TRADE WIND

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Find what you love and let it kill you

Jesse Barnett, Sänger der kanadisch-amerikanischen Band TRADE WIND, dürfte zumindest jedem jüngeren Hardcore-Fan ein Begriff sein, da er außerdem bei STICK TO YOUR GUNS singt, an denen man derzeit kaum vorbeikommt. Gemeinsam mit STRAY FROM THE PATH-Gitarrist Tom Williams hat er vor fünf Jahren als TRADE WIND eine erste EP veröffentlicht, die sie sich eher im Indierock bewegt. Außerdem hat Jesse ein Soloprojekt namens WHISH YOU WERE HERE, betreibt das Label Other People Records, managet Bands – und ist gefühlt permanent auf Tour. Bleibt da noch Zeit für anderes? Oder jemand anderen?

Bald erscheint mit „Certain Freedoms“ schon euer zweites Album nach „You Make Everything Disappear“. War das für TRADE WIND immer so geplant? Die Band war doch eher ein Experiment, oder?


Wir haben keine Ahnung, wie lange das Projekt noch läuft, also ist Experiment wohl das beste Wort. Jeder in der Band hat so viel zu tun und so volle Terminkalender. Wir nehmen es vielleicht ernster als wir sollten – und für einen Moment hat es keinen Spaß mehr gemacht. Wir dachten ursprünglich nur, hey, bringen wir die Musik raus, und haben tolle Reaktionen bekommen. Also haben wir es einfach versucht; doch mit einer Band von vorne anzufangen, das ist viel Arbeit. Aber das Schreiben der Musik und der kreative Prozess sind großartig. Es ist wie bei einer dieser Kochshows, wo man verschiedene Zutaten und eine Zeitvorgabe bekommt und dann ein gutes Essen zaubern muss. Das liebe ich an TRADE WIND.

Hat sich der Arbeitsprozess geändert, oder war das so seit der ersten EP?

Es ist seit der EP so. Wir genießen den Prozess in dieser Form sehr und möchten ihn nicht ändern. Obwohl die Zeit so gering ist, nehmen wir uns mehr kreative Freiheiten und können uns ganz anders entfalten. Wir sitzen zwei Tage zusammen und fragen, okay, wer hat eine Idee? Aus denen basteln wir dann die Songs.

Wenn du sagst, es gab tolle Reaktionen, sprichst du von der in der Hardcore-Szene, richtig? Wie kommt ihr in der Indie- oder Alternative-Rock-Szene an?

Bisher sind wir in diesen Szenen nicht wirklich bekannt. Manchmal denke ich – und das soll jetzt nicht pessimistisch oder undankbar klingen –, dass wir mit TRADE WIND bereits alles erreicht haben, was möglich ist. Die Fanbase, die wir haben, sind Fans von STYG und STRAY FROM THE PATH, und obwohl sie uns wirklich mögen und unterstützen, sind es natürlich keine Indie-Kids, die diese Musik je so feiern werden wie Punk, Metal oder Hardcore. Und jetzt sind TRADE WIND noch ruhiger geworden, haha.

Und gibt es den Plan, in anderen Szenen bekannter zu werden?

Nein, eigentlich nicht, das ist ein weiterer echt befreiender Aspekt an TRADE WIND. Wir können uns einfach ausleben, ohne viel darüber nachzudenken, ob es ankommt oder nicht. Bei unseren anderen Bands würden wir das nie tun, auf einem STYG-Album etwa wird es nie einen kompletten Piano-Song geben.

Trotzdem ist auch der Sound von STYG definitiv ruhiger geworden. Ist das Zufall oder bedingt sich das?

Ich würde sagen, es ist einfach ein bisschen durchmischter. Wir haben immer noch harte und schnelle Songs, aber wir haben auch ruhigere und melodischere Elemente. Das fing an, als unser Label fragte, ob wir nicht eine Akustikversion von „Against them all“ machen wollten und die ging auf YouTube total durch die Decke. Wir versuchen, mit den ruhigeren Momenten zwischendurch etwas Besonderes zum Album hinzuzufügen. Und anscheinend gefällt das den Leuten.

Ich habe das Gefühl, TRADE WIND wäre von den Texten her mehr wie ein Tagebuch für dich, denn die Lyrics wirken noch direkter und persönlicher als bei STYG. Würdest du dem zustimmen?

Eigentlich glaube ich, dass es andersherum ist, dass ich bei STYG viel direkter bin und bei TRADE WIND mehr mit Metaphorik arbeite. Aber diese Interpretation habe ich jetzt schon echt von vielen gehört, haha! Wenn ich für TRADE WIND schreibe, benutze ich einen anderen Teil meines Gehirns. Es ist wie Meditation. Bei STYG geht es so viel um Wut und Frustration, viele angespannte Gefühle; und TRADE WIND behandeln diese Gefühle natürlich auch, aber auf eine andere Art. Es fällt mir schwer, direkt mit den Menschen in meinem Leben zu reden, wenn ich etwas auf dem Herzen habe – mit TRADE WIND kann ich es sagen und ich hoffe, sie hören es. Ich kann meine Gedanken und Emotionen ordnen und zu Papier bringen. Das hilft mir sehr. Ich schreibe wirklich gern für TRADE WIND.

Wenn du sagst, jeder hat so viel zu tun, bist du dafür das beste Beispiel. Im Video zur neuen Single wird gezeigt, wie sehr Beziehungen unter dem stressigen Leben eines tourenden Musikers leiden. Denkst du, du machst vielleicht ... zu viel?

Haha! Ja, du hast absolut recht. Ich muss so lachen, weil das jeder in meiner Band, in meiner Familie und in meinem Freundeskreis sagt. Neben den Bands und WISH YOU WERE HERE, meinem Soloprojekt, von dem dieses Jahr auf jeden Fall noch mehr kommen wird, manage ich noch Bands und habe ein Label – darum kümmere ich mich, wenn ich zu Hause bin, von meinem Schlafzimmer aus. Also selbst wenn ich mal zu Hause bin, bin ich weg. Die meisten meiner Bandkollegen arbeiten nicht, wenn sie daheim sind, und das ist wesentlich smarter. Ich komme heim, mache einen Tag Pause und arbeite dann an meinen anderen Jobs. Das ist sehr schwierig ... nicht für mich, weil ich das alles liebe und brauche, deshalb tue ich es ja. Aber es ist schwierig, wenn ich mein Leben mit jemandem teilen will. Selbst wenn ich versuche, mir für Verabredungen freizunehmen, werde ich angerufen, ich checke meine Mails .... Also habe ich meine normalen Arbeitsstunden am Tag, zwischen 20 bis 23 Uhr tue ich nichts, und dann wacht man in Europa langsam auf und ich arbeite weiter in die Nacht hinein. Jetzt bin ich mit jemandem zusammen, der unglaublich verständnisvoll ist. Ich hätte sie fast verloren, doch diesmal habe ich mich zusammengerissen. Ich habe so viele Beziehungen wegen der Arbeit aufgegeben, aber sie ist so wichtig für mich, dass ich möchte, dass es funktioniert.

Also würdest du nicht sagen, du übernimmst dich? Oder kannst du mit ihr an der Seite damit umgehen?

Ich übernehme mich mit der Sache, die ich am allermeisten liebe. Um genau das Thema, über das wir gerade sprechen, darum dreht sich eigentlich das komplette neue Album. Das Cover zeigt einen Heißluftballon und zwei Hände, die kurz davor sind, einen Nagel hineinzuschlagen. Es ist, als wäre ich glücklich und zufrieden, gleichzeitig kann jeden Moment etwas explodieren. Das ist die Bürde, wenn man etwas tut, was man mehr als alles andere liebt. Ich habe so viel Glück, mich in der Musik so ausleben zu dürfen und auch noch Erfolg damit zu haben, gleichzeitig ist es wie ein Zwang und andere Dinge müssen darunter leiden. Das bedeutet auch der Titel „Certain Freedoms“. Es gibt Dinge, mit denen ich einfach nicht aufhören kann, und wenn das bedeutet, dass ich für immer alleine bleiben muss – dann akzeptiere ich das. Und sobald ich mich damit abgefunden hatte, kam auf einmal diese wundervolle Person in mein Leben. Lustig, wie alles am Ende funktioniert. Ich habe in dem Album einiges verarbeitet, ich fühle mich bereit, Dinge hinter mir zu lassen und vielleicht endlich meine eigene Balance zu finden.

Gab es denn je den Gedanken, irgendetwas zu beenden?

Na klar, die ganze Zeit. Seit Jahren denke ich immer mal wieder: Fuck it, ich lasse das mit STYG. Über STYG zum Beispiel denke ich den ganzen Tag nach. Ich kann nicht schlafen, weil ich überlege, wie sieht das nächste Merch aus? Wo können wir touren? Es läuft die ganze Zeit. Beziehungen, Freundschaften, Familie, meinen Körper – es hat vieles kaputt gemacht. Aber ich liebe Musik so sehr! Es ist das eine, was ich schon immer hatte und für immer haben werde, also bin ich immer erst mal loyal der Musik gegenüber. Aber so viele meiner Kollegen zeigen mir, dass man Band und Familie oder Beziehungen unter einen Hut bringen kann, ich muss nur meinen eigenen Weg und die richtige Person dafür finden. Und ich habe das Gefühl, diejenige habe ich jetzt gefunden. Früher hatte ich immer das Gefühl, meine Partnerinnen nehmen meine Arbeit und mein Leben nicht ernst genommen, sie dachten vielleicht: „Wenn die Bandphase vorbei ist, können wir eine ernsthafte Beziehung führen.“ Meine jetzige Freundin akzeptiert mich so, wie ich bin, und gibt sich so viel Mühe, dass es klappt, dass ich das Gleiche für sie tun möchte. Ich denke, genau so sollte eine Beziehung sein.