AM SAMSTAG

Foto© by Band

The Seattle Grunge Sound Of Today

Die aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz kommenden AM SAMSTAG haben nach einer EP jüngst mit „Dualism“ ihr erstes Album veröffentlicht. Die Band macht Grunge mit ordentlicher Punk-Kante und so war es konsequent, dass sie die LP beim „Godfather“ Jack Endino in Seattle aufgenommen haben, der in den Neunzigern, aber auch danach, alle namhaften Bands des Genres produziert hat. AM SAMSTAG bestehen aus Bassist Stephane Grand, Drummer Baptiste Maier und Sängerin/Gitarristin Gabriela Varela.

Gabriela, mein musikalischer Hit auf eurer neuen Platte ist der Song „Miss Butch“. Textlich scheint er „Butches“ sehr verkürzt als bewusst maskulin wirkende Lesben zu kritisieren – zumindest verstehe ich so die Zeile „Miss Butch I know I’m gay but I won’t go that low“ – „Miss Butch, ich weiß, dass ich gay bin, aber so tief werde ich nicht sinken“.

Zunächst einmal bin ich lesbisch. Ich habe schon Männer gedatet, aber ich stehe mehr auf Frauen. Zweitens habe ich den Song für eine Ex-Freundin geschrieben. Sie hat sich in nur wenigen Monaten von ultraweiblich, also „Miss“, in ultrajungenhaft, das meint hier „Butch“, verwandelt. Sowohl im Aussehen als auch im Verhalten. Ich habe einige Butch-Freundinnen und ich respektiere ihre Lebensweise. Aber ich bin eine Frau, die andere Frauen mag. Ich gehe nicht gern mit lesbischen Butch-Frauen aus. Um ehrlich zu sein, auch wenn ich zur homosexuellen Gemeinschaft gehöre, verstehe ich Schwule nicht, die sich wie Frauen verhalten und Lesben nicht, die sich wie Männer verhalten. Ich meine, wenn man das Bedürfnis hat, sich wie das andere Geschlecht zu kleiden oder zu benehmen, reden wir nicht mehr über Homosexualität, sondern über sexuelle Identität. Und das ist für mich kein Problem. Ich habe auch Trans-Personen unter meinen Freunden. Es ist nicht einfach, diese Zeile zu erklären, ohne explizit zu werden. Diese Ex-Freundin wollte, dass ich beim Sex einige seltsame Dinge tue – zum Beispiel ihren verdammten Dildo lutschen. Komm schon! Wenn ich einen verdammten Schwanz lutschen wollte, würde ich einen echten lutschen. Weißt du, was ich meine? Also ja, ich bin gay, aber so weit würde ich nicht gehen. Ich habe diesen Song jedenfalls nicht geschrieben, um Lesben zu verurteilen oder zu beleidigen.

Das klingt ähnlich wie der Hintergrund bei „Guilty of being white“ von MINOR THREAT. Ian MacKaye erzählte von seinen ganz persönlichen Erfahrungen in seiner Nachbarschaft. Und viele Leute dachten, das sei seine generelle Meinung zu Schwarzen.
Ganz genau. Es ist meine Geschichte und meine persönliche Erfahrung. Ich habe absolut kein Problem mit Butches und Trans-Personen. Ich habe sie nur lieber als gute Freunde und nicht in meinem Bett. Ian MacKaye hat damals in dem Song ein äußerst heikles Thema angesprochen, das aber auch heute noch aktuell ist. Er kommt aus einer „besseren Familie“, ging aber auf ein College, das fast ausschließlich von schwarzen Studenten besucht wurde, die ihn genau wegen seiner Hautfarbe und seiner familiären Situation ins Visier nahmen. Und sowas wird sich nicht ändern, solange es eine solche Kluft in der amerikanischen Gesellschaft gibt. Wir hatten die Gelegenheit, 2019 in den USA zu spielen, und ich kann dir sagen, dass die Stadt Chicago diese Kluft perfekt veranschaulicht. Es war ein echter Schock. Ich denke, dass die Eingruppierung der Bevölkerung nach Hautfarbe, Religion, Sprache – oder was auch immer – der beste Weg ist, um Rassismus aufrechtzuerhalten. Und das gilt sowohl für Weiße als auch für Schwarze. Leider gibt es viele Themen, die nicht mehr diskutiert werden können, ohne diese oder jene Gemeinschaft zu verärgern. Die Menschen werden systematisch als rassistisch, homophob oder antisemitisch bezeichnet. Die Welt wird ein viel besserer Ort sein, wenn wir aufhören, über „Gemeinschaften“ und „Minderheiten“ zu reden, denn das ist alles Blödsinn. Wir müssen lernen, in Harmonie zu leben, denn die Erde gehört allen.

Meiner Meinung nach kann man aber den Rassismus gegen einige wenige Weiße nicht mit dem strukturellen Rassismus gegen Nicht-Weiße vergleichen, oder?
Nein, natürlich nicht! Ich vergleiche nichts, das war nicht mein Punkt. Ich bin eine brasilianische Einwanderin in der Schweiz, lesbisch, mein Großvater ist weiß und jüdisch und meine Großmutter ist schwarz und katholisch, Tochter von Sklaven aus Afrika. Ich bin mir bewusst, dass Rassismus vor allem nicht-weiße Bevölkerungsgruppen betrifft und dass es ihn seit Jahrhunderten gibt. Auch meine Familie und ich haben unter Rassismus gelitten. Die Geschichte hat gezeigt, dass weiße Kolonialherren Gräueltaten begangen haben, aber zu sagen, dass alle Weißen im 21. Jahrhundert rassistisch sind, finde ich nicht richtig. Sollten wir denken, dass alle Deutschen Nazis sind? Sicherlich nicht. Und doch ist genau das passiert, während des Zweiten Weltkriegs und noch viele Jahre danach. Die Leute denken das tatsächlich immer noch. Ich finde das absurd. Ich dulde keine Form von Rassismus. Ich denke, wir sollten in der Lage sein, all diese Ressentiments zu überwinden, einander kennenzulernen und in Harmonie zu leben.

Du hast angesprochen, man dürfe heute nicht mehr alles sagen ...
... ohne, dass sich jemand angegriffen fühlt. Oft wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt und nach Fehlern regelrecht gesucht. Das Lachen ist uns völlig abhanden gekommen.

Meiner Meinung nach darfst du alles sagen – du musst halt mit den Konsequenzen leben.
Natürlich! Es gibt selbstverständlich auch viel, was nicht gesagt werden dürfte. Zum Beispiel wenn der französische Präsidentschaftskandidat in der ersten Runde, Éric Zemmour, letztens so einen Bullshit erzählt, dass jeder Muslim ein radikaler Islamist ist. Und zum anderen haben wir die Redefreiheit – je nachdem, wo du lebst. „Miss Butch“ lief hier dreimal im Radio – in den USA würde es niemals gespielt werden.

In diesem Fall kann doch jeder nachfragen.
In der Schweiz kennt man uns und niemand fragt nach, man findet den Song einfach cool. Auch in den Reviews war es kein Thema. Niemand macht das so wie du – was ich sehr schätze, weil es zeigt, dass du nicht nur einfach die Musik hörst, sondern auch dahinter schaust.

Die Message ist mir einfach wichtig.
Klar. Ich spreche erst mal von meinen eigenen Erfahrungen und Eindrücken wie in „Miss Butch“ oder auch im Song „Meatballs“ – ich habe nichts gegen Leute, die Fleisch essen, und nichts gegen jene, die vegan leben. Wir müssen einfach versuchen, miteinander zu leben. Der Song „Notre Dame“ ist für mich persönlich auch sehr wichtig – darin geht es um die brennende Kathedrale und den riesigen Haufen Geld, der für den Wiederaufbau zusammengekommen ist. Während gleichzeitig in meiner Heimat der Amazonas brennt und niemand etwas dazu sagt. Es ist aber ein persönlicher, kein politischer Song.

Wie ist dein musikalischer Hintergrund?
Seit ich zehn bin, höre ich dieselbe Musik. Ich liebe die Sechziger, LED ZEPPELIN, Janis Joplin, BLACK SABBATH. Dann natürlich den Neunziger-, oder besser gesagt Ende-der-Achtziger-Jahre-Grunge. Wir werden in den Reviews ständig mit NIRVANA verglichen, was ich gerne annehme. Oder mit L7 und noch mehr mit BABES IN TOYLAND. In den Zweitausendern hatte ich eine Metalband und habe deshalb Musik wie von MARILYN MANSON gehört. Natürlich gefällt mir auch Punk – ich bin ein großer Fan von CRASS und DEAD KENNEDYS.

Ist AM SAMSTAG mehr Grunge oder mehr Punk für dich?
Schwierig, ich denke, die Musik ist mehr Grunge als Punk. Ich stecke aber viel Punk mit rein. Beziehungsweise einfach das, was mir gefällt. Im Song „Pills and wine“ wollte ich einen PINK FLOYD-Vibe drin haben, in „Auf wiedersehen“ wollte ich ein BLACK SABBATH-ähnliches Riff haben. Viele haben mir gesagt, dass unser Album in den Songs Vibes erzeugt, die sie an andere Musikrichtungen erinnern. Unser Hauptbestandteil ist aber definitiv Grunge.

Viele sagen, dass mit Kurt Cobains Tod auch Grunge gestorben ist. Ist Grunge heute noch relevant?
Ja, es gibt wieder mehr und mehr Bands. Hier im französischen Teil der Schweiz waren wir 2019 die ersten, mittlerweile gibt es fünf oder sechs Grunge-Bands. Das Label Grunge Pop Records aus Nottingham hat die ganzen englischen Acts gesignt und es geschafft, dass der damalige Sub Pop-Gründer Bruce Pavitt mit ihnen arbeitet. In Frankreich gibt es mit SHEWOLF eine fantastische Band, die auch den BABES IN TOYLAND-Vibe reinbringt. Ich werde versuchen, sie zu buchen. Es hätte nicht sein dürfen, dass Grunge stirbt, als Cobain starb. Wir brauchen diese Ausdrucksform und ich hoffe, dass die positive Entwicklung so weitergeht.

Euer Album „Dualism“ könnte für mich direkt aus den Neunzigern kommen, es hört sich nicht an, als würdet ihr versuchen, etwas nachzumachen.
Das freut mich und wird vor allem an Jack Endino liegen. Nachdem wir ihm die ersten Songs der EP geschickt hatten, hat er uns eingeladen. Sie waren zu geschliffen. Wir sind nach Seattle geflogen und es war die beste Zeit unseres Lebens. Er ist die netteste Person, die es gibt, und es ist beeindruckend, wenn du dort reinkommst und die ganzen Sachen aus den Neunzigern siehst – ich habe den Amp benutzt, den auch Kurt Cobain verwendet hat. Und natürlich klingen wir sehr nach NIRVANA, was für mich völlig okay ist – sie waren einfach die beste Grunge-Band. Nach zweieinhalb Tagen war die Platte fertig aufgenommen. Je Lied haben wir nur zwischen zwei und vier Takes gehabt. Wir lieben Jacks Stil, die kleinen Fehler etwa, die er extra drin gelassen hat.

Das muss für euch alles sehr teuer gewesen sein.
Wir haben einiges zur Seite gelegt. Insgesamt war es ehrlich gesagt günstiger, als hätten wir in einem Studio in der Schweiz aufgenommen. Hier verdient man gut, dazu bekommst du Zuschüsse vom Bund, vom Kanton und von der Stadt, was auch nicht wenig ist, auch wenn die bekannten Bands bevorzugt werden.

Seid ihr denn eine große Nummer in der Schweiz?
Keineswegs. Wir machen alles selbst, die Musik, das Artwork und die Videos. Und damit fühlen wir uns verdammt wohl. Sollten wir damit mal Geld verdienen können, ist es auch schön. Der Grund, warum wir drei Mal im Radio gespielt wurden, war, weil uns jemand dort sehr mochte. Für jeden Song, der gespielt wird, bekommst du hier umgerechnet 120 Euro – da kannst du dir vorstellen, was am Ende Beyoncé in der Schweiz verdient. Wir haben auch eine US-Tour hinter uns, die uns 12.000 Franken gekostet hat. Aber 5.000 davon bekamen wir als Subvention von Kanton und Stadt. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie das woanders läuft.