Ein Presswerk ist kein Streichelzoo

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Meine 50 Cent zur Vinylkrise

Kennst du das? Du hast einen Lieblingsort, an dem du gerne deinen Urlaub verbringst, eine abgelegene Ecke, die in deinen Zwanzigern mal hip war, dann aber in Vergessenheit geriet. Eine Kneipe, in der du unsagbar gutes Essen für schmales Geld bekommst. Du erzählst es deinen Freunden, die gehen auch hin, erzählen es weiter und irgendwann nimmt es irgendein Arschloch in seinen alternativen Reise- und Gaststättenführer mit Insider-Geheimtipps auf. Im Jahr darauf kriegst du an deinem künftig ehemaligen Rückzugsort nur noch einen Platz in der hintersten Ecke des Campingplatzes, direkt neben Sickergrube für die Chemietoiletten und in deiner Stammkneipe ohne Platzreservierung zwei Wochen im Voraus keinen Tisch mehr.

So ähnlich muss es sich derzeit aktuell für kleine Labels anfühlen, die nicht müde wurden, uns seit dem Ende der Schallplatte weiterhin mit dem besten Tonträgerformat zu versorgen, und, wie wir alle, bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Vorzüge hinzuweisen. Im Prinzip dasselbe wie beim Punk-Revival. Jahrelang aufopfernde Antihaltung, Tage, wenn nicht Wochen oder gar Jahre in den Fußgängerzonen geleistete Pionierarbeit erhält endlich ihre Anerkennung, yay! Keine drei Monate später: „Aber doch nicht so.“ Was lernen wir daraus? Selber schuld, warum muss man das auch jedem auf die Nase binden? Wahrscheinlich lernen wir doch wieder einmal überhaupt gar nix, denn man hätte es mit dem Vinyl-Revival ja schon ahnen und einfach mal die Klappe halten können. „Jepp, CD, super Sache, kann ich mir nur leider nicht leisten“ oder „Streaming, perfekt, immer dabei, immer parat, nee ich bin immer noch Oldschool, mit dem alten Modem läuft das auch nicht so supergut, mach ruhig.“ Aber nein, wir mussten ja jedem Arschloch immer wieder auf die Nase binden, dass das mit der CD eher suboptimal ist und nur Vinyl zählt, von wegen Haptik, richtiges Cover, Lebensgefühl.

Schöne Scheiße, und von „Wir fanden es schon cool, bevor es wieder hip wurde“ kannst du dir eben immer noch nix kaufen. Für Verbundenheit und langjährige Treue gibt es schon lange keine goldene Uhr mehr in der Firma und auch keine bevorzugte Pressslots, dafür haben die BWL-Studenten gesorgt. Dankbarkeit ist ein feuchter Nivea-Händedruck und ein Klaps auf den Rücken, bevor du deinen ehemaligen Partner verlassen darfst. In den Presswerken zählt der Umsatz, und der ist nun einmal höher, wenn eine Maschine 5.000 mal durchläuft, ohne für die Pissauflagen von 200 Stück ständig neu eingerichtet werden zu müssen. Klingt hart, aber ein Presswerk ist kein Streichelzoo. Macht’s gut, danke für den Fisch, wir wünschen Euch weiterhin alles Gute auf dem weiteren Weg, und nein, Mitleidssex gibt’s auch keinen.

Lifestyleprodukt
Auswüchse wie MINT oder Ableger wie das jüngst erschienene „Vinylrausch“ haben die Vinylschallplatte längst zum Lifestyle-Accessoire herabgewürdigt. Relevant sind das Hochglanz-Klappcover, die extragerade 180-Gramm-Pressung, Dynamik und eine gefütterte Innenhülle (wenn du so etwas unbedingt brauchst, dann kauf dir eine). Die Musik? Nebensache! Die Platte muss nur gut klingen, volle Bässe und klare Höhen haben. Der eigentliche Zweck des Tonträgers, Musik zu transportieren, spielt bloß eine untergeordnete Rolle. Er ist dazu lediglich ein Teil der gesamten „Vinyl-Kultur“, bestehend aus edelsten Anlagen, Statiktipps, Designermöbeln und Pflegeprodukten. Die Stereoanlage ist der spritlose SUV für das repräsentative Designerwohnzimmer. Perfekt für Typen (es sind fast immer Typen!), die sich für ihre bescheuerte Plattensammlung mit 100 oder 120 Platten eine Anlage mit 25-Kilogramm-Plattenteller aus Marmor, einem 2-Kilo-Puck für planes Vinyl, digitale Tonarmwaage, Kamelhaarplattenbürste, antistatische Schuheinlagen, handgegerbter Lederauflage und separaten Tisch für den Motor (wegen der Schwingungen) leisten, weil sie es können und fühlen. Wir reden von „Luxus“, der ist bekanntlich ja auch nicht für jeden verfügbar, so wie eine Yacht, und manchen geht eben schon beim Aufpumpen des Schlauchboots die Puste aus. Echte Audiophilisten haben den Motor für den Plattenspieler nebst Notstromaggregat für die Anlage selbstverständlich im Anbau für das Gesinde (Familie). Im Prinzip alles so ähnlich wie das Moped in der Garage, das neben zwei anderen (eins für Touren, das andere für Gelände) steht und drei Mal im Jahr raus darf. Als ob die und der verschissene SUV, der nicht mehr in die Doppelgarage passt, für den verschrumpelten Hodenaufleger nicht längst ausreichen würde.

Remastered, Repacked, Repriced
Genau diese Musikliebhaber-Zombies sind es auch, die damals ihr Vinyl abgestoßen haben, weil ihre erlesene Sammlung auf CD ja hundertmal besser klingt und tausend Jahre hält. Ja blöd, bei Punk und Hardcore hat halt niemand seine Platten „wegen des Klangs“ upgegradet, sonst könnten wir das mitfühlen. Ja genau, welcher Klang?
Dafür verkaufen denselben Idioten die gleichen Firmen nun exakt dieselben Platten zum dritten Mal in edlen Boxen, die verschweißt noch viel dekorativer und wertvoller im Regal stehen, selbstverständlich 240-Gramm-Vinyl mit gefütterten Innenhüllen, UV-Lackierung und Tip-on-Sleeves. Für dieses Volk gibt es die Neuauflagen von Platten, die tonnenweise von Flohmarkt zu Flohmarkt gekarrt werden, um dort zu Recht in der Sonne und bei Starkregen zu verrotten. Platten der DIRE STRAITS (sechsmal dieselbe Platte sollte man meinen, aber wer mehr als zweimal RAMONES, BAD RELIGION oder MOTÖRHEAD in seinem Schrank stehen hat, sollte hier lieber für immer schweigen), Chris de Burgh, BAP, MODERN TALKING, Phil Collins, FLEETWOOD MAC, Mike Oldfield, SUPERTRAMP, PINK FLOYD, ABBA ... Millionenseller, die nur zu gerne ein neues Zuhause finden würden. Aber nicht wenige Menschen kaufen sich ja auch lieber einen herzkranken Rassehund von einem Züchter als im Tierheim dem Pöbel über den Weg zu laufen und womöglich eine Promenadenpressung in vg- zu adoptieren. Wer gerne tiefer in die Welt der überflüssigen Reissues eintauchen und das ganze Elend erkunden will, dem empfehle ich an dieser Stelle: superdeluxeedition.com

Wie oft wurde der unvollständige KRAFTWERK-Katalog in verschiedenen Varianten eigentlich nun schon neu aufgelegt? Sorry, ich habe irgendwann nicht mehr mitgezählt. Klingt heute natürlich alles um Welten besser, weil „remastered“, aber vor allen Dingen werden sie nicht mehr auf der billigen Fisher-Kompaktanlage abgenudelt. Das Beste an der Sache: Bei einem Rerelease ist es scheißegal, wann es erscheint. Vielleicht ist es an einen „Geburtstag“ gebunden (25, 30, 40 oder 50 Jahre, irgendein Jubiläum findet sich immer), aber an ihm hängen keine gebuchten Touren. Damit sind sie für den Major besser planbar, sie kosten keinen Stress mit Bands, die in einer Schaffenskrise stecken, und sorgen für kontinuierlichen Nachschub in den Presswerken. Daneben wird natürlich jedes noch so ärmliche Archiv verstorbener Musiker ausgeschlachtet, die vor ihrem Ableben vergessen haben, alles zu löschen. Halbfertiger Mist, zu Recht vergessene Songs und Demos, die so scheiße sind, dass sich so etwas wie FECAL MATTER nur mit dem Hinweis Pre-NIRVANA überhaupt verkaufen lässt. So etwas hört man sich maximal ein einziges Mal an, genau dafür wurde Streaming erfunden, aber das sieht in der ziemlich leeren Neubauwohnung (die Bücher sind ja auch rausgeflogen, seit es E-Books gibt) halt nach nix aus.

Sind es also die bösen Industrie-Nachpressungen? Bestimmt! Andererseits, wie hoch ist denn der Anteil an Punk-Rereleases bei den Neuveröffentlichungen? Tipp: Beim Händler deines Vertrauens oder in der Reviewsektion dieses Heftes nachschlagen. Ja, doch so viel.

Nachdem wir uns bei den Punk-Klassikern mittlerweile auch schon bei der dritten, vierten Garde bewegen (ich nenne keine Titel, den Gefallen tu ich dir nicht), sollten wir nicht wirklich mit Steinen werfen, von wegen Glashaus. Die Frage ist doch, sind die vielen Wiederveröffentlichungen in zig Farbvarianten wirklich nötig? Braucht es jeden Furz in zehn verschiedenen Versionen? Und welchen Stellenwert haben selbst reguläre Scheiben, für die einem nicht viel mehr als die schönsten Hardcore-Coverversionen eingefallen sind, die vom London Symphony Orchestra, James Last oder Richard Clayderman eingespielt wurden? Obwohl, das wäre ja noch witzig, nur läuft es meistens dann doch darauf hinaus, dass ältere Menschen ein bemühtes Potpourri der schönsten Lieder ihrer Jugend nachspielen. Coverversionen? Live immer wieder gerne, auf Vinyl fast immer so spannend wie die 252. Scheibe mit Weihnachtsliedern. 10-Euro-Preisfrage: Warum hört man eigentlich keinerlei Klagen von den Bootleggern, schließlich leiden die ja auch unter den Lieferzeiten?

Eine Lanze für METALLICA
Die bösen, bösen METALLICA, die sich eine eigene Pressmaschine gekauft haben, die nur rumsteht, wenn sie selber gerade nichts pressen (was sehr selten vorkommt). Typisch Lars Ulrich, pfui! Mit Pressmaschinen ist es ähnlich wie mit Werkzeug. Wenn man den Akkuschrauber dringend gebrauchen könnte, den man dem Nachbarn geliehen hat, ist er nicht da und der Nachbar im Urlaub. Die Kettensäge, die man dem Schwiegersohn geliehen hat? Entweder ist das Sägeblatt stumpf oder er hat sie an einen guten Bekannten verliehen, der sie gleich weiterverkauft hat. Hand aufs Herz, wer, der sich für sein kleines Label eine Pressmaschine reservieren könnte, ist wirklich so doof und sagt sich, ach nee, lass mal, ich warte gerne sechs bis acht Monate, ich habe heute ja nix vor. Das Gute an der Sache: Du kannst Lars immer noch auf deiner ganz persönlichen Hassliste führen, sei es für das in deinen Augen immer noch lausige Schlagzeugspiel oder dafür, dass er nicht beim Tennis geblieben ist.

Record Store Day
Wenn wir schon dabei sind und auf allem rumhacken, dann darf der RSD, die 13. Pforte der Hölle, nicht fehlen. Leider ist auch hier das Jammern unangebracht. Was war das erklärte Ziel des RSD? Richtig: Leute an einem Tag wieder in die Plattenläden zu bekommen, die dort noch nie oder schon ewig nicht mehr waren. Da unsereins tatsächlich selbst im Urlaub immer noch in jeden ranzigen Plattenladen gerannt ist, läuft es wieder auf das Zielpublikum hinaus, das jetzt mit seinem akut geweckten Nachholbedarf für die Engpässe in den VEB Schallplattenbetrieben sorgt. Unter den jungen Menschen hätte sich das auch ohne RSD rumgesprochen, die sind ja nicht doof, aber da ist sie wieder, the Alzheimer-Generation, deren ohnehin beschränkter Musikgeschmack mit dem gefüttert wird, was sie schon immer gehört haben und jetzt in schönerer, glänzenderer und besserer Verpackung wiederhaben wollen, ein paar Live-LPs obendrauf (das Ding 2022), schon sind fast alle happy.

Wieder mal suboptimal gelaufen, denn auch das hätte man erahnen können, weil das ganze Franchise und die Marke RSD nicht für wohltätige Zwecke, sondern – Überraschung! – zum Gelddrucken ins Leben gerufen wurde. Das Gute daran, mit dem RSD konnte man sich schon rechtzeitig an die Preise gewöhnen, die inzwischen für reguläre Releases aufgerufen werden. Dankeschön.