Dafür / dagegen: Musikstreaming

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Es ist ja so praktisch: Musik ist immer und überall dabei, wo eine Internetverbindung besteht. Losgelöst von physischen Tonträgern kann jede*r immer alles überall hören, umsonst oder für einen relativ geringen monatlichen Beitrag. Fluch oder Segen?

Dafür


Zugegeben, für die Pro-Position muss ich mich zwingen, den Advocatus Diaboli zu spielen, eine Position zu vertreten, die ich rational begründen kann, emotional aber anders sehe. In meiner Jugend war in meiner Klasse das Industriellensöhnchen mit dickem Taschengeld der Boss: größte Plattensammlung, alle Neuheiten, wer nett war, bekam auf Kassette aufgenommen, was man sonst nirgendwo hören und sich mangels Geld nicht kaufen konnte. Heute ist das längst undenkbar, gefühlt jede (Über-Plattensammler Jello Biafra bestätigt das) obskure Aufnahme aus achtzig, neunzig Jahren Musikaufnahmegeschichte ist weltweit (fehlende staatliche Zugangseinschränkungen vorausgesetzt) verfügbar, eine gigantische Masse an menschlicher Kreativität verewigt, für alle Menschen (mit Internetzugang) greifbar – was für eine Demokratisierung! Dass die Frage, ob Kreativschaffende bei dieser Form der Verbreitung immer fair entlohnt werden für ihre Werke, nicht immer befriedigend geklärt ist – geschenkt, aber das findet sich hoffentlich bald, etwa durch Blockchain-Lösungen. Aber dass Musik – wie Bücher auch – unter der Kontrolle weniger Privilegierter in Sammlungen und Bibliotheken wohlbehütet vor sich hin schlummert, diese Zeiten sind vorbei. Wer Spaß am Besitzen, Sammeln und Tauschen hat, soll das weiterhin tun, aber der elitäre, nur durch ausreichend finanzielle Mittel gewährleistete Zugriff auf künstlerische Werke, ist durch die Möglichkeiten des Internets, durch Streaming (und Download) wohl ein für alle Mal beendet. Der Kampf der Zukunft wird eher darum gehen, diese Verfügbarkeit gegen die Interessen der Tech-Giganten und unterdrückerische Regierungen zu verteidigen. Wenn prioritär nur noch Musik der Big Player über die Datenleitungen gepumpt werden soll, wenn Putin, Erdogan, Orbán und Co. bestimmen, welche Lieder opportun sind, kann es mit der schönen neuen Streamingfreiheit schnell wieder vorbei sein. Gut, wer dann Platten und CDs im Keller hat ...

Joachim Hiller

Dagegen

Miserable Qualität, keinerlei haptische Wahrnehmung, Geschmackssteuerung durch Algorithmen und Maßlosigkeit – die herkömmlichen Kritikpunkte an den großen Streamingdiensten sind hinlänglich bekannt. Deswegen: Nehmen wir „Plastic bomb“ von POISON IDEA als Beispiel. Der Opener des legendären „Feel The Darkness“-Albums beginnt mit Klavierklängen und es dauert schließlich exakt 32 Sekunden, bis der Song wirklich losgeht. 32 Sekunden, die zunächst eher weniger nach Punkrock klingen! Warum sind diese 32 Sekunden wichtig? Ganz einfach, weil etwa Spotify einen Song erst dann verrechnet, wenn er mindestens 30 Sekunden angehört wurde. Im Klick-und-wisch-und-weg-Zeitalter mit immer geringer werdender Aufmerksamkeitsintensität hat dies zur Folge, dass unzählige Songs, herausgelöst aus dem Albumkontext (was ohnehin ein großer Frevel ist) ob ihres Aufbaus schlichtweg übergangen werden. Und nicht nur das. Weiter gedacht kann dieses Detail des Spotify-Modells auch zur Konsequenz haben, dass Musiker ihre Songs nun spotifygerecht aufbauen. Dann würden möglicherweise die ganzen Metalcore Schülerkapellen ihre ohnehin schon vollkommen überfrachteten Liedchen auch noch mit Breakdowns einleiten, damit der halstätowierte Kumpel aus der Konfirmandengruppe bloß dranbleibt und 0,164 Cent in die Bandkasse gespült werden. Kreativ sein mit ständigem Blick auf die geschmacklichen Vorlieben der Zielgruppe ist ja schon schlimm genug, aber sich auch noch dem Diktat eines Abrechnungsprinzips zu unterwerfen ... Das kann nicht einen Millimeter mehr mit einer antikommerziellen beziehungsweise konsumkritischen Haltung zusammengehen und ist nichts mehr als ein weiterer, perverser Auswuchs dessen, was Walter Benjamin bereits 1935 in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ kritisiert hat: „Die technische Reproduzierbarkeit verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst.“ Und umgekehrt.

Peter Wingertsches