BIG PAUL FERGUSON

Foto

Dystopische Rhythmuslandschaften

Der Schlagzeuger Big Paul Ferguson war 1979 Gründungsmitglied von KILLING JOKE und bis zum Album „Brighter Than A Thousend Suns“ von 1986 aktives Mitglied. Sein Schlagzeug bestimmte das exzeptionelle, in den Berliner Hansa Studios eingespielte Album „Night Time“ von 1985, insbesondere beim epochalen Song „Love like blood“, der KILLING JOKE den Durchbruch ermöglichte, oder „Eighties“. Seine prägenden und wuchtigen Tribal Drums in Verbindung mit dem aufbrausenden und predigergleichen Gesang von Jaz Coleman gingen eine druckvolle und dunkle Symbiose ein. Seit 2008 ist Big Paul Ferguson wieder Mitglied von KILLING JOKE, vor kurzem hat er auch sein erstes Soloalbum „Virtual Control“ veröffentlicht.

Die Single „Extrapolate“ von deinem Album „Virtual Control“ erinnert mich stark an „Night Time“ und den damaligen Geordie Walker-Gitarrensound, insbesondere bei „Love like blood“. Gab es Bestrebungen von dir, diesen frühen KILLING JOKE-Stil neu aufleben zu lassen?

Nein, ganz und gar nicht. Es kann sein, dass dieser Sound vielleicht einfach tief in meiner DNA verankert ist. Offensichtlich ist Mark, unser Gitarrist, ein Fan von KILLING JOKE, also hat er sich vielleicht etwas inspirieren lassen, aber die Melodien kamen einfach von selbst, als ich die Texte für die Songs geschrieben habe.

Du hast KILLING JOKE einmal mit „The sound of the earth vomiting“ beschrieben. Wie würdest du den Sound von „Virtual Control“ definieren?
Ich wünschte fast, ich hätte diese Analogie niemals gemacht, zumal so viele Metal-Bands heutzutage wirklich genauso klingen. Vielleicht war es ein Wunschtraum. Der Sound von „Virtual Control“ ist am bestem mit „dystopian rhythmic soundscape“ beschrieben.

Die Songs wirken eher düster und apokalyptisch auf mich. Was sind die wesentlichen Themen, die dich dabei bewegt haben?
Es geht im Kern darum, meine Sorge um die Welt zu artikulieren, die wir erschaffen haben, und um meinen Platz darin. Alles verändert sich, dehnt sich aus, entwickelt sich und zerfällt schließlich. Wo befinden wir uns in diesem Prozess? Wir verschlingen die Ressourcen der Erde und lassen uns von der Fantasie des Überflusses und des Reichtums verzehren, während die Hälfte des Planeten verhungert.

Im Song „Data lama“ sprichst du von „Barriers of normalcy, barriers of trade“. Geht es dabei auch um die Ausbeutung und den Verlust von bisher bekannten Strukturen in der Welt und um Handelskriege?
Es geht um die Entwertung von strukturellen Normen, ob gut oder schlecht. Normen, die uns durch auf einer Landkarte gezeichnete Linien aufgezwungen wurden, unabhängig von kultureller Affinität. Normen, die durch Kolonialismus oder durch eine Vereinbarung von Supermächten geschaffen wurden. Normen, die aufgrund von Technologie und sich verschiebenden Machtstrukturen obsolet geworden sind. Es geht auch um sich verschiebende Standpunkte und wie uns Dritte und eine politische „Newspeak“ weismachen will, mit wem wir jetzt im Konflikt stehen.

Wie ist es zur Zusammenarbeit mit Gitarrist Mark Gemini Thwaite gekommen, der meines Wissens auch eng mit dem verstorbenen Paul Raven von KILLING JOKE befreundet war, und lange für Peter Murphy von BAUHAUS oder THE MISSION gespielt hat?
Stimmt, Mark hat mit Raven an einem Projekt namens MOB RESEARCH gearbeitet und in diesem Kontext haben wir uns zum ersten Mal unterhalten und kennen gelernt. Unsere erste Kooperation war bereits 2018 eine EP namens „Remote Viewing“, bei der wir einige Ideen, die ich auf der Basis von Stimme und Percussion hatte, weiterentwickelt und mit einer Art Industrial Sound versehen haben. In Mark habe ich meinen perfekten musikalischen Partner gefunden. Er versteht, worauf ich hinauswill, und ist ein sehr talentierter Musiker.

Und wie ist es zur Mitwirkung von Jürgen Engler von den DIE KRUPPS beim Song „Dystopian vibe“ gekommen, die mich wirklich überrascht hat?
Jürgen war für das Mastering von „Virtual Control“ verantwortlich, wie er es bei vielen Veröffentlichungen meines Labels Cleopatra Records bereits gemacht hat. Durch diesen Kontext wurden er und ich einander vorgestellt, obwohl ich natürlich mit seiner Arbeit bei den DIE KRUPPS sehr vertraut bin. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er dem Track „Dystopian vibe“ seine Stimme geliehen hat. Auf ähnliche Weise wurde mir Tim Skold, der früher Gitarrist bei MARYLN MANSON war, vorgestellt, der den Refrain des Tracks „Seeping through the cracks“ mit seiner Stimme bereichert hat. Beide Musiker haben erfolgreiche Karrieren und klare Ansichten, daher fühle ich mich sehr geschmeichelt, dass sie sich entschieden haben, mein Projekt zu unterstützen. Beide haben den Songs ein wenig von ihrem einzigartigen Charakter gegeben.

2010 hat Jaz Coleman in einem Interview gesagt: „Alle Schlagzeuger der Welt, sogar Dave Grohl, spielen das Schlagzeug nicht hart genug für mich – mit Ausnahme von Big Paul Ferguson“. Ist das so und was sind deine Einflüsse als Drummer?
Es stimmt wohl, dass ich ein heavy Schlagzeuger mit einem harten Anschlag bin, obwohl das als Schlagzeugtechnik wahrscheinlich keine gute Referenz ist und ich es nicht empfehle, wenn man gerade mit dem Schlagzeugspielen anfängt. Im Zeitalter von YouTube ist es so viel einfacher, jedes Instrument mit dem richtigen Ansatz zu lernen. Ich hatte damals keine Ahnung. Meine frühen Einflüsse kamen von Musikern wie John Bonham von LED ZEPPELIN, Bill Ward von BLACK SABBATH, Ginger Baker von CREAM, Keith Moon von THE WHO oder Mitch Mitchell, der für Jimi Hendrix getrommelt hat, aber ich hatte keine Ahnung, was deren Einflüsse waren und wie sie es gemacht haben, also habe ich einfach losgelegt. Als Punk aufkam, war Technik natürlich das Letzte, worüber man sprach, es zählte die Einstellung. Und die hatte ich. Ich lasse mich weiterhin von Schlagzeugern aus fast jedem Musikgenre inspirieren, und es gibt eine Fülle von Wissen und Talenten da draußen. Da wird man oft demütig, wenn man das sieht.

Jaz Coleman hat oft erwähnt, dass der weltweite Erfolg von „Love like blood“ für ihn ein zweischneidiges Schwert war, weil es euch als Band danach kreativ eingeschränkt hat und der Druck der Plattenfirma immens war, diesen Erfolg zu wiederholen. Wie bewertest du das rückblickend?
Ich bin dankbar, dass wir mit einem Song diesen großen Erfolg hatten! Ich meine, aus einem Katalog von wie vielen KILLING JOKE-Songs? Ich liebe den Titel immer noch und freue mich, wenn das Publikum ihn kennt und mitsingt. Aber Jaz hat recht, dass es für eine Weile eine Last wurde, diese musikalische Formel zu wiederholen. Der Druck, einen Hit zu haben, kam von der Industrie bereits deutlich vor „Love like blood“. Danach verstärkte er sich nur noch mehr, was dazu führte, dass sich die Band auflöste und ich KILLING JOKE verlassen habe. Aber ich denke, wir haben bei diesem Versuch großartige Arbeit geleistet und tolle Songs geschrieben. In dieser Zeit sind einige wirklich großartige Sachen entstanden. Es war vielleicht nicht das, was wir anfangs vorhatten oder letztendlich wollten, aber so wächst man und entwickelt sich weiter, eben ein klassischer „Trial & Error“-Prozess, und wir haben wirklich einige schreckliche Fehler gemacht in dieser Zeit. Man weiß es nie, wenn man es nicht versucht, oder? Und was bedeutet das für „Virtual Control“? Wird es irgendwelche zeitlosen Klassiker geben? Vielleicht. Oder Songs, die zum Scheitern verurteilt sind? Ich kann nur hoffen, dass es nicht so kommt. Man legt es auf, man mag es, man macht weiter.

Nachdem Jaz Coleman im März dieses Jahres die EP „K÷93“ mit Peter Hook von JOY DIVISION, NEW ORDER und Geordie Walker von KILLING JOKE veröffentlicht hatte, konnte man im Mai in der Presse lesen, dass er im Krankenhaus in Mexiko liegt. Ich habe das so verstanden, dass er bei einem Angelausflug aus einem Boot gefallen ist und beinahe ertrunken wäre. Geht es Jaz wieder besser?
Ja, er hatte dieses Missgeschick, aber er hat sich gut erholt. Ich mag eher die Tracks, die er und Peter Hook in den frühen Neunziger Jahren geschrieben haben, aber generell höre ich lieber JOY DIVISION und KILLING JOKE als diese Art von Musik.

In den Linernotes zu „K÷93“ schreibt Jaz von einem „Common bond“, einem gemeinsamen Band zwischen KILLING JOKE und JOY DIVISION. Gab es tatsächlich eine enge Beziehung zwischen den beiden Bands? Es heißt, Peter Hook sei einmal offiziell angefragt worden, Mitglied von KILLING JOKE zu werden. Ist das wahr?
Wir sind quasi zusammen aufgewachsen und kannten JOY DIVISION, so wie wir auch beispielsweise GANG OF FOUR kannten. Ich würde aber nicht sagen, dass wir uns besonders nahegestanden haben, aber wir hatten alle einen ähnlichen Hintergrund und ähnliche Erfahrungen. Unsere Wege kreuzten sich bei Konzerten und obwohl es damals niemand zugeben wollte, hörten wir uns die Alben der anderen Bands immer wieder an. Wir spielten Gigs mit JOY DIVISION und ihr Album „Unknown Pleasures“ war der Soundtrack zu unserer ersten Tour in Deutschland. Ich habe zwar davon gehört, dass Hooky gefragt worden war, ob er Mitglied von KILLING JOKE werde wollte, aber ich war zu dieser Zeit nicht unmittelbar an diesen Gesprächen beteiligt. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass es funktioniert hätte. Ich liebe die Art, wie Hooky Bass spielt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit der Dynamik von KILLING JOKE zurechtgekommen wäre.

Du hast Mitte der Achtziger Jahre mit Youth von KILLING JOKE kurze Zeit in einem Nebenprojekt namens BRILLIANT gespielt, in dem auch Jimmy Cauty von KLF aktiv war. KLF gibt es nun wieder und sie erleben eine Art Comeback. Wie hast du damals ihre absolut medienwirksame Aktion empfunden, als KLF im Zuge ihrer Auflösung Bargeld im Wert von einer Million Pfund Sterling in einem Bootshaus auf der schottischen Insel Jura verbrannten? War das für dich Punk?
Ich kenne Jimmy Cauty nicht persönlich, er kam zu BRILLIANT, nachdem wir die erste Single aufgenommen haben und ich das Projekt bereits wieder verlassen hatte. Aber ich habe massiven Respekt für KLF und diese gegen jedwede Autoritäten gerichteten diskordianischen Ansichten und Aktionen, aber ich wette, ihre Frauen waren stinksauer, als die beiden das Geld verbrannten! War es Punk? Es war ein massiver Fingerzeig gegen das Business, also ja, dann war es wohl Punk. Ein Publicity-Gag? Eine künstlerische Performance? Es hätte vielleicht bessere Wege gegeben, um zu schocken und zu erschrecken, aber es passte zu ihren Chaosprinzipien. Hut ab für etwas, über das wir immer noch reden, aber ich frage mich, ob sie es wieder tun würden.