CHERUBS

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Eine Rock-Schrottkiste

Wer sich an die CHERUBS erinnert, wer einst zum Release Platten von Trance Syndicate kaufte, dem Label, das King Coffey von BUTTHOLE SURFERS in den Neunzigern betrieb, der ist ... alt. Andererseits: Noiserock wird nicht alt, und so sollte man sich mit CHERUBS aus Austin, Texas beschäftigen, die nur von 1991 bis 1994 existierten und 2014 wieder zusammen fanden. Gerade ist auf Relapse ihr neues Album „Immaculada High“ erschienen, zu dem ich Kevin Whitley (Gitarre, Gesang) ein paar Fragen stellte. Mit von der Partie sind auch die beiden anderen Originalmitglieder Owen McMahon (Bass, Gesang) und Brent Prager (Drums).

In einem Austin Chronicle-Artikel von 2015 über eure Reunion wurden du und Schlagzeuger Brent beschrieben als „Familienväter mit ordentlichen Jobs, die seit 1994 nicht mehr in festen Bands gespielt haben“. Was habt ihr gemacht in den letzten 25 Jahren?


Wir alle bekamen Kinder, diese Kinder wurden älter und dann zu Jugendlichen und jetzt durchleben sie die Zeit des jungen Erwachsenenseins. Wir haben ihnen früher die Ärsche abgewischt und jetzt tun wir so, als wüssten wir das nicht mehr und versuchen, ihnen nicht zu peinlich zu sein. Nur ein bisschen peinlich. Die CHERUBS haben sich ab etwa 1995 voneinander entfernt – NYC, San Francisco, Minneapolis, Asheville ... und wir fanden allmählich unseren Weg zurück nach Austin. Es gibt hier eine Community, in die wir damals eingebunden waren, und wir sind immer noch ein Teil davon. Wir sind alle gemeinsam in dieser Community aufgewachsen und sie gehört zu uns, egal was wir tun oder wohin wir gehen. Love to all our people, then and now.

Die Band existierte damals nur etwa drei Jahre. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit, die sehr intensiv gewesen sein muss?

Es war in kreativer Hinsicht eine explosive Zeit. Wir spielten alle in Bands, aber wollten immer nur noch mehr. Wir lebten, atmeten und aßen Musik. Owen und ich kamen zusammen, um ein paar Ideen auszuarbeiten, King spielte ganz kurz Schlagzeug und dann Brent für die nächsten dreißig Jahre. Wir waren musikalisch auf der Suche nach etwas, das wir nicht ganz zu beschreiben wussten – und daraus entstanden CHERUBS. Eine Rock-Schrottkiste, die gleichzeitig beängstigend und süß, mächtig und gebrochen, fehlgeleitet und göttlich war. Wie Pornografie. Wie Kunst. Nach ein paar Monaten spielten wir King ein Tape vor und er sagte, er wolle eine Platte rausbringen, sie in den Smart Studios in Madison aufnehmen. Wir hatten einen Namen und etwa acht Songs, einige von ihnen hatten Texte ... und wir hatten bisher keine einzige Show gespielt. Wir hatten nie außerhalb der Proben gespielt. Wir quetschten uns und so viel Ausrüstung wie möglich in einen Ford Fiesta und fuhren von Texas nach Wisconsin. Wir hatten ein Wochenende Zeit, um „Icing“ aufzunehmen und genau das haben wir getan. Ein kalter, rotzfrecher, fiebriger Rausch. Wir schlossen spät am Sonntagabend hinter uns ab, nachdem wir ein Tape von der Session gezogen hatten, warfen die Schlüssel in den Briefkasten und machten uns auf den Weg zurück nach Texas. In die falsche Richtung. Nachdem wir zwei Stunden Richtung Kanada unterwegs gewesen waren, erkannten wir unseren Fehler und drehten um, um nach Hause zu fahren. Mr. Colson hatte uns ein Tape mitgegeben mit allen Demos, die NIRVANA gerade für „Nevermind“ aufgenommen hatten, bevor die Plattenfirma sie dazu brachte, nach L.A. zu gehen – und wir haben es verloren. Wir kamen nach Hause und verließen unsere anderen Bands, reinigten den Fiesta nicht, ließen uns anschreien und fingen an, diese Band zu sein, von der noch nie jemand gehört hatte. Es war so perfekt dämlich, wie es nur ging.

Warum jetzt die Reunion?

Wir haben es vermisst, Musik zu machen und alles in das Universum hinauszuschreien. Wir haben diese Gabe vermisst. Wir vermissten die Menschen, die Kultur und das Chaos und den Geruch. Es war ätzend, zur Arbeit zu gehen, dann nach Hause zu kommen und jeden Tag aufs Internet starrend zu Abend zu essen – das bringt dich um.

War es schwierig, noch mal in den Sound der CHERUBS einzutauchen, als ihr wieder zusammenkamt? Ihr hattet damals andere Persönlichkeiten, eure Musik entstand vor einen bestimmten Hintergrund, euer letztes Album trug 1994 den Titel „Heroin Man“. Relapse beschrieb euch kürzlich mit den Worten: „CHERUBS entstanden aus der LSD-Punk-Szene Austins“. Das klingt nicht nach „Familienvätern mit ordentlichen Jobs“.

Wir wussten nicht, ob CHERUBS heute immer noch funktionieren oder Sinn ergeben würden ... in vielerlei Hinsicht tun wir es immer noch nicht. Aber wir haben gelernt, einen Schritt nach dem anderen zu machen – anstatt angesichts irgendwelcher Widrigkeiten einfach zu sagen: „Fuck it.“ Wir sind nicht mehr so egoistisch wie früher – Kinder zu haben bringt dich in dieser Hinsicht in die richtige Spur. Es ergab nicht viel Sinn, zusammen in einen Raum zu gehen und laute, aggressive Musik zu machen, in der selben Manier wie in unserer Jugend. Wir waren skeptisch, ob es Spaß machen würde, ob es natürlich wirken würde oder ob unser Interesse daran erhalten geblieben war. Aber bisher ist es so, was wunderbar ist. Es beweist, was für unterentwickelte Ungläubige wir doch sein müssen, um noch immer von dieser Höhlenmenschenscheiße begeistert zu sein. Es ist irgendwie peinlich, bei Familientreffen über deine kleine Rockband zu sprechen, und alle nicken anerkennend angesichts deiner unverständlichen, unmöglichen Lage. Zum Glücken wissen sie nicht, wie sich unser Sound tatsächlich anhört, denn dann wären sie besorgt und würden sich fragen, ob sie dich ins Krankenhaus bringen müssen. Was ist hier so schrecklich schiefgelaufen? Wir waren sehr überrascht, dass CHERUBS für uns nach all den Jahren immer noch einen Sinn zu haben schienen ... das ist es, was keinen Sinn ergab. Aber es fühlte sich an, als hätten wir noch etwas zu erledigen.

Die Noiserock-Szene der Neunziger Jahre ist heutzutage legendär. Was sind deine Erinnerungen? Gab es eine Verbindung zwischen den MELVINS, UNSANE, THE JESUS LIZARD und CHERUBS?

Obwohl wir alle in unserer eigenen Inselwelt lebten, fühlte es sich für mich so an, als wären wir in allem, was geschah und noch immer geschieht, verbunden und verwoben. Wir fühlen uns geehrt, zusammen mit diesen Bands genannt zu werden, aber diese Bands hatten seitdem ihre Reunions und wir lange nicht. Aber jetzt sind wir auch wieder da und versuchen, unseren Teil beizutragen. Wir haben kürzlich mit UNSANE gespielt und Chris sagte: „Ihr glaubt wohl, ihr könnt nach zwanzig Jahren wieder hier auftauchen und einfach weitermachen, während wir uns die ganze Zeit den Arsch aufgerissen haben!“ Aber ich verstand, was er meinte – es ist einsam, den Weg alleine zu gehen, und wenn man ein paar Bands an der Seite hat, die es gemeinschaftlich angehen, fühlst du dich stärker. Ich hoffe, wir kommen jetzt weiter als beim letzten Mal – wenn wir schon die Gelegenheit bekommen. Wir sind wie der alte Mann von nebenan, der mit zittriger Faust gegen die dumme Regierung, die dummen Jugendlichen und die dumme Welt wettert, bis irgendwann jemand sagt: „Halt die Klappe, alter Mann! Du klingst wie eine kaputte Schallplatte!“ Alt ist das neue Alt und es ist verdammtes Glück, wenn man in diesem Club sein darf. Schau dir David Yow von JESUS LIZARD an, bei einem Auftritt mit FLIPPER – das ist der Gipfel der Welt. Oder stell dir Buzz von den MELVINS vor an einem Truckstop irgendwo mitten in Amerika mit dieser Frisur – das ist wirklich die Königsklasse der Beschissenheit. Damals tourten wir ohne Internet oder Handy und wenn du ankamst, hast du dich mit dem ganzen Scheiß irgendwie arrangiert. Wir sind froh, dass nur noch sehr wenige Dokumente aus dieser Zeit existieren.

Kannst du mir etwas über euren musikalischen Hintergrund damals und auch heute erzählen? Auf welche Bands und Alben konntet oder könnt ihr euch einigen, welche haben euch direkt oder indirekt beeinflusst?

Mein Vater brachte mir eine Gitarre aus Mexiko mit, da war ich fünf Jahre alt oder so, und zeigte mir die wichtigsten Griffe von „Honky tonk“ von Bill Doggett. Danach waren es Bill Withers, King Curtis, Slim Harpo, STEPPENWOLF, Taj Mahal, KISS, AEROSMITH, BLACK SABBATH, THE SWEET, Jimi Hendrix, BUTTHOLE SURFERS, HEAD OF DAVID, GODFLESH, PUBLIC ENEMY, BLISSED OUT FATALISTS, PUSSY GALORE, CYPRESS HILL, NEW KINGDOM, CAPTAIN BEEFHEART, LED ZEPPELIN und all die Blues-Typen, von denen sie abgeschrieben haben, STICK MEN WITH RAY GUNS, Hamilton Bohannon, DRUNKS WITH GUNS, BLUE CHEER, THE BIRTHDAY PARTY, die ganze Krautrock-Revolution der Nachkriegszeit ... und das sind nur die Sachen, die mir gerade einfallen. Eines der Riffs von „Sugary“ haben wir, mit ihrer Erlaubnis, von einer Band aus Austin namens HEALING EXPLOSION geklaut. Dave Lewis schrieb dieses Riff und dann trennten sie sich. Das Hauptriff von „Cockpit – Kiss the shine“ übernahmen wir mit Erlaubnis von einer kurzlebigen Band Jason McNeelys, die COCKPIT hieß. Dieses Riff war mega gut und dann waren sie weg. Wir wurden von allem beeinflusst, was um uns herum vor sich ging. Hört mal in unsere Spotify-Playlist rein, die absolut nichts mit Noise zu tun hat und doch findet ihr da super seltsamen Scheiß, der macht einen wunderbar irre.

Austin war in den 80er und 90er Jahren ein wichtiger Ort für die Subkultur mit vielen tollen Bands. Wie ist es 20 oder 25 Jahre später, gibt es diese Szene noch?

Es gibt noch eine Szene. EXHALANTS, SUPERTHIEF, USA/MEXIKO, SHIT & SHINE, WATA, SEX PUMP ... Richard Lynn hat einige tolle Sachen gemacht und es wurde weitgehend ignoriert, aber er war wichtig für einige Leute und Bands. Dustin Pilkington macht viel zu viel, er ist anstrengend, Billy Bishop ist mit seiner Leona Gallery ein subkultureller Knotenpunkt geworden. So ist es eine Mischung aus Altem und Neuem, das nebeneinander existiert. Und es gibt Leute in der Szene, die die Dinge durch seltsamen Perspektiven beeinflussen ... Tara Bhattacharya Reed ist eine Person in der Szene, die von einer künstlerischen Position ausgeht und sich mit allen möglichen eklektischen, Performance-orientierten Arbeiten beschäftigt. Viele von der „alten Garde“ sind noch da ... Und für viele von uns ist das die einzige Chance zu arbeiten und zugleich in unseren kleinen Bands zu spielen und am besten noch die Kunst aller anderen zu unterstützen. Subkulturelle Knotenpunkte existieren dort, wo die Subkultur lebt – obskure Orte abseits der kritischen Blicke der Öffentlichkeit, wo progressive Inklusivität die einzige wirkliche Regel ist. Nur dann kann die Kultur prosperieren und große Geister hervorbringen.

Was ist mit eurem alten Label Trance Syndicate, King Coffey und den BUTTHOLE SURFERS passiert?

King wohnt nur ein paar Meilen entfernt und wir sehen uns alle halbwegs regelmäßig. Ich durfte einen CHERUBS-Song auf der neuen Platte von USA/MEXIKO singen. Sie coverten hingegen „Shoofly“ auf ihre außergewöhnliche, brutale Weise. Fantastisch. Und Pinkus steuert einen Ein-Mann-Banjo-Jam bei. Gibby ist in NYC und hat gerade sein erstes Buch veröffentlicht. Jason von STARFISH jammt mit seiner Crew und nimmt Bands im BBQ Shack auf. Theresa triffst du mal mehr, mal weniger auf Social Media. Paul sah ich vor einiger Zeit im Supermarkt, er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift„Hillary For Jail“ und fragte mich, warum wir alle noch am Leben seien. Und Trance ist zurück zur Symbionese Liberation Army gegangen, schätze ich. Das ist der Fluch des Hearst-Vermächtnisses. Arme Patty Cake.

Ich bin alt, ich mag euer neues Album wirklich. Wer sonst wird so etwas noch in einer Welt hören, in der Rap und R’n’B die einzige relevante Musik zu sein scheint?

Ich bin auch alt, und es gefällt mir wirklich, dass du unser neues Album magst. Wir spielten neulich in Houston und da waren diese 14-jährigen Kids, die ganz vorne rockten, und es brachte mich fast dazu, Tränen salziger Freude zu weinen. Ein Problem, das ich sehe, ist, dass die Clubs, in denen entsprechende Bands spielen, meist keine Leute unter 21 reinlassen. Dabei geben diese Kids einen Scheiß auf das Saufen, tatsächlich ist es wahrscheinlich abstoßend für sie, angesichts der Welt, in der wir sie in unserem betrunkenen Egoismus alleingelassen haben. Ich denke, es könnte viele Kids geben, die sich liebend gerne auf einem blöden, lärmigen Fest ihre Seelen aus dem Leib schreien wollen – aber wir bemühen uns nicht genug, um sie zu erreichen im Sinne von „Alle sind willkommen“. Wir spielen normalerweise in einem Standard-Clubkontext – und das ist nicht gerade eine vorteilhafte Umgebung. Es gibt also ein Kontextproblem. Und es gibt wahrscheinlich auch ein Halt-die-Klappe-alter-Mann-Problem ... so ähnlich wie auf politischer Ebene in den USA.

Wie und mit wem habt ihr das Album aufgenommen und gemischt, und war vorher bereits klar, dass es so klingen würde, als gäbe es eine direkte Verbindung zu „Heroin Man“?

Wir haben das Album mit Erik Wofford in den Cacophony Studios aufgenommen. Es liegt in unserer Nachbarschaft, direkt am Fluss. Er ist jünger als wir, war aber damals ein Fan und sieht CHERUBS deswegen, aber durch seinen Beruf, auch aus einer professionellen Perspektive. So war es einfach, schnell die Sounds hinzubekommen, die wir wollten – er wusste, was zu tun ist. Er war flexibel, als wir Sachen in die Tonne treten wollten, und geduldig genug für das richtige Maß an Kaputtheit. Er half uns bei der Herstellung der Strahlen und Formen wie ein schlau grinsender Schamane. Wir flatterten um ihn herum und er schlug nach uns wie nach lästigen Fliegen – aber wenn wir laut genug summten, hat er nachgeben und uns unsere kleinen Spielereien erlaubt. Wir haben uns nicht bewusst bemüht, an den Sound von „Heroin Man“ anzuknüpfen, aber ein Leopard kann seine Streifen nicht ablegen und ein Zebra nicht seine Flecken. Hier sind wir also, alte Männer, die einfach nicht die Klappe halten können.