25 Jahre später: PILLBOX

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Tired? (CD, Impact, 1995)

Wie viele Leute, die das hier lesen, kennen wohl diese Band? Ich muss etwas ausholen. Karlsruhe hatte Mitte der Neunziger wie wohl jede deutsche Stadt eine äußerst florierende Hardcore/Punk-Szene. Das Besondere dabei: Jeder kannte jeden und fast jeder hing mit fast jedem herum. Metalcore, Straight Edge Hardcore, Punk, NYHC, Chaoscore und und und – all diese Schubladen bildeten am Ende des Tages einen stabilen Schrank. So krasse Zimmermannshandwerkskunst und nicht so Ikea-Quatsch. Klingt total pathetisch, ja. Aber so war es. Der Gipfel war ein zweitägiges Festival namens Karlsruhe Hardkern im JUZ Eggenstein, bei dem mindestens zwanzig lokale Bands spielten, dazu gab’s noch einen Sampler und ein Fanzine. Heute unglaublich. Damals normal. Eine Szene ohne Gier, offen für alle, immer diskussionsbereit und nicht gleich am draufhauen, DIY und gegenseitiges Supporten und Pushen bis zum Anschlag. Und hier kommen PILLBOX ins Spiel. Damals (neben den BAFFDECKS) das Flaggschiff der KAHC-Szene. Alles gute Musiker, gute Menschen, die für den Scheiß lebten. Touren mit THE EXPLOITED und Shows mit YUPPICIDE, STRAIN, CAUSE FOR ALARM waren damals „auf dem Dorf“ eine Ansage.
Nach dem grandiosen Demo veröffentlichten PILLBOX mit „Tired?“ ein unglaublich auf den Punkt gebrachtes Album. Im kleinen Kreis gefeiert, hat es jedoch landesweit in der Szene nie Anklang gefunden. Vielleicht trug das seltsame Artwork seinen Teil dazu bei. Vielleicht waren es die nur wenig wohlwollenden Reviews der „Fachpresse“ oder vielleicht war es die unglückliche Auswahl des Labels. Denn bei dem Duisburger Impact Records mit metallischem NYHC-Sound zwischen DÖDELHAIE, DAILY TERROR, RAZZIA oder TOXOPLASMA war einfach nicht viel zu holen.
In dieser Zeit, als die RYKER’S und SICK OF IT ALL die großen Brocken waren, war es traurig mitanzusehen, wie eine so gute Band mit einer so guten Platte völlig unter den Tisch fiel. PILLBOX haben mit „Tired?“ einfach einen deutschen NYHC-Style abgeliefert, für den sich viele heutige Bands prostituieren würden. Das sind 15 top produzierte Brecher inklusive NIRVANA-Seitenhieb, CRO-MAGS-Huldigung, Instrumentaltrack, Groove, ordentlich Geschwindigkeit, Melodien, Power, sozialkritischen Texten und „World in illusion“, einer meiner liebsten deutschen Hardcore-Songs. Der Gesang von Gitarrist Hilmar bei diesem Song zerlegt auch 2020 einfach alles. Noch mal zurück nach 1996, in Ox #22 steht: „Deutschland und Hardcore scheint nicht die beste Verbindung zu sein.“ Und jetzt? Die Ox-Ausgabe in deinen Händen sagt: PILLBOX haben mit „Tired?“ gezeigt, dass man nicht aus den USA kommen muss, um ein großes Hardcore-Album zu liefern, das 25 Jahre später immer noch Eindruck hinterlässt.