Der Kollaps nach der Krise?

Foto© by Joachim Hiller

Die Musik- und Veranstaltungsbranche leidet weiter

Die Erleichterung war groß, als die durch die Corona-Pandemie hart getroffene Musik- und Veranstaltungsbranche nach rund zwei bitteren Jahren ab dem Frühjahr 2022 endlich wieder ein bisschen Hoffnung schöpfen durfte. Die mediale Berichterstattung über ausverkaufte Großveranstaltungen erweckte gar den Eindruck, als wäre wieder alles beim Alten. Doch zeigt ein genauerer Blick: Die Situation ist nach wie vor ernst und die Aussichten für Veranstalter:innen, Bands und Musikschaffende sind düster. Höchste Zeit für einen Weckruf.

Der Schein trügt

Sie waren eindrücklich, die Bilder in den Nachrichten vom Rock am Ring oder dem Wacken Open Air: Ausverkaufte Stadien und Horden von Musikfans, die sich mit Zelt und Bollerwagen durch den Staub schoben, fast wie zu Zeiten vor der Pandemie. Der Wunsch nach Wiedergutmachung, nach Party und gemeinschaftlichem Musikerlebnis – allen ist er gemein. Doch der Schein trügt, denn sowohl die Bedrohung als auch die Spaltung des Veranstaltungssektors ist höchst besorgniserregend. Am eindrücklichsten lässt sich dies in sozialen Medien nachverfolgen, in denen tagtäglich Konzerte und sogar ganze Tourneen abgesagt werden. Die wahren Gründe bleiben dabei jedoch meist im Unklaren: „Plötzliche, unvorhersehbare Umstände jenseits der Kontrolle der Organisatoren“ heißt es dabei nur allzu oft in schwammiger Formulierung, „produktionstechnische Gründe“ werden angeführt.

Es ist zappenduster
Die Häufung von Absagen ist jedoch kaum mehr zu verbergen und viele Künstler:innen sehen sich mittlerweile gezwungen, Klartext zu reden, anstatt weiter zu beschönigen. So zum Beispiel geschehen im Falle der Bremer Metal-Band MANTAR. „Es ist zappenduster“, schreiben Hanno und Erinç in einem schonungslos offenen, zutiefst frustrierten Statement auf ihrer Facebook-Seite und benennen die wahren Ausmaße der Krise, die zunehmend zur Existenzbedrohung gerade für kleinere und mittelgroße Acts wird. Der Schritt zur offenen Kommunikation ist allerdings auch eine bittere Offenbarung, denn nichts fürchten Künstler:innen mehr als den eigenen Imageverlust. Die Scham zuzugeben, dass man nicht genügend Tickets verkauft und somit nicht mehr attraktiv genug ist, ist riesig. „So etwas nimmt man als Künstler natürlich immer persönlich“, gab Dirk Darmstaedter, Musiker und früher Labelchef von Tapete Records, unlängst im Interview im Deutschlandfunk zu. Doch wissen alle, dass es in der Branche nahezu überall so läuft. Vielfach verkaufen Bands, die vor Corona problemlos größere Clubs gefüllt hätten, nicht einmal genügend Tickets für eine kleine Location. So verweisen beispielsweise MANTAR auf Vorverkaufszahlen von etwa 30% von dem, was in Vorkrisenzeiten normal war. Mit zusätzlichen Einnahmen über die Abendkasse ist in Zeiten hoher gesellschaftlicher Verunsicherung ohnehin nicht mehr zu rechnen. Doch die Organisation einer Tour ist kostspielig und finanziell zumeist knapp kalkuliert. Enorme Preissteigerungen für Flüge, Transport, Backline, Benzin etc. in unsicheren Zeiten von Krieg, Pandemie und Inflation bedeuten am Ende, dass Bands draufzahlen, wenn sie dennoch Konzerte spielen. Und somit entfällt letztlich auch die mittlerweile wichtigste Einnahmequelle für Musiker:innen, nämlich der Merchverkauf. Denn erst hierdurch werden Touren für Bands rentabel. Entfallen nun aber Konzerte, haben Künstler:innen gleich ein doppeltes Problem. Und somit wird klar, warum sich Absagen oder Verschiebungen immer mehr häufen.

Die ganze Branche leidet
Doch nicht nur Bands sind betroffen. Die Krise trifft die Veranstalter:innen mit gleicher Wucht. So blieb auch das geliebte Ox von den gegenwärtigen Entwicklungen nicht verschont. Erst musste das für Ende Mai geplante OxFest in Hamburg gestrichen werden, dann folgte die Absage der gesamten vom Ox präsentierten und von Beer & Music aus Düsseldorf organisierten SkateRock Tour mit SATANIC SURFERS, SKIN OF TEARS und VENEREA. Die Ursache ist stets dieselbe: Die Vorverkaufszahlen sind enttäuschend bis verschwindend gering. Ein K.o.-Kriterium, das die Organisation von Veranstaltungen zunehmend unplanbar und damit wirtschaftlich unrentabel macht.

Aber wie passen hier nun die medialen Bilder ausverkaufter Großkonzerte ins Bild? Ganz einfach: es handelt sich oft um Nachholtermine, deren Tickets schon vor Beginn der Pandemie verkauft wurden. Da diese auch auf dem damaligen Preisniveau kalkuliert wurden, verdienen die Veranstalter:innen nicht wirklich viel daran, bestätigt Jens Michow vom Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft in der ARD. Somit war es letztlich auch nur eine Frage der Zeit, bis die großen Player finanziell nachziehen mussten: Als im August der Vorverkauf für Rock im Park 2023 startete, war der Aufschrei und Ärger vieler Fans über eine Preiserhöhung von 70 Euro je Ticket im Vergleich zu 2020 riesig. Während die Konzert-„Altlasten“ also noch gut frequentiert sind, ist alles, was an neuen Konzerten angesetzt wird, oft nicht mehr ausverkauft. Sofern die Vorverkäufe zumindest noch nicht gänzlich einbrechen, kann ein Downsizing in kleinere Clubs stattfinden oder aber die Tourpläne lichten sich. Aber auch das gelingt derzeit nur einigen wenigen Künstler:innen aus dem Mittelbau, während vor allem die kleineren Acts in die Röhre schauen.

Doch damit nicht genug, denn neben den Musiker:innen und Veranstalter:innen leidet ein gesamter Wirtschaftszweig. Booker:innen, Tourmanager:innen, Ton- und Lichttechniker:innen, Roadies, Stagehands, Fahrer:innen – sie alle sind betroffen und die Aussichten auf Besserung sind äußerst düster. Nach Aussage von Jens Michow in der „tagesschau“ hatte die Pandemie die Branche ganz besonders hart getroffen und machte sich hier noch viel stärker bemerkbar als in anderen Bereichen. Abwanderungstendenzen waren und sind die Folge, denn viele der dort Erwerbstätigen sahen sich gezwungen, sich alternative Einkommensquellen zu suchen. Nun entsteht genau hieraus ein Teufelskreis, denn für eine rasche Erholung der Branche fehlen die dringend benötigten personellen Ressourcen. Der Personalmangel in der Veranstaltungsszene sei dramatisch und entsprechende Fachkräfte seien nicht einfach zu ersetzen, so Dietmar Schwenger im Branchenblatt Musikwoche. Hinzu kommen noch immer kurzfristige Ausfälle von Künstler:innen und Personal aufgrund von Corona-Infektionen. Und ohnehin ist die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr ins Business, das mittlerweile tief in der Krise nach der Krise steckt und sich ganz offensichtlich grundlegend verändert hat, verschwindend gering. „Eigentlich war die Pandemie sogar mein Glück, denn erst hierdurch konnte ich zum Rundfunk wechseln und mache nun Musikproduktionen – dem Trend zum Daheimbleiben und dem gesteigerten Medienkonsum im privaten Umfeld sei Dank“, antwortete ein befreundeter Toningenieur letztens auf die Frage, wie er denn durch die Krise gekommen sei. Auf das Mischen von Live-Konzerten sei er jetzt eigentlich gar nicht mehr angewiesen und mache es, wenn überhaupt, nur noch zum Spaß.

Die Schere klafft auseinander, die Basis bröckelt
Kommen wir aber noch einmal auf die Künstler:innen selbst zu sprechen. Denn nicht Bands wie DIE TOTEN HOSEN, BEATSTEAKS oder DONOTS tragen in Pandemiezeiten das schwerste Los, sondern die bereits erwähnten Acts kleinerer bis mittlerer Größe, bei denen die Musik bereits vor Pandemiezeiten gerade so zur Existenzsicherung reichte. Gleiches gilt auch für kleinere Festivals, deren Tickets eben nicht schon vor Jahren verkauft wurden beziehungsweise die sich eben keine ganz großen Headliner im Line-up leisten können.

Ganz offensichtlich ist die Kundschaft mittlerweile höchst selektiv, wie auch jüngst das bis auf den letzten Platz ausverkaufte BRIGHT EYES-Konzert in Frankfurt verdeutlichte. Konzertmüdigkeit, Infektionsangst oder abschreckende Preissteigerungen? Fehlanzeige! Große Bands, so zeigt sich deutlich, trifft die Krise weniger hart. Und so öffnet sich die Schere zwischen oben und unten immer weiter, es kommt zur schleichenden Umverteilung gemäß dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Trotz Inflation zahlt das Publikum hier gut und gerne auch einmal 40 Euro für ein T-Shirt oder 10 Euro für ein Getränk. Auf der anderen Seite sind es dann neben dem finanziell notleidenden Mittelbau ebenfalls die vielen kleinen Hobbybands, die nicht mehr in den Genuss von Auftrittsmöglichkeiten kommen. Denn wo kein Main-Act, da auch kein Support-Act.

Zunehmend mehren sich allerdings auch unter Musiker:innen selbst die kritischen Stimmen über vermeintlich schwarze Schafe in der eigenen Zunft: Manche der größeren Bands seien der Ansicht, der Nettoprofit stimme nicht mehr, und würden deshalb ihre Touren absagen. Begründet würde dies jedoch meist mit dem Verweis auf Sicherheitsbedenken, so GHOST-Sänger Tobias Forge im Metal Hammer: „Und wenn eine Band sagt, dass sie aus Gründen der Sicherheit nicht auf Tour geht, denn die Welt sei wegen Corona kein sicherer Ort, dann denkt sich der Fan: ‚Vielleicht stimmt das. Ich sollte jetzt nicht ausgehen‘.“ Dass hiervon jedoch noch viel mehr Schicksale abhängen und Veranstalter:innen, Spielstätten, Händler:innen, Techniker:innen und Crew usw. direkt in Mitleidenschaft gezogen werden, wird geflissentlich übersehen.

Die Konsument:innen haben es in der Hand
Die Ursachen für die Krise der Event-Branche sind gewiss vielfältig. Doch letzten Endes hängt alles vom Verhalten der Konsument:innen ab. Abgesehen von der Tatsache, dass die meisten Fans aufgrund von Konzertausfällen in den vergangenen zweieinhalb Jahren ohnehin bereits einige Tickets zu Hause liegen haben dürften, kommt die berechtigte Sorge hinzu, sich auf einer Veranstaltung mit Corona zu infizieren. Das Bedürfnis, direkt loszulaufen und neue Tickets zu deutlich höheren Preisen zu kaufen als noch vor der Pandemie, ist daher verschwindend gering. Allerdings wäre genau das für eine Besserung der Situation sowie das Überleben der Branche wichtig. Die aufgeschobene Bugwelle an Nachholshows blockiert folglich den Neustart des Live-Business und trifft wiederum die Kleinen zuerst. Für viele Musikfans macht es eben doch einen Unterschied, ob das Rock am Ring-Ticket für 200 Euro verfällt oder eben nur die 20 Euro Eintritt für das Festival im lokalen JUZ.

Der Rückzug ins Private ist, wie es Birgit Virnich vom WDR treffend beschreibt, ohnehin eine der größten Determinanten in diesem Kontext. Denn das Freizeit- und Konsumverhalten änderte sich während der Pandemie grundlegend. Die meisten Menschen zögerten, legten sich nicht mehr gerne fest, hätten es gelernt, sich zu Hause einzurichten. Wir alle erlebten es spätestens seit Pandemiezeiten selbst – das Streaming über Musik- und Film-Plattformen erfuhr einen regelrechten Boom. „Wir haben echt Angst, als Künstler:innen eine ganze Generation von Fans verloren zu haben. Junge Leute, die sich immer mehr in ihrem Kokon aus Spotify und Netflix eingelullt haben“, brachte es Dirk Darmstaedter im Deutschlandfunk besorgt auf den Punkt. Es ist davon auszugehen, dass dieser Erschöpfungszustand nach der Pandemie – sofern es ein Danach überhaupt geben sollte – wohl auch noch eine Weile andauern wird.

Ein weiterer Faktor, der sich allerdings weniger in der alternativen Szene, sondern eher im Mainstream wiederfindet, ist leider auch das Thema der Schwurbelei. Verfolgt man die Kommentarspalten in den sozialen Medien größerer Musik-Events, fallen leider auch unzählige Äußerungen von Impfgegnern, Corona-Leugnern und Konsorten auf. Aus Frust über Vorsorge- und Hygienekonzepte wird hier maßlos agitiert und polarisiert. In der Summe ist dies natürlich ebenfalls ein geschäftsschädigendes Puzzlestück, wenngleich ein Fernbleiben jener Menschen für alle anderen, normaldenkenden Konzertbesucher:innen keinen wirklichen Verlust darstellt. Die Pandemie prägt und spaltet die Gesellschaft eben in allen Bereichen, so viel ist sicher.

Und die Prognose?
Konkrete Antworten auf die Frage, wie es denn nun weitergeht, sind schwierig zu finden. Doch die Uhr tickt. Unstrittig ist, dass sich die Veranstaltungsbranche bereits grundlegend gewandelt hat und nun nach völlig neuen Spielregeln agiert. Ob es in Zukunft noch genügend Veranstalter:innen und Spielstätten geben wird, um tatsächlich alle Genres und Größenordnungen des Kulturbetriebs zu präsentieren, weiß auch Jens Michow nicht zu beantworten. „Um den Mainstream und die Shows mit Weltstars mache ich mir da weniger Sorgen. Aber dass es noch genügend Unternehmen geben wird, die sich auch mit den vergleichsweise schmalen Gewinnmargen bei kleinen Konzerten arrangieren können, wage ich zu bezweifeln“, lautet sein düsteres Fazit im Interview mit der „tagesschau“. Fest steht auch, dass die Branche weiterhin stark vom bereits vorherrschenden Fachkräftemangel betroffen sein wird. Und die wenigen, die sich hier nach wie vor verdingen, werden dann in der Praxis zuerst von den profitträchtigeren Großveranstaltungen angeworben. Erneut sehr zum Nachteil von Kleinveranstaltungen und dem Mittelbau, versteht sich.

Was also tun? Musikschaffende sind sich da längst einig: Tickets müssen gekauft werden, die Leute müssen runter vom Sofa – wie es Rocko Schamoni kürzlich auf den Punkt brachte. Auch ist längst klar, dass Eintrittspreise zwangsläufig erhöht werden müssen, um die gestiegenen Kosten zu decken und das Überleben der Branche dauerhaft zu sichern. Denn Musik und Kultur sind nicht umsonst und dürfen es auch nicht sein. Andererseits birgt die Teuerung aber auch das Risiko, die Leute nur noch mehr zu abzuschrecken. In Zeiten massiver Kaufkraftverringerung und hoher Inflation sitzt der Geldbeutel schließlich nicht mehr so locker wie noch zuvor. Also muss ein Spagat gelingen, der den Wert von Kunst und Kultur in die Köpfe der Menschen zurück bringt und Musikfans gleichzeitig das bewusste Bekenntnis zur Unterstützung einer Band abringt. Es ist allerhöchste Zeit und daher muss der Appell noch viel lauter werden, Tickets im Vorverkauf zu erwerben (die Geld-zurück-Garantie ist mittlerweile sowieso überall gegeben) und kleinere Konzerte zu besuchen. Sagen wir es also, wie es ist: Wer als Musikfan jetzt sitzen bleibt, macht sich mitschuldig am Niedergang der Veranstaltungsbranche und treibt den letzten Sargnagel nur noch tiefer ins Holz. Dann bleibt es womöglich zappenduster.