OVERDOSE

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Brazilian Metal Pioneers

Wunder gibt es immer wieder! So geschehen Anfang April, als wir den OVERDOSE-Bassisten Bernardo Gosaric an den Hörer bekamen, der mit uns das allererste Interview der 1983 gegründeten brasilianischen Metal-Legende mit einem deutschen Magazin führte.

Bernardo, in Deutschland werden OVERDOSE immer mit SEPULTURA in einem Atemzug genannt, weil ihr euer erstes Album „Século XX“ zusammen mit „Bestial Devastation“ von SEPULTURA als Split-LP veröffentlicht habt. Kannst du uns einen kurzen Überblick über die Bandgeschichte geben, die ja 1983 mit ersten Demos und Auftritten begann?


Die Band – damals noch ohne richtigen Namen – gründete unser Gitarrist Cláudio zusammen mit Sänger Bozó im Jahre 1983, dessen Traum es schon als kleiner Junge war, Gitarre in einer Metalband zu spielen. Beide waren schon seit Jahren befreundet, allerdings war es damals schwer, andere Musiker für eine Metal-Band zu gewinnen. Es war ja noch die Zeit der Militärdiktatur und es war nicht ganz ungefährlich, so extreme Musik zu machen ... In Cláudios Bekanntenkreis gab es damals eine Rock/Heavy-Metal-Band namens SAGRADO INFERNO, also „Heilige Hölle“, die ihm ab und zu mit Equipment und/oder Leuten aushalf. Häufig waren das Fernando am Bass und Dilsinho als zweiter Gitarrist. Sie alle hingen nach der Schule oft in Cláudios Haus rum, jammten zusammen und so präsentierte er ihnen nach und nach seine Musikideen. Kurz darauf gründeten sie zusammen OVERDOSE. Allerdings nahmen es einige nicht ganz so ernst und so kamen und gingen die Musiker: Ein Freund empfahl Cláudio dann einen verlässlichen Schlagzeuger, Rubão, und das Line-up für den ersten Gig Ende 1983 stand. Er fand vor einigen Fans in einem besetzten Haus in einem der schlimmsten Viertel Belo Horizontes statt.

Und wie ging es dann mit der Band weiter?

Leider blieben Rubão und Dilsinho nicht lange und schon ein Jahr später wurden sie durch Hélio am Schlagzeug und Ricardo an der Gitarre ersetzt. Diese Musiker spielten dann Ende des Jahres 1984 „Século X.X.“ ein. Ricardo verließ die Band fast direkt nach der Veröffentlichung, obwohl man in Brasilien sehr viel Erfolg hatte. Nach unzähligen Gigs nahm man dann im Jahre 1985 „...Conscience...“ auf. Da die Band und das Label Cogumelo Records sich in Sachen Veröffentlichungen sowie Rechte nicht einig wurden, agierten OVERDOSE von nun an unabhängig. Zusammen mit dem neuen Drummer André wurden die nächsten drei Alben aufgenommen: 1989 „You’re Really Big!“, 1990 „Addicted To Reality“ und 1992 „Circus Of Death“. 1993 ersetzte Eduardo Fernando als Bassist und die Band veröffentlichte „Progress Of Decadence“, und zwei Jahre später das letzte Album „Scars“. Dann kam es Mitte der 2000er Jahre mal wieder zu einigen Treffen, die aber im Sande verliefen. Richtig ins Rollen kam die Band wieder 2016, als man das 53HC Music Fest hier in Belo Horizonte spielte. Ich bin übrigens, zusammen mit unserem Drummer Heitor, erst 2017 zu OVERDOSE gestoßen ...

Die Bandgeschichte umfasst jetzt mehr als dreißig Jahre. Kannst du uns trotzdem mal ein paar von den Geschichten erzählen, welche die „Alten“ immer am Lagerfeuer auspacken?

Cláudio erzählt immer, es hätte zwei sehr wichtige Momente in der Bandgeschichte gegeben. 1985 begann alles mit der Veröffentlichung von „Século X.X.“, denn plötzlich nahm man sie in Brasilien wahr. OVERDOSE haben in den Landeshauptstädten vor mehr als 1.000 Leuten gespielt. In Rio sangen 3.000 Leute die Songs mit. Das war der totale Wahnsinn ... Zehn Jahre später machten OVERDOSE ihre erste Tour in den Vereinigten Staaten, wo sie für SKID ROW eröffneten. Außerdem spielten sie 1995 auf großen Metal-Festivals in Europa zusammen mit KORN, BIOHAZARD, MACHINE HEAD und explodierten in den amerikanischen Radiocharts. OVERDOSE waren über sechs Monate lang in den Metal-Top-10 bei CMJ, den College Media Journal Charts. So wurden größere Magazine auf die Band aufmerksam und sie wurden auf der ganzen Welt bekannt.

Diese ersten beiden Alben „Século X.X.“ und „...Conscience...“ wurden in Brasilien erst vor kurzem auf CD wiederveröffentlicht. Außerdem gab es auch neues Merchandise. Warum habt ihr die alten Scheiben wieder aufgelegt und gibt es Möglichkeiten, sie hier in Europa zu bekommen?

Ein Rerelease nicht nur der ersten Alben aus den Achtziger Jahren, sondern der gesamten Diskografie ist der Wunsch der Band und auch von Fans seit mehreren Jahrzehnten. Damals konntest du die Scheiben selbst in Brasilien fast nur per Mailorder bestellen und die Anzahl an gepressten Vinylscheiben war ja nicht besonders groß. An eine CD-Aufnahme war in den Achtzigern nicht zu denken. Die Leute von Cogumelo Records waren sehr an einer Wiederveröffentlichung interessiert und man kam zu dem Entschluss, verschiedene Formate anzubieten: Vinyl, CD und ein exklusives Digipak mit einigen Bonussongs und einem anderen Artwork. Das neue Merch wurde von der Band entwickelt. Bozó und ich haben die beiden neuen T-Shirt-Motive entworfen, welche auf den ersten beiden Plattencover basieren. Bozó hat zudem Bilder integriert, in denen verschiedene Probleme wie Umweltverschmutzung oder Korruption auftauchen. Wir haben die Entwürfe dann einigen Die-hard-OVERDOSE-Fans vorgestellt und sie waren echt begeistert! Gerne würden wir die Scheiben auch in Europa veröffentlichen, aber einen genauen Zeitpunkt dafür gibt es leider – noch – nicht.

Euer letztes international bekanntes Album war „Scars“, das im Jahr 1995 rauskam. Das ist ja schon satte 23 Jahre her. Außer der Tatsache, dass man es endlich zusammen mit „Circus Of Death“ und „Progress Of Decadence“ auf Spotify finden kann, gab es in den letzten Jahren bei euch nicht viel Neues. Gibt es Pläne für ein neues Album?

Ja, wir haben vor kurzem die drei letzten Alben auf Spotify veröffentlicht und auch die alten Kracher werden kommen, verlass dich drauf! Die Frage nach einem neuen Album ist die wohl am meisten gestellte, vor allem seit wir wieder Shows spielen. Über ein neues Album haben wir bandintern schon mal geredet, aber richtig konkret ist da noch nichts. Allerdings würde ich gerne einige von Cláudios „alten“ Songideen, die noch aus der „Scars“-Ära stammen, mit dem neuen Line-up einspielen. Wir entwickeln zusammen eine unglaubliche Energie und jeder bringt seine Leidenschaften kreativ ein. Wir werden irgendwann ein neues Album aufnehmen, aber es gibt eine Menge im Vorfeld zu regeln. Speziell unsere Unabhängigkeit ist uns wichtig, also dass wir alles selber planen und umsetzen. Wir holen uns zurzeit viel Feedback von den Fans nach unseren Gigs oder laden Leuten zu den Proben beziehungsweise Jamsessions ein, um mit ihnen über unsere Musik zu diskutieren.

Die Band spielte 1995 auch auf der Zeltbühne des Dynamo Festivals in Holland. Danach gab es keine weiteren Touren außerhalb von Brasilien. Wie stehen die Chancen, euch mal wieder hier in Europa zu sehen?

Es wäre genial, mit OVERDOSE wieder nach Europa zu kommen. Wir haben immer noch einige Fans hier, die uns regelmäßig danach fragen. Allerdings fehlen uns dafür derzeit die finanziellen Möglichkeiten, eine so große Sache anzupacken. Somit bleibt es erst einmal ein Traum, dass wir bei euch spielen.

Aber in Brasilien gibt es doch Shows von euch, oder?

Ja klar, wir haben vor kurzem ein paar wirklich geniale Konzerte hier in Brasilien gespielt. Unsere Rückkehr auf die Bühne war vor gut einem Jahr bei einem Festival namens Bloco dos Camisa Preta. Es hat diesen Namen, weil es während des brasilianischen Karnevals stattfindet und quasi eine „Gegenveranstaltung“ zu den bunt gekleideten „blocos“ ist. Das sind Klubs oder Vereine, die diese Karnevalsscheißmusik hören und sich bunt ausstaffieren wie menschliche Pfaue. Karneval liegt hier in Brasilien ja immer in der Haupturlaubszeit und die Idee der Festivalorganisatoren war es, in dieser Zeit etwas für die Metalheads zu tun, damit auch sie sie genießen können. Dies war unsere offizielle Rückkehr auf die Bühne und wir spielten für mehr als 10.000 Menschen an diesem Tag. Das war grandios! Kurz danach kam ein anderes großes Festival namens Roça ’n’ Roll, welches eines der größten und ältesten Metal-Open-Air-Festivals in Brasilien ist. Natürlich waren die Reaktion von Fans, Freunden, Veranstaltern und Presseleuten riesig. Zur Zeit proben wir für eine große Solo-Show in São Paulo und wir alle sind sehr, sehr aufgeregt.

SEPULTURA, RATOS DE PORÃO und OVERDOSE, die „big three“ aus Brasilien, sind auch international bekannt. Aber gibt es irgendwelche neuen Bands im brasilianischen Metal/Hardcore/Punk-Bereich, die man hier kennen sollte?

In Brasilien gibt es unzählige Combos, Musik ist ein weit verbreitetes Hobby, vor allem hier in Belo Horizonte. Wir haben tatsächlich einige wirklich geniale Bands, die verschiedene „harte“ Stile repräsentieren. Zum einen fallen mir da HELL’S PUNCH ein, die eine brachiale Mixtur aus frühem Thrash Metal und Hardcore spielen. Eine unfassbar aggressive Band, die derzeit an ihrem Debütalbum arbeitet, welches hoffentlich bald erscheinen wird. NERVOSA sind eine rein weibliche Thrash-Metal-Band. Fernandas Stimme haut mich persönlich immer um, weil sie so unverwechselbar ist. Mehr in Richtung Death Metal geht der Sound von COLT.45, einer unglaublich brutalen Live-Band. Sie haben letztes Jahr ihr erstes Album „Extinction“ veröffentlicht. Ihre Shows sind der Wahnsinn, denn die Musiker sind alle irrsinnig gut und ergänzen sich perfekt. ZARGOF sind eine Black-Metal-Band, die ich seit ihrem Bestehen kenne, und sie haben seit ihrem ersten Album „Helios“ musikalisch deutlich zugelegt. Ihre Kombination aus Härte und Melodie ist wirklich der Hammer. Für diejenigen, die auf den guten alten Hardrock stehen, empfehle ich WISACHE. Die Jungs arbeiten wirklich hart und verdienen es, hier genannt zu werden. Zu guter Letzt empfehle ich allen ganz extremen Metallern die Grindcore-Combo EXPURGO, die alles wegballern. Das ist eine richtige Killerband, wenn man auf so einen Sound steht. Die sind noch richtig underground und spielen eher in kleineren Clubs.

Bernardo, lass uns doch ein wenig über dein persönliches Leben sprechen. Eigentlich wissen wir nur, dass du Bassist bei OVERDOSE bist und dass du in Belo Horizonte lebst. Was machst du beruflich, wie verdienst du dein Geld, hast du du Familie ...?

Eigentlich bin ich in der IT-Branche tätig, speziell in der Webentwicklung und dem Designen von Websites, Onlinesystemen und so einem Kram. Damit kann ich den größten Teil meiner Rechnungen bezahlen. Manchmal fällt auch noch ein Bass oder ein Verstärker davon ab, hahaha! Ich bin in einer Beziehung, wir haben – noch – keine Kinder, dafür zwei Hunde, einen Rottweiler und einen Labrador. Für die beiden haben wir einen Garten mit alten Obstbäumen sowie großen Wiesen, die es natürlich zu pflegen gilt. Meine anderen Hobbys haben fast alle mit Musik zu tun: Bass spielen natürlich, Musik hören und auf Konzerte gehen.

Während der Fußball-Weltmeisterschaft und der Olympischen Spiele in Brasilien: gab es hier sehr viele Berichte über Probleme wie Korruption, Polizeibrutalität, Obdachlosigkeit ... Kennst du solche Sachen auch aus dem alltäglichen Leben?

Meiner Meinung nach war das Bekanntwerden dieser Probleme der beste Aspekt der Olympischen Spiele überhaupt! Wenn Leute an Brasilien denken, sehen sie immer eine vorgegaukelte Realität, welche auf den großen Exportschlagern Karneval, Samba und Fußball basiert. Boah, ist das Leben da toll, denkt man! Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus: Das Land zerbricht an Korruption, sogar unser ehemaliger Präsident wurde deswegen verhaftet und gegen den aktuellen wird ermittelt. Unzählige Gouverneure, Politiker oder Polizisten sind an illegalen Geschäften beteiligt. Wenn du hier etwas haben willst, brauchst du Geld und/oder Beziehungen. Vor allem wenn du dich selbstständig machen willst. Das habe ich selbst erlebt. Allerdings sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Gesetzen in Kraft getreten, um hier radikal vorzugehen. Erste Erfolge sind da und ich hoffe, dass nun etwas passiert und wir unser Land von diesen korrupten Parasiten befreien. Jeden Tag sehe ich auf dem Weg zur Arbeit Schlangen von Hilfsbedürftigen hier in Belo Horizonte für Lebensmittelspenden anstehen. Aufgrund der immer noch schlechten wirtschaftlichen Lage wächst die Zahl der Obdachlosen in erschreckender Weise, da viele Menschen ihren Arbeitsplatz, Häuser oder Wohnungen verlieren. Mein Vater, der immer gearbeitet hatte, hat von heute auf morgen seinen Job verloren und musste seine Wohnung kündigen – und das kurz vor der Rente! Er hat Glück, dass wir ihm als Familie helfen können, andere sind weniger privilegiert. Der Staat sollte da viel mehr Unterstützung und Hilfen anbieten.

Auf dem vorhin erwähnten Dynamo Festival 1995 kaufte ich mir auch ein Longsleeve von euch. Es ist immer noch eines meiner Favoriten, obwohl ich gar nicht mehr so oft Metal-Shirts trage. Hier in Deutschland ist vor kurzem ein Buch mit dem Titel „life.love.shirts“ herausgekommen, wo ein Mann seine alten Lieblings-Hardcore-Shirts fotografiert und persönliche Geschichten darüber verfasst hat. Da drängt sich natürlich die Frage auf, welches dein Lieblingsshirt ist und warum?

Wow, was eine geile Idee für ein Buch ... So richtig habe ich gar kein Lieblingsshirt, aber ein paar Shirts und die Storys dazu sind im Gedächtnis abgespeichert. Mein erstes echtes Metal-Shirt war von BLACK SABBATH, das „Sabbath Bloody Sabbath“-Motiv. Meine Mutter machte große Augen, als sie mich zum ersten Mal damit sah. Oder das „Countdown To Extinction“-Shirt von MEGADETH, das zerrissen ist, als ich beim Klettern über einen Zaun abgerutscht bin, hahaha. Ich finde unsere neuen Shirts von OVERDOSE aber auch sehr gelungen und hoffe, dass sie eines Tages Menschen genauso wichtig werden wie dir unser altes Longsleeve.