Der Schöne und das Biest

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Das Auto ist bestimmt groß genug. Ich habe extra die zweitgrößte Kategorie bei Alamo gebucht, um wirklich genug Stauraum für das RAMONES-Roadcase zu haben, das in C. J.s Garage auf mich wartet. Es ist Herbst 2015, und ich verbringe zwei Nächte in New York, bevor es weitergeht nach Gainesville, Florida, in die Heimatstadt von Tom Petty und Punkbands wie AGAINST ME! oder HOT WATER MUSIC. Wie jedes Jahr steigt dort am Halloween-Wochenende das „Fest“, ein Festival, bei dem innerhalb von drei Tagen mehr als dreihundert Bands in einem Dutzend Clubs der Stadt auftreten. Die große Punk-Party ist für alle Beteiligten der Höhepunkt ihres Konzertjahres – schon alleine wegen der nächtlichen Spontankonzerte in den Fluren, Zimmern und Poolbecken der städtischen Hotelanlagen.

Der DIY-Geist der RAMONES ist hier allgegenwärtig. Alle teilnehmenden Bands erwirtschaften keine oder nur kleine Erträge aus Plattenverkäufen und sind nonstop auf Tour, um aus den Gagen und Merchandising-Einnahmen ihren Lebensunterhalt zu filtern – wenn auch kaum mehr als sie brauchen, um weiterhin in Vollzeit ihrer Leidenschaft für die Musik nachgehen zu können. Entsprechend wichtig ist es vor allem für kleine, aufstrebende Bands, bei Veranstaltungen wie dem Fest Networking zu betreiben und sich mit Gleichgesinnten zu verbünden, um dann gemeinsam auf Tournee zu gehen oder Split-Singles zu veröffentlichen. Auch C. J. ist fast zwanzig Jahre nach dem Ende der RAMONES wieder aktiver Teil des Musiker-Treks, der sich alljährlich durch die Clubs der USA, von Europa, Australien, Japan oder England schält, in kleinen Vans und ohne die helfenden Hände einer Crew. In Zeiten, in denen nur wenige Bands auf einen Hit und die dadurch generierten Einnahmen aus physischen und digitalen Verkäufen spekulieren können, ernähren sich die meisten Gruppen von dem, was für sie vom Live-Kuchen abfällt.

C. J. dagegen genießt das Privileg, seinen Lebensunterhalt nicht mit der Musik bestreiten zu müssen und kann seine Konzertreisen so legen, dass noch genug Zeit für Hobbys, Familie und gelegentliche Ausritte auf seinem Motorrad bleibt. Dass die Nachfrage nach ihm in letzter Zeit so stark angezogen hat, liegt vor allem an seinen exzellenten Soloalben und natürlich an den abertausenden RAMONES-Fans, die in den letzten zwei Jahrzehnten nachgewachsen sind, ohne jemals die Chance gehabt zu haben, das Original live zu erleben. Wer die Geschichte des Bassisten auch in den Jahren nach dem Abschiedskonzert verfolgt hat, weiß, dass sein heutiger Status fast an ein Wunder grenzt. Kaum ein anderer Musiker (oder Mensch) ist vom Schicksal so hart rangenommen worden wie der Ex-Marine aus Long Island, dessen Sinkflug vielleicht nicht ganz oben begonnen hat, dessen Aufschlag aber um einiges härter war als der so manch eines gefallenen Superstars. Und wir reden hier nicht von Boris Becker.

„Wie willst du den denn da reinkriegen?“, lacht C. J., als er durch sein Wohnzimmerfenster mein Vehikel betrachtet. „Ich habe Roadcase gesagt, nicht Handtasche.“ Als wir zwei Minuten später in seiner Garage stehen, weiß ich, was Roadcase in C. J.s Sprache wirklich bedeutet: ein mannshoher Schrank, einen knappen Meter breit, sechzig Zentimeter tief und knapp zwei Meter hoch. „Darin ist Dee Dees Bassbox“, sagt C. J. „Hier, in dem kleineren Kasten, ist sein Verstärker. Der gehört dazu.“ „Dann nehme ich den kleinen Kasten“, sage ich. Darauf ist zwar kein Logo gesprüht wie bei dem großen, aber wenigstens wird er von dem RAMONES-Schriftzug geziert. Und mehr als ein paar Scheine wird der Versand mit FedEx auch nicht kosten. „Aber es wäre doch viel cooler, wenn das ganze Ensemble im Museum steht, und nicht nur ein kleines, leeres Roadcase, oder?“, fragt C. J. Und damit hat er natürlich recht. Wir rollen den Kasten mit der Box an C. J.s Motorrad vorbei aus der Garage, passieren vorsichtig seinen 78er Ford F-250 in der Auffahrt, und dann kippen wir das Teil in die offene Heckklappe meines Mietwagens. Passt. Auch wenn ich dank der bis zum Armaturenbrett nach vorne geschobenen Sitze mit dem Gesicht an der Windschutzscheibe kleben werde. Aber so könnte es gehen. „Den Wagen kannst du heute Nacht aber nicht auf der Straße stehenlassen“, ermahnt mich C. J. „Am besten parkst du die Karre in einer bewachten Tiefgarage. Das kostet zwar, aber dafür hast du auch morgen noch was von dem Ding. Da fällt mir ein: Sind die Exponate in deinem Museum eigentlich versichert?“

Es ist acht Uhr morgens am 4. September 1989, als Sammy Davis, Jr. im Rahmen des jährlich ausgestrahlten MDA Telethon aus Atlantic City an den Lokalsender WWOR-TV in Secaucus, New Jersey, übergibt. Die vierundzwanzigstündige Benefizgala zugunsten der Muscular Dystrophy Association, einer Organisation, die sich dem Leid der Muskelerkrankten verschrieben hat, neigt sich langsam dem Ende zu. Und nun sollen auch noch die letzten Zuschauer mobilisiert werden, per Anruf ein paar Dollar zu spenden. Während am unteren Bildschirmrand die Nummern eingeblendet werden, rollen die Studiokameras um die live spielenden RAMONES herum, die heute gleich zwei Stücke mitgebracht haben. Zunächst das brandneue „I believe in miracles“ und anschließend „I wanna be sedated“, ihren Hit, mit dem sich Christopher Joseph Ward vor wenigen Wochen bei der Band um den Job als Bassist beworben hat.

Heute steht das auf den Namen C. J. Ramone getaufte neue Mitglied auf der Bühne des WWOR-TV-Studios und benutzt dabei die Teile von Dee Dees Ausrüstung, die nach der letzten RAMONES-Tour im Lager der Band verstaut wurden: die schwarze Schott-Lederjacke, die Dee Dee zuletzt auf der Bühne getragen hat und die im Innencover von „Animal Boy“ einen Soloauftritt hatte, den weißen Fender-Bass, das Ampeg-Kabinett aus Verstärker und Boxen. Das einzige, was C. J. zu seinem ersten Auftritt mitbringen muss, sind Jeans, T-Shirt, ein Paar Chucks und ein hellblaues Piratentuch, unter dem er seinen frisch geschorenen Schädel verbergen kann. Mit einem sadistischen Grinsen hat ihm der Friseur von Fort Hamilton in Brooklyn den Iro wegrasiert, als Sofortmaßnahme nach seiner Einlieferung in das erste von insgesamt drei Camps, in denen der abtrünnige Marine seine Wartezeit bis zur unehrenhaften Entlassung aus dem Militärdienst absitzen musste. Schon zu Beginn der zermürbenden Ausstiegsprozedur teilt ihm Johnny Ramone per Telefon mit, dass er sich keine Sorgen machen müsste, den Job bei den RAMONES habe er sicher. Er solle nun alle Auflagen erfüllen, um so schnell wie möglich wieder in New York zu sein, schließlich gäbe es vor der anstehenden Europa-Tour noch einiges zu erledigen. Zum einen muss C. J. ein Konto bei Fidelity Investments eröffnen, damit seine Gehaltsschecks dort verbucht werden können. Außerdem braucht er ein Visum.

Zuletzt ist es wichtig, dass die beiden noch einmal gemeinsam die Live-Choreografie üben: das gleichzeitige Vorgehen zum Bühnenrand und wieder zurück, das dramaturgisch heikle Ablegen der Lederjacke, der genau getimete Griff zur Wasserflasche, der starr in Richtung Publikum gerichtete Blick, weg von den eigenen Fingern und dem Griffbrett des Instruments, kein Umdrehen zum Schlagzeuger. Um den Bassisten auf seinen ersten Einsatz unter Live-Bedingungen vorzubereiten, knipst Johnny Ramone im Proberaum das Licht aus, damit der Jungspund lernt, ohne optische Stützen sauber durch das Repertoire zu kommen. Er ermahnt ihn zur Ruhe sowie zur Vermeidung hektischer Manöver und zeigt ihm, wie man eine Saite hart anschlägt, ohne sich dabei die Finger zu zerfetzen. Alle Erfahrungen, die Johnny vor und während seiner Karriere mit den RAMONES gemacht hat, hämmern nun auf den Neuling ein. Eine ideologische Druckbetankung, eine Lektion in Sachen Arbeitsmoral und Einsatz, eine Schulung für den Dienst am Fan. Dem Bassisten raucht zwar der Schädel, aber er hat verstanden. Glaubt er zumindest.

Das T-Shirt stinkt so übel, dass C. J. es sich vom Leib reißt und hinter seiner Bassbox verklappt. Neunundzwanzig Songs lang hat es Münzen, Becher und Spucke geregnet, immer dann, wenn sich der „Neue“ am Bühnenrand blicken ließ. Und jetzt, bei der ersten der finalen drei Zugaben, steht C. J. da, mit nacktem Oberkörper, während sich die Pampe aus Schweiß, Bier und Rotze langsam an ihm abseilt, vorbei an den Metallketten, Militärmarken und Patronenhülsen um seinen Hals. Wenn die entsetzten Blicke von Johnny Ramone töten könnten, dann wäre C. J. längst leblos in sich zusammengesackt. So dauert es aber noch weitere zwei Songs und knapp fünf Minuten, bis sich der Gitarrist und sein Zögling das nächste Mal begegnen. Im Gang zu den Umkleidekabinen der Universität von Leicester, England, wo C. J. Ramone heute, am 30. September 1989, sein erstes richtiges Konzert als Bassist der Ramones gegeben hat – anfangs leicht nervös und begleitet von einigen spielerischen Unsauberkeiten, aber insgesamt doch souverän. Selbst die wütend ausgestreckten Fäuste und Mittelfinger der Dee-Dee-Fans konnten seiner Konzentration nichts anhaben. Im Gegenteil: Grinsend stellte sich der Dreiundzwanzigjährige vor seine Feinde, so selbstbewusst, als hätte er beim Versuch, fremdes Territorium zu erobern, nicht einen Bass um den Hals, sondern eine ganze Marine-Einheit im Rücken.

Nun freut er sich schon auf die lobenden Worte und die Glückwünsche zur bestandenen Feuertaufe von Crew und Band, als ihn Johnny Ramone am Arm packt und sofort loslegt: Was eigentlich in ihn gefahren sein? Wie er sich anmaßen konnte, so gegen die Regeln zu verstoßen? Warum er sich erdreistet habe, sein Hemd auszuziehen, mitten im Konzert? Kein anderer Ramone zuvor hätte sich jemals seines T-Shirts entledigt. Und wenn doch, dann ganz bestimmt nicht ohne Konsequenzen. Auch körperlicher Art, das bekam bereits Dee Dee zu spüren, und zwar gleich mehrfach. Wann auch immer C. J.s Vorgänger während einer Show gedanklich auf einen anderen Planeten wechselte und dabei die Akkorde zu einem Song oder ein dringend benötigtes „1, 2, 3, 4“ vergaß, feuerte der Gitarrist nach Konzertende ganze Gewehrsalven aus Beleidigungen und Flüchen auf ihn ab, gepaart mit gezielten Hieben ins Gesicht. Besonders heftig wurde Dee Dee gegrillt, als er am 5. Juli 1976 in London sein spucke- und schweißgetränktes T-Shirt auszog, im stickigen Dingwall’s in Camden, wo der englische Sommer die Temperaturen auf weit über vierzig Grad trieb. Dee Dees triefendes Leibchen mit Mae-West-Motiv landete damals genauso in der Ecke wie C. J.s druckfrisches RAMONES-T-Shirt heute, dreizehn Jahre und zweieinhalb Monate später, im hundert Meilen von London entfernten Leicester. Für eine körperliche Züchtigung ist C. J. noch zu grün hinter den Ohren, aber auch die verbale Standpauke zeigt Wirkung. Zumindest in Sachen Dresscode.