DIE STIMME DER VERNUNFT

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Konzertsuperhelden IV

Wer dachte, er hätte es hinter sich, hat sich ganz gewaltig geschnitten. Eine schwächebedingte Auszeit später wenden wir uns weiteren Vertretern der gar nicht mal so seltenen Spezies an Superduperhelden zu, die schon in geringster Dosierung 98% der Restanwesenden den Abend ordentlich versauen können. Im Grunde ja alles tragische Gestalten, die bei einem Waldspaziergang niemals Wildtiere zu Gesicht bekommen und die auch bei der zehnten Ausfahrt zum Whale-Watching außer der Sichtung einer angeschwemmten toten Robbe nur zu dem Ergebnis kommen können, dass sich im Meer außer Plastikabfällen keinerlei Lebewesen tummeln. Deswegen aber in Mitleid zu verfallen wäre die falsche Reaktion, denn als Nervenarsch kommen nur die Wenigsten zur Welt. Das ist schwere, harte Arbeit, für die man sich als Gegenleistung durchaus die eine oder andere verbale und körperliche Maulschelle verdient. Aber bitte, keine Gewalt, wo nicht unbedingt nötig.

Die Low Attention League

Kräfte/Fähigkeiten:


Sickern trotz Kostümierung unerkannt in jedes Konzert ein, erscheinen dabei jovial, interessiert und angenehm, bis sie sich nach etwa 20 bis 30 Minuten als Flashmob outen, der sich nach Verbrauch der kompletten Aufmerksamkeitsspanne kollektiv wichtigeren Themen zuwendet, die in ellenlangen Monologen lautstark ausdiskutiert werden. Sehr beliebte Themen: Klausurvorbereitungen, unaufmerksame WG-Mitbewohner, kalorienreduziertes Yoga, Bartfilzlausbehaarung oder der zwölfte erfolgreich abgebrochene Studiengang, aber vorher erst mal Urlaub! Einzelne Mitglieder der L.A.L. können sowohl tanzen als auch nebenher quatschen, was die Identifizierung nicht unbedingt einfacher macht. Einzelexemplare zücken im günstigsten Fall einfach nur ihr Smartphone, um im Minutenabstand ihr Leben zu checken.

Schwächen: Alles was lauter ist als sie selbst

Natürliche Feinde: Bands, die nach Ankündigung die Bühne verlassen, wenn die da hinten nicht endlich mal ihr Maul halten, Hintere-Reihen-Danceman, jeder, der ein „Du laberst nur Scheiße“ über die Lippen bringt und die Allzweckwaffe Bierverschüttmann.

Präsenzquotient: Je mehr der Laden nach einem erweiterten Wohnzimmer aussieht, desto höher die Wahrscheinlichkeit.

Nervfaktor: 7-8

Phlegmato

Kräfte/Fähigkeiten:
Ein stummer Vertreter, der unbewegliche Fels in der Brandung, der mitten vor der Bühne emotionslos wahlweise mit verschränkten Armen steht oder über die Dauer des kompletten Sets mit einem hochkant gehaltenen Smartphone das Geschehen auf der Bühne filmt. Nervt nicht durch Gelaber, sondern durch seine stimmungstötende schiere Präsenz, denn er ist gerne groß, massig und behäbig zugleich, sodass er den hinter ihm Stehenden nicht nur die Sicht versperrt, sondern auch noch den Platz zur freien Entfaltung, sprich Tanzen, nimmt. Gut gemeinten Ratschlägen, dass er sich doch gefälligst an den Rand verpissen soll, begegnet er in nachsichtiger und freundlicher Weise, vergleichbar mit einem Braunbär, den man gerade aus dem Winterschlaf geweckt hat, um die Höhle kurz mal durchzulüften.

Schwächen: Maximal die eigene Blase, die ihn zur Toilette treibt, allerdings kann sich Phlegmato auch über einen gesamten Abend an einer kleinen Apfelschorle festhalten.

Natürliche Feinde: Mr. Extatic, Bierverschüttmann, die Plum Gang und alle, die nicht auf Krücken vor der Bühne stehen.

Präsenzquotient: Aufgrund der Vielzahl seiner natürlichen Feinde maximal bei 20%

Nervfaktor: 6

Der Beatdowner aka der Affenhardcore-Mann

Kräfte/Fähigkeiten:


Sportlich, durchtrainiert, testosterongeschwängert, kampferprobt, wie Rambo (ab Teil 2) eine Ein-Mann-Armee, die jeden Konzertsaal aufmischen kann. Spricht zwar nicht, dafür gehören zu seinem Repertoire Roundhousekicks, Windmühlenarme, Bodychecks, MMA-Moves und alles, was er sonst noch für „Tanzen“ hält. Der Affenhardcoremann (landläufig auch bekannt als „Bumsmongole“, zumeist in Verbindung mit einem Esel oder Maultier) hat es immerhin schon zu einer eigenen kleinen, aber feinen Facebookfanseite gebracht, wo er abgefeiert wird. Die vom Aussterben bedrohte Spezies verirrt sich nur sehr selten in fremde Reviere und wenn doch, wird sie in aller Regel nach kurzer Vorwarnung meist kollektiv chirurgisch aus dem Saal entfernt. Unter sich werden die imposanten Rangfolgekämpfe meist bis zum letzten stehenden Mann ausgetragen, was das langsame Aussterben erklärt, denn einerseits tut sich keine normale Frau so etwas freiwillig an (normale Männer übrigens auch nicht, nur für den Fall, dass hier jemand auf dumme Gedanken kommt), andererseits möchte man sich so etwas auch nicht in der Wohnung halten.

Schwächen: Keine, außer seine heimliche Vorliebe für echte Zärtlichkeit

Natürliche Feinde: Der Affenhardcoremann 2.0, das K.O.L.L.E.K.T.I.V., Kickboxkid und andere echte Kampfsportler

Präsenzquotient: Selten in freier Wildbahn anzutreffen, kleinere Rudel wurden noch im Osten und im Ruhrgebiet gesichtet.

Nervfaktor: 9,9

The Legend

Kräfte/Fähigkeiten:


Ein ähnlich wie die Eintagsfliege wiederkehrendes, singuläres Phänomen, das stets paarweise auftritt. Leicht als Fremdkörper zu erkennende Absolventen irgendeiner Schul- oder Hochschullaufbahn, die sich mehr oder minder auf ein Konzert verirrt haben, als ginge es um die Absolvierung einer Mutprobe. Jeder noch so kleine Schritt wird lautmalerisch unterstrichen, jede für alle anderen Anwesenden normale Nichtigkeit im Nu „legendär“. Da man sich Mut gegenseitig leider nicht leise zusprechen kann, kann man dem Pennälerreigen nur schwer entgehen, schon gar nicht weil eine körperliche Begegnung mit den Grobmotorikern nahezu unausweichlich ist. „Nur eine Phase“ ist bei „The Legend“ mehr oder minder nicht mehr als ein beim Abschütteln erzeugter vorzeitiger Samenerguss, der in der späteren Erinnerung (ca. ab Antritt des Heimwegs) größer, länger und immer unglaublicher wird. Es handelt sich um exakt die Typen, die in 20 oder 30 Jahren bereitwillig für zahlreiche Interviews bereit stehen, weil sie ja auch mal Punks waren.

Schwächen: Das gesamte Leben

Natürliche Feinde: Jeder im Laden, in dessen natürliches Habitat eingedrungen wird. Vergleichbar mit einer Trauerfeier, in die ein angetrunkener Junggesellinnenabschied platzt.

Präsenzquotient: Unterjährig selten, gerne zum Semesterabschluss, sowie in der Zeit zwischen Abiturprüfungen und Beginn des BWL-Studiums.

Nervfaktor: 6

Dr. Tinder-Match aka The Chauvinist

Kräfte/Fähigkeiten:


Eigentlich Dr. Falscher Algorithmus, der beim Tindern oder Parshippen versehentlich als Treffer ausgegeben wurde. Ein ausschließlich männlicher Vertreter, der seiner weiblichen Begleitung ausdauernd und subtil eindrucksvoll antiquierte Geschlechterrollen demonstriert, indem er das Aufkeimen eigener Gedanken mit einem belehrenden Dauermonolog im Keim erstickt. Dabei nervt er ganz nebenbei alle Umstehenden, die in den letzten zwanzig Jahren wenigstens einmal auf einem Konzert waren und grob das Instrumentarium auseinanderhalten können. Sympathisch wie ein nässender Ausschlag im Schritt und so spritzig wie eine Packung Kohletabletten, da muss man sich wirklich fragen, wie verzweifelt oder höflich die arme Frau neben ihm sein muss, denn letztendlich ist nicht mal der beste Sex der Welt es wert, sich stundenlang ein derart veraltetes Weltbild durch die Ohren blasen zu lassen.

Schwächen: Wisch und weg, Kenn-ich-schon-Girl

Natürliche Feinde: das 21. Jahrhundert, der andere Tinder-Boy

Präsenzquotient: Viel zu häufig auf viel zu leisen Konzerten, bei denen man auch mal Ungeübte mitnehmen kann

Nervfaktor: 8

One Hit Wonder aka „The Brain“

Kräfte/Fähigkeiten:


Mit Einsetzen des ersten Tons skandiert One Hit Wonder lauthals unablässig nach einem Lied aus dem umfangreichen Repertoire der Band, das als Hit nicht selten ohnehin im Zugabenblock auf der Setliste steht, wo es aus dramaturgischen Gründen auch hingehört. Die abgespeicherte Information kann sich auch mal auf eine frühere Bandinkarnation oder ein Nebenprojekt einzelner Bandmitglieder beziehen. Wenn gar nichts geht, wünscht er sich mit der einfühlsamen Eindringlichkeit eines mitternächtlichen Kneipenheimkehrers, den es bei Glatteis direkt unter deinem Fenster verdientermaßen auf die Schnauze gehauen hat, auch mal einen Song einer völlig anderen Band. Der Legende nach war das One Hit Wonder einmal ganz normal und unauffällig, bis Wortschatz, Leber und Hirn durch ständige Beigabe von Hydroxygruppen auf Tischtennisballgröße geschrumpft wurden.

Schwächen: Gelächter, wenn sich der halbe Saal über ihn lustig macht, Alkoholunverträglichkeit und die Fähigkeit, daran unbeschadet vorbeizugehen.

Natürliche Feinde: Watschn Woman, Gevatter Alkohol, Wir-sind-die-Band-und-Du-hältst-jetzt-mal-die-Schnauze-Gang

Präsenzquotient: Kommt aus dem Nichts, taucht dann aber stetig so lange auf, bis die Zahl der übrigen Hirnzellen etwa 50% unterhalb der lebensnotwendigen kritischen Masse angelangt ist. Wächst leider ständig nach. Fallweise häufig oder eben superselten.

Nervfaktor: 10,5

Deaf-Dealer

Kräfte/Fähigkeiten:


Egal wie laut es ist und wie gering der Abstand vor den Boxentürmen auch sein mag, der Deaf-Dealer hat eine Botschaft für die Ohren seines Opfers, die nicht selten in die tiefenentspannte Phase des Musikgenusses mit geschlossenen Augen fällt. Dabei übertönt er den aktuellen Lautstärkepegel und brüllt dem Rezipienten direkt ins Ohr, was einen langanhaltenden Tinnitus oder Gehörsturz auslösen kann. Die Botschaft im Übrigen lautet fast immer: Vllglbndmgschnbr oder Uaaaaargh!

Schwächen: Peinliche Stille, Rückfragen wie „Was“, und Menschen, die Lippen lesen können

Natürliche Feinde: Herzinfarkt-Boy, die lebende Kopfnuss

Präsenzquotient: Allgegenwärtig, wo es wirklich laut ist

Nervfaktor: 7