CHELSEA WOLFE

Foto© by Ebru Yildiz

Existenzielle Erfahrungen

Eine Künstlerin lädt ein, ihr neues Album als einen Schritt in die eigene Authentizität zu erleben. Das Ganze ist eine gestaltwandlerische Reise zwischen Folk, Industrial, Post-Hardcore, Goth, Ambient, Metal und zwölfunddreißig weiteren Musikrichtungen. Es handelt sich um das neue Werk von Chelsea Wolfe.

Seit 2010 hat die vielseitige Musikerin aus dem kalifornischen Sacramento nicht nur sechs unter die Haut gehende Soloalben herausgebracht, sondern kollaborierte auch mit unzähligen anderen Künstlern. Von Anarchopunk über Metal zu Neofolk und experimenteller Musik ist alles dabei: CONVERGE, KING DUDE, SUNN O))), XIU XIU und NEUROSIS sind nur einige Beispiele. Der thematische Schwerpunkt der im Februar 2024 erscheinenden Platte „She Reaches Out To She Reaches Out To She“ liegt zum großen Teil auf einer existenziellen Erfahrung, die Chelsea Wolfe vor kurzem durchlebte, und deren Auswirkungen.

Dein neues Album beschreibt eine Wiedergeburt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Kann es als eine Lebensreise verstanden werden?
Natürlich, ja. Die Themen des Albums sind sehr universell, gefiltert durch die Wahrnehmung meiner eigenen Reise durch einen Wald.

Mein Lieblingslied ist „House of self-undoing“. Du hast im Vorfeld erwähnt, das Lied handelt von vielen Jahren der Selbstbetäubung und dem jetzigen Zustand der Nüchternheit. Hat der dir geholfen, den roten Faden des Albums zu finden?
Nüchtern zu werden nach all den Jahren des Trinkens ist wie eine Wiedergeburt, somit ist das Thema unterschwellig auf der Platte vorhanden.

Geht „Everything turns blue“ in eine ähnliche Richtung, nur dass es davon erzählt, sich aus einer toxischen Beziehung zu befreien?
Der Text handelt davon, Modalitäten für sich auszuhandeln, wie man nach einer toxischen Beziehung Heilung erfahren kann.

Wie gelangst du an den beschriebenen Punkt von Self-Empowerment, um deine Authentizität zu finden?
Für mich war nüchtern zu werden der erste große Schritt. Ich habe den Alkohol benutzt, um offener und geselliger zu werden, während mein wahres Naturell eher introvertiert und ruhig ist. Vom Alkohol und den damit verbunden Fallstricken zu lassen, hat mir Raum gegeben, um zu mir selbst zu finden. Ich konnte erforschen, was mir wirklich Freude bereitet, anstelle so viel von meiner Energie in bodenlose Löcher fallen zu lassen.

Hinter „She Reaches Out To She Reaches Out To She“ steckt ein langer Arbeitsprozess, vom Schreiben der Songs mit anderen Musikern bis hin zu der Produktion durch Dave Sitek, bekannt durch TV ON THE RADIO, und Shawn Everett. Unterscheidet sich das Ergebnis stark von dem, was du zu Beginn im Kopf hattest?
Strukturell sind die Unterschiede nicht sehr groß, aber dass so viel Lebendigkeit durch die Zusammenarbeit mit Dave und dann mit Shawn hereinkam, war überraschend. Ein Stück namens „Red vein“ verwandelte sich in ein ganz anderes Lied namens „Eyes like nightshade“. Das war ein wirklich interessanter Vorgang. Ich weiß nicht mal, ob man beim Vergleich des Originaldemos und des fertigen Songs erkennen würde, dass die beiden Tracks etwas miteinander zu tun haben oder ob das eine aus dem anderen entstanden ist.

Wie lief das Schreiben der Songs ab? Wart ihr gemeinsam im Studio oder habt ihr euch erst mal interessante Einfälle und Stücke zugeschickt?
Da wir 2020 mit der Arbeit anfingen, war es zuerst ein Hin- und Herschicken von Ideen. Wir hatten nicht erwartet, dass die Scheibe einen so langen Prozess durchlaufen wird, aber wir waren dankbar für die Extra-Zeit, zum Beispiel für das Schreiben der Texte und auch um sicherzugehen, dass ich auch das sage, was ich wirklich ausdrücken möchte.

Ist „Place in the sun“ ein positives Resümee, nachdem du durch eine düstere Phase gegangen bist? So etwas wie eine Hoffnung oder ein tatsächlicher Ort in deinem Leben?
Es ist als eine positive Affirmation gemeint, damit du dich besser und wohler in deinem physischen Körper fühlst, deine Stimme nutzt und daran Freude findest.

Wenn ich das Album höre, habe ich häufig ein Bild von einer Schlange vor Augen, die sich aus ihrer alten Haut befreit.
Es sind darauf sehr viele befreiende Elemente zu finden, die sich wie so eine Häutung anfühlen. Lasse das hinter dir, was nicht länger passt, und ziehe von dort aus weiter. Auf dem Papier hört sich das sehr simpel an, aber im wahren Leben kann es sehr schwierig sein, weil das auch alles und jeden um dich herum beeinflusst.

Du schreibst häufig sehr introvertierte Texte. Überlegst du manchmal, was dein Publikum darin sehen und finden wird, oder taucht das in so einem Moment nicht in deinen Gedanken auf?
Wenn ich etwas sehr Persönliches schreibe, weiß ich, dass irgend jemand anderes eine Verbindung dazu aufbauen können wird. Ich weiß, dass ich nicht allein bin auf dem Weg, den ich gehe, und ich hoffe, dass Menschen mit ähnlichen Problemen beim Hören spüren, dass auch sie nicht allein sind.

Ich habe gelesen, dass du bereits im Alter von sieben bis neun Jahren anfingst, Gedichte und Lieder zu schreiben. Was waren die ersten Bezugspunkte neben deinem Vater, der auch Musiker ist?
Das erste Gedicht, das ich schrieb, handelte, soweit ich mich erinnere, vom Überlappen von Geräuschen und Emotionen. Ich war in unserem Hof und es hatte begonnen zu regnen, in dem Moment fuhr ein Krankenwagen vorbei und der Nachbarhund fing an zu heulen. Ich erinnere mich, dass ich dachte, diese Kombination von Sounds ist eine ganz eigene Art von Musik.

Ist es eine andere Form von Arbeit, wenn du einen Score für einen Film schreibst, wie mit Tyler Bates für Ti Wests Horrorfilm „X“?
Es ist komplett anders, aber auch sehr interessant. Meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, den Hauptfiguren Stimme und Charakter zu verleihen, was zum Teil aus Singen bestand, aber auch aus dem Erzeugen gutturaler Laute. Es hat mich ermutigt, mit meiner Stimme verletzlicher zu werden und neue Dinge mit ihr zu probieren.

Magst du Horrorfilme generell? Oder ein bestimmtes Subgenre?
Ich kann mit Filmen, in denen viel Gewalt und Blut vorkommt, nichts anfangen. Ich habe es geliebt, an „X“ zu arbeiten, aber um ehrlich zu sein, fand ich es auch belastend, mir einige der gewalttätigen Szenen immer wieder ansehen zu müssen. Meine Lieblingsfilme in dem Bereich haben eher einen Mystery-Touch wie „Thirst“, „Only Lovers Left Alive“, „So finster die Nacht“, „The Others“ und „Poltergeist“.