Devianz, Delinquenz und Dissidenz

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Die Wissenschaft und das Ox

Seit Jahrzehnten werden wissenschaftliche Versuche unternommen, die als Sozialisationsinstanz kategorisierte, ab 1976 substanzielle Formen annehmende Punkbewegung projektbasierten Studien zu unterziehen, um sie damit für die von ihr unterminierten Kontroll- und Disziplinargesellschaften erfahr- beziehungsweise einhegbar zu machen. Seit Anfang 2018 liegt unter der Verlagsrubrik „Erlebniswelten“ ein vom „Forschungsverbund Techniken jugendlicher Bricolage“ edierter, 300 Seiten starker Band vor mit dem Titel „Szenen, Artefakte und Inszenierungen“.

Zwei Charakteristika machen diese interdisziplinäre Arbeit für mich persönlich zu einem Rezeptionserlebnis: Zum einen stellt sie die erste vollumfängliche Analyse des mit „bricolageartige DIY-Publikation“ apostrophierbaren Untergrundszenemediums Fanzine dar, das soziologisch, entwicklungspsychologisch, erziehungswissenschaftlich und genderkritisch ausgeleuchtet wird. Zum anderen haben sich die Autor*innen intensiv mit dem seit 29 Jahren erscheinenden Ox-Fanzine auseinandergesetzt, und hierbei eben auch mit den allerersten, noch in Heidenheim an der Brenz produzierten Ausgaben, für die ich damals Texte divergierender Prägung abgeliefert hatte.

Und einer davon ist auf den Seiten 76 bis 78 in ein zentrales Analysefeld transformiert worden, das im Hinblick auf die von Marc Dietrich und Günther Mey fein säuberlich rekonstruierte „Inszenierung von Jugend(lichkeit) und Generation(alität)“ [in Szene-Printmedien] entwicklungspsychologisch beackert wird. Der großzügig gelayoutete Artikel trägt den Titel „Ein Menschenleben“; er war in der ersten, Anfang 1989 fertig gestellten Ausgabe des Ox-Fanzines auf den Seiten 26 und 27 abgedruckt worden. Eingedenk des Umstands, dass die beiden Grounded-Theory-Methodiker* mit interpretationseingebetteten Auszügen aus einem fast dreißig Jahre alten Essay den sozialwissenschaftlich fundierten Beleg dafür extrahieren wollen, dass „Jugendlichkeit“ in Punkzines als „biografisches Langzeitprojekt“ und als „diskursives Phänomen“ konzeptioniert werde, „verwandle“ ich mich durch diese im Ox-Fanzine Nr. 138 publizierte Rezension gleichzeitig in einen mit Segmenten des Politpunk-Milieus „alt gewordenen“ Gegenkulturproduzenten*, der* die kulturanalytische Exegese einer seiner Texte („Produkte“) in eben jenem Printmedium bespricht, das selbst Teil einer dreijährigen Studie war (und heute noch existiert).

Von einem „sich bei größerer Ferne immer wieder neu einstellende[n] Befremden gegenüber dem Forschungsgegenstand“, das dazu führe, „latente Strukturen erkennen und offen legen zu können“ (Christian Schmidt), kann bei mir also nicht im Entferntesten die Rede sein. Erschwerend kommt bei diesem durchaus faszinierenden Fluidum noch hinzu, dass ich mich – als „betroffenen“ Rezipienten der zu Papier gebrachten Forschungsergebnisse – selbst zu deuten, „auszulegen“ habe. Und zwar in zwei optionale diskursive Richtungen: Entweder parallelisiere ich – am entwicklungspsychologischen Punkt bleibend – meine eigenen (retrospektiven) Interpretationen mit jenen der Forscher*innen – oder ich schäle klar konturierbare Differenzen oder Missverständnisse heraus.

Hierfür muss zuvorderst festgestellt werden, worum es überhaupt geht, also welche Stellen aus meinem damaligen Beitrag aus welchen wissenschaftlichen Zwecken welche Analyseergebnisse nachvollziehbar unterfüttern sollen. Die Autoren* zitieren insgesamt drei, damals leider noch nicht gegenderte Stellen aus meinem Ox-Artikel, den ich im Alter von zwanzig Jahren, Ende 1988, verfasst habe:

1. „Bei der Lektüre eines aus dem anarchosyndikalistischen Umfeld stammenden, politische Erinnerungen Augustin Souchys enthaltenden Buches stieß ich auf ein den Erfahrungen Souchys entsprechendes Sprichwort aus Frankreich, mit dem ich mich im Folgenden – unter Vermeidung niveauloser Phrasen – beschäftigen will: ,Mit zwanzig Jahren Anarchist, mit dreißig Sozialist, mit vierzig Demokrat, mit fünfzig Liberaler, mit sechzig Konservativer und mit siebzig Faschist‘.“

2. „Aber ohne Angriffe wird die Glut der in einem schlummernden Energie nicht mehr entfacht, so dass sich jene Energie – im Laufe der Jahre – immer mehr verflüchtigt und aus dem alles aus dem Weg räumenden Streben nach Verwirklichung eigener oder gemeinsamer Ideale ethischer oder ästhetischer Natur eine Teilnahms- und Interesselosigkeit geworden ist, aus Angriffslust Lethargie. Der Anarchist wird Sozialist, der Sozialist Demokrat, der Demokrat Liberaler, der Liberale Konservativer.“

3. „Deshalb: Wir sind noch lange nicht alt, und wir werden es so lange nicht sein, solange wir Angriffen jeglicher Art ausgesetzt sind, also zum Widerstand gezwungen werden. Bleib Anarchist, bleib Individuum, bleib ganz einfach DU!“

Die beiden „JuBri“-Mitglieder fragen sich, weshalb ich gerade diesen prägnant-geistreichen, Erkenntnis/Erfahrung/Lebensweisheit vermittelnden, in sich geschlossenen Sinnspruch referenziert habe, um mich daran „abzuarbeiten“ (1. Zitat)?! Sie kommen zum Schluss, dass dieser „anarchistische Aphorismus“ dem „Zweck“ diene, die damit essenzialisierte „altersspezifische Normalentwicklung“ (hin zur Konformität, zum Autoritarismus) mit dem in der autonomen Punkbewegung zu verortenden, korrosionsfreien Widerstandspotenzial zu konterkarieren.

Dass diese originär „in den Punk“ implementierte Devianz, Delinquenz und Dissidenz im idealisierten Zustand nicht korrodiert und ihre im Kontrapunkt sich spiegelnde „Angriffslust“ bewahrt, wird nur dann im generationenübergreifenden, spezifisch lebensalterunabhängigen Sinne gelingen, wenn der darin zum Ausdruck kommende fundamentaloppositionelle Systemantagonismus kontinuierlich eine identitätsstiftende Wirkung (nach innen und außen) erzeugt (2. Zitat). Dann ist es relativ irrelevant, wie durchschlagend sich die Maßnahmen des konfliktorischen Gegenübers (hier immer: des jeweiligen nationalstaatlichen Repressionsapparates) äußern.

Ich habe damals tatsächlich den dialektischen Fehler begangen: Aktion („Revolte“/„Rebellion“) – Reaktion (der staatlichen oder staatstragenden Institutionen) – Aufhebung durch „Befreiung“; und dieses „Dialektische“ habe ich an mein Dasein als „energiegeladener“, „angriffslustiger“ Punk* gekoppelt, die*der „im Streben nach Verwirklichung eigener oder gemeinsamer Ideale ethischer oder ästhetischer Natur“ alles aus dem Weg räumt – wenn sie*er nur permanent attackiert wird! Die Schlussfolgerung wäre: Wird sie*er nicht in gebührendem Maße attackiert, dann wird sie*er lethargisch (weil keine Reibungen mehr entstehen). Und verabschiedet sich so langsam vom Punk-Dasein, vom „Leben im Widerspruch“, vom „Kampf um Befreiung“, von der Emanzipation. Schließlich scheint es aus diesem Dilemma nur einen Ausweg zu geben: Wir müssen so lange wie möglich „jung“ bleiben, weil wir nur als „Jugendliche“ und persistent Bedrängte erfolgreich der Internalisierung eines systemaffirmativen Staatsbürger*innenbewusstseins trotzen können, also zum Widerstand gezwungen sind (3. Zitat). Dann können wir – in diesem gesellschaftlichen Kontext verhaftet – Anarchist*innen bleiben. Dann müssen wir „unsere Seelen nicht dem System verkaufen“, wie es bei SLIME in „Linke Spießer“ (1983) heißt. Aber nur dann ...

Abgesehen davon, dass diese Zitate aus dem „Menschenleben“-Artikel tatsächlich das wissenschaftlich fermentierbare Destillat bilden, für das sie vom „JuBri“ in Anschlag gebracht werden, sind sie zunächst Beleg dafür, womit ich mich zwischen 15 und 23 politisch-philosophisch intensiv auseinandergesetzt habe. Eben mit allen wichtigen Strömungen des Anarchismus und deren Vertreter*innen; vor allem aber mit Anarch@syndikalismus, Individualanarchismus, Anarchafeminismus, mit der „Propaganda der Tat“ und mit mutualistischem Anarchismus. Sie sind Beleg, dass ich mich – wenn auch aus je unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Blickwinkeln und aus sozial(revolutionär) bewegt anders ausgerichteten Fokussierungen – schon immer dem Komplex „Älter werden und aktiv bleiben“ zu nähern versucht habe. [Erst vor kurzem habe ich unter diesem Titel einen Workshop gegeben: auf den stark frequentierten Anarchietagen in Winterthur.] Mit „Essenzialisierung“ einer von mir abgebildeten „altersspezifischen Normalentwicklung“ sollte dies aber – und hier muss ich den „JuBris“ ausnahmsweise widersprechen – nichts zu tun haben; im Gegenteil habe ich zeitlebens an Konzepten „gearbeitet“, die durch Pointierung historisch-materialistischer Ansätze ohne die (biologistischen) Hinweise auf die gesetzte Entität „innere Natur einer Sache“ auszukommen im Stande wären. Und auch in diesem Falle wollte ich keinen „widernatürlichen“ Entwurf konstruieren: im Hinblick auf ein mögliches oder eben unmögliches „Leben im Widerspruch“.

Die Autoren* Dietrich und Mey postulieren zwar treffend, dass bei mir „eine intellektuell-historisch fundierte Anleitung zum Widerstand [im Vordergrund stehe], ... der ... auf die Gegenwart der Punkszene“ (Seite 78) übertragen werde; aber etwas „Natürliches“, vielleicht sogar „Angeborenes“ sollte damit nicht paraphrasiert werden. Mir ging es eher darum, die Agnolische Involutionstheorie, die anhand der fundamentalen Kritik des parlamentarischen Repräsentativsystems (in nationalstaatlich umgrenzten Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht) entwickelt wurde, auf das „biografische Langzeitprojekt“ Anarch@punk anwendbar machen zu können. Ich wollte mir die Frage stellen, ob auch das außerparlamentarische, nicht parteiförmige „Durchlauf[en] eines Aneignungsprozesses, der eine politische/sozialkritische Dimension (Erwerb einer kritischen Haltung zur Welt)“ aufweist, bei jungen Punks zwingend von Lebensphasen „abgelöst“ wird, die mehr und mehr einen vorher (individuell) bekämpften Autoritarismus, Inegalitarismus von sich aus zu legitimieren versuchen. Deshalb habe ich Hauptbegriffe aus dem Topos der politischen Theorie („Anarchismus“, „Sozialismus“, „Demokratie“, „Liberalismus“, „Konservatismus“, „Faschismus“) zu einem kohärenten Von-links-nach-rechts-Schema konvolutiert, um damit die vermeintliche „Involutionsgefahr“ einer (zumindest in Teilen) sozialrevolutionär geprägten (Jugend-)Bewegung diskutierbar zu machen.

Der dabei zur Veranschaulichung herangezogene „anarchistische Aphorismus“ ist in seiner lebensphasisch linearen Zugespitztheit so plakativ, dass offensichtlich ist, dass das individuelle, nach Konkretion trachtende Einnehmen einer radikalen Aufhebungsperspektive so viele unterschiedliche soziale, klassistische, generationale, ästhetische, milieuspezifische Formen annehmen kann, dass ein Einpressen des Ganzen in eine Lebensalter-Skala (von zwanzig bis siebzig) nicht funktionieren und damit, trotz schriftlicher Fixierung, nicht wirklich so gemeint sein kann. Trotzdem scheint mich damals die Angst umgetrieben zu haben, mit zunehmendem Alter dem Konformitätsdruck der mich umgebenden Disziplinargesellschaft zu erliegen und „im Meer des Gewöhnlichen“ („Ein Menschenleben“, in: „Ox – the zine“, Nummer 1/1989, Seite 27) unterzugehen. Zwei Dinge kann ich – aus der Retrospektive – als Schlussakkord dazu anklingen lassen: Ich bin nicht ertrunken; und ich bin immer noch ein Punk- und Hardcore-sozialisierter, außerparlamentarisch organisierter Fundamentaloppositioneller*, der* nicht daran denkt/nicht daran denken kann, mit dem schonungslosen Aufdecken gesellschaftlicher und politischer Missstände aufzuhören und die dabei notwendigerweise aufzubringende „Energie“ (als „vergängliche Ressource“) versiegen zu lassen. Also kann das „Alter“ oder die Alterung eines Menschen – zumindest bei mir – keine „essenzielle“ Rolle gespielt haben ...

Jedenfalls empfehle ich ausdrücklich die intensive Lektüre dieses facettenreichen „JuBri“-Bandes, in dem auf Seite 39 „Fanzines“ relativ-begrifflich als „kurios, authentisch, unkommerziell, radikal-demokratisch, antikapitalistisch und widerständig“ exemplifiziert werden. Vor allem auch deshalb, weil mit Melanie Groß eine Professorin zum Herausgeber*innenkreis gezählt wird, deren Arbeiten ich sehr schätze: Im Beitrag „Hardcore bleibt Nazi-frei!“ setzt sie sich (zusammen mit drei weiteren Autor*innen) mit „Konstruktionen von Differenz als politische Positionierungen“ in juvenilen Szenen auseinander; empfehlenswert ist zudem der von ihr (und Christiane Wehr) verfasste Artikel „Grenzüberschreitungen. Inszenierungen von Geschlecht im Punk/Hardcore – eine intersektionale Analyse“, der die (Selbst-)Darstellung von Frauen* und Männern* auf unterschiedlichsten Materialien – von Plattencovern über Patches bis hin zu Internetforen – untersucht.

 


Bio

Michael Dandl, Jahrgang 1968, ist wie Joachim Hiller in Heidenheim an der Brenz (HDH) aufgewachsen und dort sehr früh Punk- und Hardcore-sozialisiert worden (ab 1982). Im Juli 1985 brachte er dann passend zu den damaligen Chaostagen in HDH („HDHardcore“) sein erstes Punk-Fanzine „Stuhlgang“ heraus. Er wirkte – vor allem Artikel und Reviews schreibend – bei den ersten drei „Ox – the zine“-Ausgaben mit, die alle 1989 auf den Markt geworfen worden waren. Im September 1991 zog er zum Germanistikstudium nach Heidelberg, um sich dort aktiv am dauerhaften Erhalt des einige Monate zuvor erkämpften Autonomen Zentrums (AZ) zu beteiligen. Dieser große linke Treffpunkt, in dem über die acht Jahre seiner Existenz hinweg auch viele legendäre Punk- und Hardcore-Konzerte stattgefunden hatten, wurde im Februar 1999 dem Erdboden gleichgemacht. Ersatz gab es dafür keinen. Dandl lebt heute noch in Heidelberg und geht immer noch relativ häufig auf Punk- und Hardcore-Konzerte, auch wenn sie nicht mehr direkt vor seiner Haustür stattfinden ...

 


JuBri-Forschungsverbund Techniken jugendlicher Bricolage (Hrsg.)

„Szenen, Artefakte und Inszenierungen: Interdisziplinäre Perspektiven“ in der Rubrik „Erlebniswelten“ erschienen bei Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

(Springer VS), 2018, 300 S., 49,99 Euro