu bewegt, alle Sprüche aufzulisten, die wir in unserer Jugend von unseren leistungsbezogenen Eltern an den Kopf geworfen bekamen, oder von anderen Eltern hörten. Ich glaube, das hat nichts mit Verarbeitung zu tun, doch das ist ein wichtiges Thema, wie früh die Kids in den Leistungsdruck der Leistungsgesellschaft gedrängt werden, um für die Arbeitswelt zu funktionieren.

Wo habt ihr „Bausatzkummer“ aufgenommen?

Tobi: Unser Gitarrist Steff hat sein ShitMill-Studio in Zürich, das ist gleichzeitig auch unser Proberaum. Dort haben wir alles selbst aufgenommen. Das ist sozusagen eine Persiflage auf das HitMill-Studio des Pop-Produzenten Roman Camenzind, das ebenfalls in Zürich ist. Der arbeitet mit vielen kommerziellen Schweizer Künstlern zusammen.

Ihr hattet ja auch einen Gast im Studio: Aydo Abay, den früheren Sänger von BLACKMAIL. Wie ist der Kontakt zustande gekommen?

Tobi: Thorsten war früher lange mit den Jungs von BLACKMAIL unterwegs. Deshalb hat er Aydo angeschrieben, ob er Bock hätte, bei einem Song zu singen, und er hat sofort zugesagt und seine Spur dann in einem Berliner Studio eingesungen. Es hat leider terminlich nicht geklappt, dass er in die Schweiz kam. Wir haben geschaut, wo seine Stimme gut reinpassen könnte, und sind dann auf den Song „Echo“ gekommen.

Die bürgerliche Doppelmoral behandelt der Song „Politur und feine Sitten“. Ein Thema, das dir täglich begegnet?

Thorsten: Ich denke, dass sich viele über soziale Netzwerke und Medien ihre politische Meinung bilden oder sich beeinflussen lassen. Der Großteil der Gesellschaft ist tagtäglich über Stunden im Internet und sammelt Informationen und reagiert zum Beispiel auf Fake News. Kurz, der Text handelt davon, wie Empathielosigkeit, wie rechte Hetze im kleinen Kreis, eventuell in der Familie, unter Freunden oder Arbeitskollegen stattfindet und dass man meistens klar sehen kann, wer zu welcher Meinung steht. Es ist wichtig, dort eine sachlich kritische Diskussion zu führen, anstatt sich zu entziehen. Konfrontation ist sehr wichtig, gerade in der Familie und im persönlichen Umfeld. Bei Jugendlichen auf der Suche nach ihrer Persönlichkeit bringt es nichts, jemanden abzustempeln, zu entfreunden, ohne die Personen face to face darauf aufmerksam zu machen und sich über wichtige politische Themen zu unterhalten. Und ja, als Mensch mit Migrationshintergrund habe ich das leider schon als Kind zur Zeit der Wende um 1989/90 am eigenen Leib und in der Family und im Freundeskreis zu spüren bekommen, nicht sehr schön. Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass man mit Hass wenig erreicht, aber das ist leicht gesagt, wenn die Wut so groß ist!

Was sagst du in diesem Kontext zum Ausgang der Bundestagswahl respektive zum Einzug der AfD in den Bundestag?

Thorsten: Das war leider abzusehen! Traurig, wie viele Leute sich von menschenverachtender Hetze, Lüge und den Halbwahrheiten leiten lassen, sich dazu hingezogen fühlen oder eine Proteststimme abgeben. Ich hoffe nur, dass die AfD sich selbst in ihrem instabilen Konstrukt zersplittert und die Menschen, die sie wählen, ein hartes Schicksal trifft, das ihnen die Augen und das Herz öffnet.

Ist der Rechtsruck in ganz Europa eine Motivation für euch, als Punkband noch politischer zu werden?

Thorsten: Der Rechtsruck ist leider kein momentaner Trend, das gibt es schon zu lange, mal mehr, mal weniger und hier muss man dagegenhalten. Ob man jetzt mit der Band Solikonzerte für Betroffene von Repressionen und Gerichtskosten spielt oder Flüchtlingshilfe betreibt, bleibt jedem selbst überlassen. Wie kann man noch politischer werden, wenn man das schon ist und lebt? Ich finde es sehr wichtig, dass Bands, wie DONOTS, ADAM ANGST oder KETTCAR, die die Möglichkeit haben, vor einem großen Publikum zu spielen, auch Menschen erreichen, die nicht auf linke Konzerte gehen, wo meistens die Message sowieso unter Gleichgesinnten bleibt. LYVTEN sind jedenfalls eine Band, die ein menschliches politisches Bewusstsein hat, dafür brauchen wir auch keinen Demonstrationspass und müssen nicht damit hausieren gehen, was wir unterstützen, was wir machen, um Punk genug zu sein, denn Punk ist im linken Kampf ein kleiner Sektor unter so vielen linken Ausdrucksformen und Freiräumen.

Wie viel Zeit verbringst du mit Musik und wie viel mit Tätowieren?

Thorsten: Es beansprucht alles sehr viel Zeit: Kids, Tätowieren und die Band. Gerade auch zu den Aufnahmen zu „Bausatzkummer“. Da muss man neben dem Zeichnen, das vor oder nach dem Tätowieren passiert, neben den Proben und live spielen noch alles unter einen Hut kriegen, aber irgendwie geht das. Es hält sich alles gut in der Waage. Wenn wir nur spielen und proben, habe ich natürlich mehr Zeit für Family, Flashs, Paintings und Tattoo Conventions.

Und du, Tobi? Was machst du, um deine Miete zu bezahlen?

Tobi: Ich vertreibe Taschenmesser für Victorinox. Die Firma ist von mir aus in nur zwei Minuten mit dem Fahrrad zu erreichen. Da werden alle Taschenmesser zusammengebaut. Da arbeiten 1.000 Leute und ich verkaufe sie an Firmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Und was ist die wichtigste Funktion beim Schweizer Taschenmesser?

Tobi: Das ist der Mehrzweckhaken. Der ist immer am anderen Ende aus Sicht der Schere. Und mit dem Mehrzweckhaken kannst du zum Beispiel deine Brille aus dem Klo fischen, wenn sie in die Schüssel gefallen ist.