Die „Schlacht von Verden“

Foto© by Wolfgang Wiggers

28.06.1980 Bremen, Naturfreundehaus Buchtstraße

28.11.1980. Im Verdener Jugendzentrum Dampfmühle ist ein überregionales Konzert mit vier Punkbands angekündigt. ENTART (Verden), MAI 80 (Rinteln), sowie NIVEAU NULL und ORGANBANK aus Bremen. Fast die gesamte Bremer Punk-Szene ist angereist, um ihre beiden Bands zu unterstützen, und so ist das JZ mit über 150 Punks fast überfüllt.
Die angekündigten ENTART spielen leider nicht, stattdessen steht die Bremer Band VOLKSABSTIMMUNG mit Fickfrosch am Mikro auf der Bühne. Angeschlossene Instrumente und keine Band in Sicht? Das haben sich die Jungs noch nie entgehen lassen. Da sie noch keinen Übungsraum haben, üben sie ihre Stücke einfach vor Publikum. Viel Stimmung kommt dabei leider nicht auf, denn alle warten gespannt auf den ersten Auftritt von NIVEAU NULL. Die neue Band, über die man in den Fanzines zwar schon einiges zu lesen bekam, die aber kaum jemand gehört hatte. Das Warten lohnt sich! Mit gut und schnell gespieltem Pogo-Punk bringen sie ihr Publikum zum Hüpfen. Zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug sorgen für einen überraschend guten Sound. Die Bremer feiern ihre Band mit einer grandiosen Bierschlacht, die zur Folge hat, dass das arme ehrenamtliche Team des JZ in den nächsten Tagen den gesamten Raum renovieren muss.
Danach ORGANBANK, zu dieser Zeit sicherlich Bremens bekannteste Band um Gitarrist und Sänger Tommy Rinnstein. Sie spielen schon länger zusammen und ihr Set klingt professionell und abwechslungsreich. Das ist nicht mehr der Punk der Anfangszeit, hier sind starke Einflüsse aus der internationalen Avantgarde zu hören. Kein Wunder, denn Tommy ist auch in der Tape-Szene weltweit mit experimentellen Künstlern vernetzt.
Nach nur wenigen Stücken stürmen auf einmal mehrere Polizisten mit Schlagstöcken und Hunden in das Jugendzentrum. Wahrscheinlich hat es schon vor dem Konzert in der Umgebung einige kleinere „Vorfälle“ gegeben. Viele der auswärtigen Fans sind nämlich mit dem Zug angereist und vertrieben sich kreativ die Zeit bis zum Beginn des Konzerts in der Stadt. So wird an einer Baustelle Senf in einen Betonmischer gefüllt und dieser anschließend umgekippt (Anarchie!). Als dann auch noch ein Flachmann in Flammen aufgeht (Brandstiftung! Molotowcocktail!), rückt sofort die Feuerwehr mit zwei Einsatzwagen an. Kurze Zeit später erscheint auch noch eine „Diensthundführergruppe“ am Tatort, was nicht gerade für Begeisterung seitens der Punks sorgt und zu einigen Attacken führt. Die Beamten lassen sich das natürlich nicht gefallen und fordern Verstärkung aus Verden, Nienburg und Bremen an, die in kürzester Zeit vor Ort ist. Später erfahre ich, dass wohl schon vor dem Konzert eine größere Menge an Polizisten in der Nähe des Jugendzentrums in Stellung gebracht worden war. Man ahnte wohl schon, dass es Krawall geben könnte. Deeskalation ist eben 1980 noch ein Fremdwort.
Überall sind plötzlich Polizisten und Hunde. Aufruhr im ganzen Gebäude. Tammie wird ins Bein gebissen, wälzt sich auf dem Boden und übertönt mit seinem Geschrei sogar die Band. Ein wenig Theater ist sicher auch dabei. Ich verstecke schnell meine Fotoausrüstung, weil ich den Beamten nur ungern meine Kamera aushändigen würde. Was draußen um das Jugendzentrum herum passiert, erfahre ich erst am nächsten Tag, da ich im Gebäude bleibe.
Viele versuchen, zum nahegelegenen Bahnhof zu kommen, um den letzten Zug nach Bremen zu erreichen. Mittlerweile sind aber überall Polizisten in der Umgebung der Dampfmühle, die sich mit den Punks Verfolgungsjagden liefern. Auch auf dem Bahnhof spielen sich wilde Szenen ab. Ein Kiosk mit Süßwaren wird geplündert und am Ende liegen 24 Punks flach auf dem Bahnsteig, bewacht von grimmig dreinschauenden „Ordnungshütern“ mit Schlagstöcken. In Handschellen werden sie, jeweils zwei zusammengekettet, abgeführt, um die Personalien aufzunehmen. „Vereinzelt wurde auch mit Knüppeln und Fußtritten nachgeholfen“, schreibt tags darauf die Lokalzeitung. Aber auch denjenigen, die es in den Zug geschafft haben, ergeht es nicht viel besser. Sie werden in Bremen von der Polizei in Empfang genommen und teils wegen Landfriedensbruch angezeigt. Die Verdener Band NOTLÖSUNG sieht daraufhin schon das Ende von Punk gekommen, aber auch in den darauffolgenden Jahren bleibt die Dampfmühle in Verden das Zentrum für viele großartige Konzerte.