ERNTE 77

Foto

Definitiv kein Fun Punk

Die Kölner ERNTE 77 können mit ihrem neuem Album „Noch ein tieferer Tiefpunkt“ die Erwartungen, die sie mit ihrem ersten Album „Gebenedeit unter den Punkbands“ geweckt haben, locker erfüllen. Wir sprachen mit Kalle Mallorca, Gesang und Bass. ERNTE 77 sind außerdem Kilian Schürrle, Gitarre, und FC Baum, Schlagzeug.

Ihr bezeichnet euren Stil als „Post-Deutschpunk“? Was versteht ihr darunter?


Im Prinzip wollten wir uns mit dieser Wortschöpfung nur ein bisschen über die Zersplitterung von Genrebezeichnungen amüsieren. Es gibt Post-Punk, Post-Rock, Post-Hardcore, warum dann nicht das Schubladendenken mit einer sinnlosen neuen Kategorie auf die Spitze treiben? Als klassischen Deutschpunk würde ich unsere Musik sowieso nicht bezeichnen, denn mit dem Begriff verbinde ich eher explizit politisch ausgerichtete Musik. Also die Klassiker aus den Achtziger Jahren, oder auch die ganzen „Schlachtrufe BRD“-Bands aus den Neunzigern, wo jedes zweite Lied gegen Nazis oder Bullen gerichtet ist. Nicht dass wir unpolitisch wären, aber wir versuchen solche Themen eher kreativ zu verpacken. Ich würde sagen, dass „Punkrock“ als Begriff für uns vollkommen ausreicht. Aber eigentlich lassen wir uns natürlich in gar keine Schublade einordnen, denn wir haben unseren ganz eigenen, individuellen Stil, so wie jede andere Band auch, haha.

Euer Name ERNTE 77 – erntet ihr jetzt das, was 1977 gesät würde? Oder doch eher „Rente mit 77“, wie eure Mailadresse verrät?

Eigentlich wollten wir uns ursprünglich ENTE 77 nennen, weil wir uns durch unser gemeinsames Hobby Entenfüttern in Köln am Aachener Weiher kennen gelernt haben. Aber weil Kilian Traktoren als große Leidenschaft hat und ich mich immer für Mähdrescher begeistern konnte, entschieden wir uns dann doch für die Variante mit dem R. Allerdings mit der Option, in absehbarer Zeit aus willkürlichen Gründen wieder zurück zum anderen Namen zu wechseln.

Während andere Bands mit schlichten Vierzeilern auskommen, erzählen eure Texte keine Geschichten, sondern ganze Bücher. Wie könnt ihr euch diese wortgewaltigen Texte merken – gerade auch wenn ihr live spielt?

Die Arbeit wird bei uns gerecht aufgeteilt. Kilian und Baum müssen sich alle Stellen mit „aah“, „ooh“ und „hey“ merken, und ich den Rest. Und nicht mal das gelingt mir immer, deshalb gibt es auch gewisse Textstellen, die ich bei jedem Konzert anders singe. Ich habe mir wegen der Textfülle schon extra ein Buch über Mnemotechnik gekauft, aber vergesse immer wieder, was drin stand.

Wie viel Fiktion steckt in euren Texten – und wie viel Realität? Wie sieht es mit dem von euch in „Headbanger oder Parkinson“ besungenen „RB 48 Headbanger“?

Ich hatte bei dem Text eigentlich gar keine spezielle Person im Kopf, sondern mehr so einen Prototyp, den du wahrscheinlich auch schon in verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln gesehen hast. Die Geschichten in den Songtexten sind eigentlich hauptsächlich fiktional. Ich arbeite nicht in einem Atomkraftwerk, interessiere mich nicht für Biathlon und halte die Feuerwehr für eine sinnvolle Institution. Der einzige Text, der mir gerade zu einer wahren Begebenheit einfällt, wäre „Viertelfinale in Osnabrück“, aber bei dem Lied ist der eigentliche Gag, wie trivial die nacherzählten Ereignisse sind, haha.

Das Cover euren neuen LP „Noch ein tieferer Tiefpunkt“ ist an ein Plattencover von den SPARKS angelehnt. Wieso hat euch diese Band inspiriert?

Ich mag vor allem deren kuriosen Humor. SPARKS sind ja im Grunde genommen zwei Brüder mit immer wieder wechselnder Begleitkapelle, und die beiden haben es seit Anfang der Siebziger Jahre geschafft, regelmäßig alle gerade angesagten Musikstile aufzugreifen und zu parodieren. Die haben mit Glamrock angefangen und dann über Disco, New Wave, Synthiepop und Eurodance alle möglichen Trends mitgenommen, und ihre schon recht massentauglichen und eingängigen Songs immer mit total bescheuerten Texten verbunden. Aber nicht so schenkelklopfermäßig mit der Tür ins Haus, sondern mehr von der absurden Sorte. Mir waren die SPARKS noch aus meiner Kindheit bekannt, weil sie in den Neunzigern mit „When do I get to sing ‚My way‘“ noch einen recht großen Hit hatten und im Musikfernsehen gespielt wurden. Da hatte ich die aber noch als eine unscheinbare Eurodance-Gruppe mit merkwürdigen Videos abgetan und erst vor ein paar Jahren so richtig entdeckt. Dann habe ich sie vor lauter Begeisterung unserem Gitarristen Kilian vorgespielt und ihn damit auch direkt überzeugt. Als wir uns dann ein Plattencover für unser zweites Album überlegen mussten, kam uns die Idee, das Motiv vom 1982er SPARKS-Album „Angst In My Pants“ aufgrund seiner ästhetischen Eleganz nachzustellen. Das Ergebnis hat schon für manche Irritationen gesorgt und damit seinen Zweck ganz gut erfüllt, würde ich sagen.

Wie sind die Reaktionen auf die neue LP?

Teilweise allergisch, aber größtenteils euphorisch. Unsere Hörerzahl bei Spotify hat sich beispielsweise seit dem Release Termin um zwanzig erhöht, und zwar sowohl Prozent als auch Personen. Die negativen Reaktionen beziehen sich eigentlich hauptsächlich auf den Gesang, aber ist die Punk-Szene wirklich so oberflächlich geworden, dass man als Sänger einer Band heutzutage sogar singen können muss?

Wenn ich euch das Label „Fun Punk“ verpassen würde, würdet ihr das als Kompliment oder eher als Stigma empfinden?

Die meisten Leute denken bei Fun-Punk in Deutschland wahrscheinlich erst einmal an einen Trend aus den Achtzigern, der einen Haufen langweiliger Kackbands hervorgebracht hat. Das war erstens textlich uninteressant, weil es hauptsächlich um irgendwelche Teenager-Themen und Saufen ging, und zweitens auch musikalisch meistens Mitgrölmusik nach Schema F. Ein paar originellere Ausnahmen wie SCHLIESSMUSKEL gab es schon, aber mit Bands wie NORMAHL oder DIMPLE MINDS hat unsere Musik, glaube ich, wenig am Hut. Wir wollen den Hörer nicht zum Mitschunkeln anregen, sondern im Idealfall erst einmal irritieren. Es steht nicht das Spaßige, sondern das Merkwürdige und Absurde im Vordergrund. Wenn wir ein Liebeslied machen, dann geht es nicht um „Willst du mit mir gehen?“, sondern um Natursektspiele. Wenn wir Lieder gegen rechte Wutbürger machen, dann nicht plakativ, sondern auf satirische Art, indem wir deren Sprachstil parodieren und ins Lächerliche ziehen.

Ihr kommt aus Köln, eure ersten LP trug den Titel „Gebenedeit unter den Punkbands“, ihr singt von der „Handynummer vom Papst“, und jetzt outet ihr euch auf der neuen LP als „Linksgrün versifft“. Wie katholisch seid ihr wirklich?

Ich habe eine katholische Erziehung erlitten und versuche seitdem wahrscheinlich, das Ganze mit Hilfe von Songtexten psychologisch aufzuarbeiten. Abgesehen davon halte ich „gebenedeit“ aber wirklich für ein ganz tolles Wort, schon allein vom Klang her. Wenn man von kleinauf diesen ganzen Kirchenquatsch durchläuft, kommt man ja zwangsläufig ständig mit Wörtern und Formulierungen in Berührung, die außerhalb der Kirche keine Sau verwendet und deren Bedeutung man teilweise gar nicht versteht. Und deshalb wollten wir die Ersten sein, die das Wort „gebenedeit“ – was übrigens „gesegnet“ bedeutet – auf einer Punk-Platte verwenden. Ansonsten interessiert mich die katholische Kirche aber überhaupt nicht, und auch meine beiden Kollegen betätigen sich in dieser Hinsicht, glaube ich, nicht.

Mit Studenten scheint ihr ein Problem zu haben. Oder wie erklärt ihr Songs wie „Studentenrabatt“ oder „Paris, London, Neanderthal, Ehrenfeld“?

Nicht mit Studenten im Allgemeinen, aber mit irgendwelchen hippen BWL-Dödeln, die in die subkulturell geprägten Gegenden ziehen, das auch mit coolen bedruckten Turnbeuteln nach außen tragen, aber mit Subkultur nichts am Hut haben und die Miete von ihren gutbürgerlichen Eltern bezahlt kriegen. Das Ergebnis ist, dass man zum Beispiel in Köln-Ehrenfeld eigentlich nur noch überteuerte Wohnungen findet. Die besungenen Studenten sind in dem Song also nur dankbare Sündenböcke für die Gentrifizierung. Der Song „Studentenrabatt“ ist hingegen überhaupt nicht gegen Studenten gerichtet, sondern für Studenten! Wir setzen uns darin ja für diverse finanzielle Vorteile ein, aber nicht im Museum, sondern dort, wo es wirklich nötig ist. Zum Beispiel auf Punk-Konzerten oder an Zigarettenautomaten.