35 Jahre später: JESUS AND MARY CHAIN

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Psychocandy (LP, Blanco Y Negro, 1985)

Mit ihrem Debütalbum „Psychocandy“ definierten THE JESUS AND MARY CHAIN einen neuen Standard in Sachen surreal übersteuerter Gitarren mit endlosen Feedbackschleifen und Rückkoppelungskakophonien – und irgendwie war es auch die Geburtsstunde von Shoegaze. Der bekannteste Song der Band – geprägt vom lakonischen, fast gelangweilten Auftreten der Brüder William und Jim Reid zwischen Eskapismus und Resignation –, dürfte von diesem Album „Just like honey“ sein, der auch in der Schlusssequenz des Films „Lost In Translation“ (2003) zu hören ist. Scarlett Johansson und Bill Murray trennen sich auf einer belebten Straße in Tokio mit einem dahin gehauchten Kuss und der erste Drumbeat des Songs setzt ein – ein perfektes Fitting.
Ihre Auftritte in den Achtziger Jahren verhalfen THE JESUS AND MARY CHAIN zu Kultstatus. Nicht selten verließ die Band die Bühne, stellte zuvor die Gitarren sorgsam in den gut platzierten Gitarrenständer und das markerschütternde Feedback lief zeitweise eine halbe Stunde weiter. Man hatte noch drei Tage später ein Dröhnen in den Ohren. Nach einem nur 15-minütigen Auftritt im Electric Ballroom im Herbst 1985 in London, der nichts als nervenzerreißenden Noise lieferte, flogen im Anschluss länger Flaschen, Gläser und Dosen auf die Bühne, als das „Konzert“ selbst gedauert hatte. Nicht nur musikalisch stand die Band THE VELVET UNDERGROUND nahe. „The best band in the world ever, they were the Mary Chain before the Mary Chain“, so Jim Reid.
Wie Lou Reed sah man die Brüder, in ihren Zwistigkeiten den Gallagher-Brüdern von OASIS nicht unähnlich, auch in geschlossenen Räumen selten ohne tiefschwarze Sonnenbrillen. In ihren Songs wurde der graue Nihilismus zuckersüß aufbereitet und mit Echos und Reverb durchtränkt. Das Feedback wurde durch die Manipulation ihrer Gitarren-Vibrato-Systeme, Kippschalter und die physische Nähe zwischen den Gitarristen und ihren Verstärkern erzeugt. Die entrückte Distanziertheit von Jim Reid kannte man bisher in dieser Form nur von Rowland S. Howard, mit dem sie zudem ihre Liebe zu den THE SHANGRI-LAS teilten. Ohne THE JESUS AND MARY CHAIN wären Bands wie MY BLOODY VALENTINE nicht denkbar gewesen.
Aufgenommen wurde „Psychocandy“ in den Southern Studios in London, in dem auch die Anarchopunks CRASS seit 1978 ihre Alben einspielten. Eine kuriose Fußnote des Albums ist, dass die erste Single „Never Understand“ wegen ihrer B-Seite „Jesus sucks“ vom Presswerk aufgrund des blasphemischen Untertons nicht hergestellt wurde, bis der Titel in „Suck“ geändert wurde, was nicht verhindern konnte, dass „Never understand“ im NME der Song des Jahres 1985 wurde.