GARY NUMAN

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Der Synthiepop-Godfather

Gary Numan ist seit über vierzig Jahren eine Ikone in Sachen New Wave und Synthiepop, zunächst mit TUBEWAY ARMY, dann unter seinem eigenen Namen. Er hat dieses Genre mit aus den Angeln gehoben. Für viele war und ist eine Inspiration, für DEPECHE MODE, NINE INCH NAILS, Dave Grohl und Marilyn Manson. Laut David Bowie stammen von ihm „zwei der besten Songs“ der britischen Popmusik. In seinem Stück „Teenage wildlife“ von 1980 nimmt Bowie direkt Bezug auf Gary Numan: „A broken-nosed mogul are you / One of the new wave boys / Same old thing in brand new drag“. Gary Numan hatte 23 Top-40-Singles und 15 Top-40-Alben im UK. Der Elektropop-Pionier erhielt 2017 den Inspiration Award für Songwriting und Komposition bei den Ivor Novellos Awards. Gerade ist mit „Intruder“ sein 22. Album erschienen.

So wie viele andere Musiker und Prominente, etwa Vivienne Westwood oder Debbie Harry von BLONDIE, beschäftigst du dich auf „Intruder“ auch intensiv mit den Themen Klimakatastrophe und Apokalypse. Was war der Auslöser dafür? Ich habe die Songs so interpretiert, dass für dich die Zeit des Redens vorbei ist und man nun schnell richtig aktiv werden muss, um den Planeten zu retten.

Ich habe die Klimakrise zum ersten Mal im Jahr 2017 auf dem Album „Savage: Songs From A Broken World“ thematisiert. Da ging es um die Welt hundert Jahre nach dem Klimakollaps. Es handelte speziell davon, was aus den Menschen in dieser Umgebung werden würde. Von der Brutalität, Gewalt und Grausamkeit, die notwendig sein würde, um von Tag zu Tag zu überleben, und wie einige sich daran erfreuen, während andere entsetzt sind und von den Dingen, die sie tun müssen, gequält werden. „Intruder“ betrachtet den Klimawandel aus heutiger Sicht, speziell aus der Sicht der Erde. Wenn die Erde sprechen könnte, was würde sie sagen? Wie fühlt sie sich? Fühlt sie sich verraten, verletzt, enttäuscht oder desillusioniert? Ist sie wütend? Möchte sie sich wehren? Und was noch wichtiger ist: Schlägt sie bereits zurück? Obwohl es zahllose Kriege gab, ist der Erderwärmung die erste echte Bedrohung für den gesamten Planeten und alles, was auf ihm lebt. Es ist sicher nicht zu weit hergeholt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Erde, die Natur selbst, eine gewisse Fähigkeit besitzt, sich gegen etwas zu wehren, das sie schließlich als unliebsame Plage identifiziert. Das wären dann wir, die Menschheit. Der Auslöser, die Songs für „Intruder“ und „Savage“ zu schreiben, ist die schockierende Leugnung und Ignoranz, die in vielen Teilen der Welt in Bezug auf die Klimakrise immer noch verbreitet ist.

Macht es vor diesem Hintergrund noch „Spaß“, speziell in Los Angeles zu leben?
Auf einer alltäglichen Ebene ja, natürlich. Wir leben immer noch in einer Welt, in der das normale Leben weitgehend unverändert scheint, abgesehen von der Pandemie natürlich, es ist das, was kommt, das wirklich beängstigend ist, die Welt, die wir hinterlassen. Ich habe heute noch genauso viel Freude am Leben wie in meiner Jugend, das hat sich also noch nicht geändert, jedenfalls nicht allzu sehr. Aber die Welt verändert sich bereits, ihre Konflikte sind deutlich zu sehen. Stürme sind heute stärker, heftiger und häufiger. Es gibt mehr Brände als je zuvor, sie umfassen größere Flächen und sind immer verheerender. Es gibt längere Dürreperioden in einigen Regionen und mehr Überschwemmungen in anderen Regionen. Inseln werden durch den steigenden Meeresspiegel überflutet, es gibt viele weitere Beispiele. Es besteht kein Zweifel, dass sich die Erde verändert, und keine dieser Veränderungen ist gut, schon gar nicht für uns und nicht für den Planeten, den wir brauchen.

Im Song „The gift“ entwickelst du ein Szenario, das von COVID-19 als der ersten Waffe erzählt, die der Planet selbst gegen die Menschheit einsetzt, um nach deren Auslöschung wieder aufzublühen. In Deutschland beobachten wir zugleich sehr bizarre Auswüchse von Verschwörungsmythen zum Thema Corona. Wie nimmst du das wahr?
Ich halte es nicht für eine unmögliche Vorstellung, dass die Erde, die Natur selbst, uns als Feind erkennt und versuchen könnte, uns auszurotten. Ich bin natürlich kein Wissenschaftler, also sind diese Ideen möglicherweise ziemlich dumm, aber wenn sich die Erde wehren würde, wäre ein Virus sicherlich einer der Mechanismen, die sie einsetzen würde, und wenn das so ist, bezweifle ich, dass dieses Corona-Virus das letzte sein wird. In der Tat wird es wahrscheinlich immer tödlicher und effektiver, wenn sich die Erde an unsere Reaktion anpasst. Allerdings habe ich absolut kein Interesse an Verschwörungserzählungen, die von staatlicher Kontrolle, bewussten Falschmeldungen und Irreführungen oder gar geheimen Chips im Impfstoff und dem ganzen Bill Gates-Unsinn gespeist werden. Wenn es um die grundlegenden Fakten über das Virus und den Impfstoff geht, ist es für mich schockierend, dass so viele Menschen so leicht an das Lächerliche glauben und doch so resistent dagegen sind, das Offensichtliche zu verstehen. In „The gift“ geht es speziell um Corona, da es die Erde ist, die uns fragt, eher sarkastisch, ob wir das Geschenk mögen, das sie uns geschickt hat, das Geschenk ist natürlich dieses Virus, das uns den Atem rauben wird. Im weiteren Verlauf wird der Song immer düsterer und der Grund, warum uns das Virus geschickt wurde, wird offensichtlicher.

Es ist zu vermuten, dass du die Menschheit als die zerstörerische Plage auf diesem Planeten ansiehst.
Ja, das tue ich leider. Obwohl es Unmengen an guten Menschen gibt, die hart darum kämpfen, Dinge zu verändern, verläuft der Fortschritt schmerzhaft langsam, und der ignorante Widerstand gegen Veränderungen ist in vielen Bereichen fast unglaublich. Wir sind eine Plage. In vielerlei Hinsicht bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir einer der sehr seltenen Fehler der Natur sind. Wir sollten nicht hier sein. Wir sind für die ganze Erde so schädlich wie Heuschrecken für Feldfrüchte. Wir sind ein Krebsgeschwür auf diesem Planeten, und damit die Natur wieder aufblühen kann, müssen wir verschwinden, entweder das oder wir müssen uns in unmöglich kurzer Zeit drastisch verändern.

Du hast einmal gesagt, dass du deinen größten Hit „Cars“ 1979 in etwa zehn Minuten geschrieben hast. Wie zeitaufwändig ist das Songwriting für dich heute? Bist du ein disziplinierter „Arbeiter“ beim Songwriting, oder lässt du dich einfach inspirieren und die Songs fließen aus dir heraus?
Es dauert bei mir nicht allzu lange, die wesentlichen Bestandteile eines Songs zu schreiben, normalerweise kann ich etwas in ein oder zwei Tagen auf ein halbwegs fertiges Level bringen. Aber es dauert ziemlich lange, um die Produktion hinzuzufügen, eben diese zusätzliche Ebene des letzten Schliffs, die so viel ausmacht. Das ist deutlich mühsamer und zeitaufwändiger, als den Song selbst zu schreiben. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht sehr diszipliniert. Ich lasse mich eher von Deadlines und Panik leiten als von einem vernünftigen Zeitplan. Ich bedaure das wirklich, denn es verursacht mir eine Menge Stress, aber das ist schon sehr lange so.

Auf deinem Album „Savage: Songs From A Broken World“ ist deine Tochter Persia an einem deiner besten Songs, „My name is ruin“, beteiligt. Wie kam es dazu und planst du, mehr mit Persia zu machen?
Persia hat musikalisch ihre eigenen Ambitionen. Sie schreibt Songs und hat einige erstaunlich ungewöhnliche Ideen und sie sieht eine Karriere in der Musik als ihr Hauptziel an. Allerdings wurde sie auch von Select Models in London unter Vertrag genommen und hat einige Rollen als Synchronsprecherin übernommen, also hat sie wirklich die Wahl, wenn es um ihren zukünftigen Weg geht. Sie singt bei mehreren Songs auf „Intruder“, wie im Übrigen auch meine älteste Tochter Raven. Raven singt bei einem Großteil des neuen Albums und ist als Songschreiberin noch produktiver als Persia. Ich glaube, sie hat während der Pandemie über fünfzig Songs geschrieben. Sie hat sich selbst das Gitarrenspielen beigebracht. Auch Raven sieht in der Musik zukünftigen Karriereweg und ich werde mein Bestes tun, um sie beide zu unterstützen. Meine jüngste Tochter, Echo, ist eine fantasievolle Autorin von Kurzgeschichten und Gedichten und ich denke, sie betrachtet das Schreiben als ihre Bestimmung. Tatsächlich war es ein Gedicht, das Echo schrieb, als sie elf Jahre alt war, mit dem Titel „Earth“, ein Gedicht über die Erde, die zu den anderen Planeten über ihre Enttäuschung über die Menschen spricht, das mich auf die Idee für „Intruder“ brachte. Ich habe ihr Gedicht dem Artwork auf dem Album hinzugefügt, da ich bezweifle, dass das Album ohne ihren Text entstanden wäre.

Kann man sagen, dass das ULTRAVOX-Album „Systems Of Romance“ von 1978 sowie dein zufälliger Fund eines Minimoog-Synthesizers im Studio während der Aufnahmesessions zum TUBEWAY ARMY-Album „Replicas“ 1979 dein gesamtes Leben als Musiker nachhaltig beeinflusst haben?
Den Minimoog-Synthesizer zufällig im Studio zu finden, hat mein Leben tatsächlich komplett verändert. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn das nicht passiert wäre. Ich glaube immer noch, dass ich meinen Weg in die elektronische Musik gefunden hätte, weil sie so gut zu mir passt, aber die Reise wäre ganz anders verlaufen. Die Songs, und wann ich sie geschrieben hätte, das gesamte Timing, all das wäre anders gewesen, und so wäre auch alles, was danach kam, anders gewesen. Ich hätte vielleicht nie Nummer-eins-Singles und -Alben in den Charts gehabt. Ich wäre vielleicht nicht als Pionier angesehen worden, wäre wahrscheinlich gar keiner gewesen. Als ich über diesen Moog-Synthie stolperte, und all die Songs, die in den nächsten ein oder zwei Jahren darauf folgten, hat diese Abfolge von Ereignissen mein ganzes Leben geprägt, und all das wäre ohne diesen einen Moment der Entdeckung anders gewesen. Was ULTRAVOX und „Systems Of Romance“ anbelangt, so habe ich dieses Album geliebt, aber es hatte keinen lebensverändernden Effekt auf mich. Ich hatte ULTRAVOX noch nicht einmal wahrgenommen, bis ich mich intensiv mit elektronischer Musik beschäftigt habe.

Du hast einmal erwähnt, dass du 1979 mit DEPECHE MODE befreundet warst und sie beinahe zu Beggars Banquet geholt hättest, zu deren wichtigsten Acts du damals gehört hast, bevor Daniel Miller von Mute Records dir zuvorkam.
Ich war nicht unbedingt mit DEPECHE MODE befreundet, ich kannte sie zu der Zeit überhaupt nicht. Ich sah sie in einem Nachtclub in London spielen, kurz bevor ich meinen Durchbruch hatte. Ich fand sie brillant und hatte vor, sie auf Beggars Banquet aufmerksam zu machen. Am selben Abend sprach ich jedoch mit jemandem, der mit dem Club zu tun hatte, der mir sagte, dass er bereits einen Deal für sie hatte, also ließ ich es bleiben. Ich nahm viele Jahre lang an, dass der Deal, von dem er sprach, der mit Mute war, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich habe später erfahren, dass ich nur von diesem Mann abgelenkt wurde, der seine eigenen Pläne für DEPECHE MODE hatte, aus denen aber nichts wurde, weil Daniel Miller daherkam und die Band zu Mute holte.

Viele Musiker der frühen Synthie-Zeit wie Phil Oakey und Martyn Ware von THE HUMAN LEAGUE oder Daniel Miller mit THE NORMAL und ORCHESTRAL MANOEUVRES IN THE DARK haben immer erzählt, dass sie alle völlig unabhängig voneinander experimentiert haben und plötzlich kamst du aus heiterem Himmel mit deinem Album „The Pleasure Principle“ und hast sie alle weggeblasen. Wie hat es sich angefühlt, der erfolgreichste Act des damals aufkommenden Synth-Wave-Sounds zu sein?
Ich habe es zuerst mit meinem Album „Replicas“ geschafft, als ich noch unter dem Bandnamen TUBEWAY ARMY auftrat. Das kam Anfang 1979 auf Platz 1 in den UK-Charts und „The Pleasure Principle“ war Ende 1979 auf Platz 1, und das war als Gary Numan, also war es ein gutes Jahr für mich. Ich hatte keine Ahnung, dass es auch noch diese ganzen anderen Bands gab. Es scheint so, als ob wir alle so ziemlich das Gleiche machten, aber in unseren jeweiligen Wohn- und Schlafzimmern in Großbritannien weitgehend unbemerkt voneinander agierten. Es fühlte sich gut an, erfolgreich zu sein, und mit etwas erfolgreich zu sein, das weithin als etwas Neues und Ungewöhnliches betrachtet wurde. Aber es war mir anfangs nicht bewusst, dass ich die Speerspitze eines aufstrebenden Genres war, weil ich, wie gesagt, nicht wusste, dass es noch andere gab, die etwas Ähnliches machten. Es war aber alles sehr aufregend für mich.

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TUBEWAY ARMY „Replicas“
(LP, Beggars Banquet, 1979)
Das zweite und zugleich letzte Album der Elektropop-Pioniere TUBEWAY ARMY um Gary Numan, stark beeinflusst durch KRAFTWERK und ULTRAVOX. Die Hit-Single „Are friends electric?“ schaffte es im Juni 1979 auf Platz eins der britischen Charts. Inhaltlich dreht sich „Replicas“ vor allem um futuristische Themen, da Gary Numan an einem ähnlich gelagerten Buch schrieb. Ursprünglich als Punk-Album gedacht, wird es während der Aufnahmen zu einer wegweisenden Veröffentlichung im Bereich Synthie-Pop und New Wave, nachdem Gary Numan eher zufällig im Studio über einen Minimoog-Synthesizer stolperte. Da er sich derartiges Equipment nicht leisten konnte, lieh er ihn sich kurzerhand aus. Es handelte sich um einen Mini-Moog Model D. „Ich wusste nicht, wie man den Minimoog einstellt, also drückte ich einfach eine Taste mit irgendeinem vorinstallierten Sound, und es ertönte dieser berühmte Moog-Sound, dieses legendäre tiefe Knurren, und der Raum vibrierte.“

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Gary Numan „The Pleasure
Principle“ (LP, Beggars Banquet, 1979)
Sechs Monate nach „Replicas“ erschien Gary Numans erstes Soloalbum „The Pleasure Principle“ mit seinem bis heute wohl bekanntesten Song „Cars“, der in den Achtziger Jahren in keinem New-Wave-Club fehlen durfte. Neben dem Minimoog entdeckte Gary Numan auch den Polymoog-Synthie für seine Musik, der es ermöglichte, die synthetischen Streichersätze über den Basslauf zu legen. Bei den Aufnahmen war außerdem Chris Payne an den Keyboards und am Minimoog dabei, der später auch den VISAGE-Überhit „Fade to grey“ mitschrieb.

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Der Minimoog-Synthesizer
Drei Prototypen des Minimoog hatte Bob Moog 1969 gemeinsam mit den Ingenieuren Jim Scott, Bill Hemsath und Chad Hunt bereits gebaut, bevor im Dezember 1969 die berühmte Variante „D“ erstmals funktionsfähig war, wenn auch noch nicht fertig, und die ersten Töne von sich gab. Der 24. Januar 1970 war ein wichtiger Tag für die Geschichte der Synthesizer. Jener Tag, an dem Robert Moog den ersten Minimoog auf der amerikanischen Musikmesse NAMM Show der Fachwelt vorstellte. Der Minimoog war der erste Kompakt-Synthesizer. Bis dahin gebaute Synthesizer waren große modulare Systeme, deren einzelne Module durch externe Steckverbindungen miteinander verschaltet wurden. In den folgenden elf Jahren wurden ca. 13.000 Stück produziert und erfolgreich in die ganze Welt verkauft. Elf Jahre, in denen er quasi als Blaupause diente für viele weitere Synthesizer-Generationen. Bob Moog verstarb am 21. August 2005 in Asheville an einem Gehirntumor. Sein Andenken wird heute durch die „The Bob Moog Foundation“ bewahrt, die sein Sohn ins Leben gerufen hat. Aber vor allem der legendäre „Moog-Sound“ in all den originalen und mehr oder wenig gut klingenden Ablegern sorgt dafür, dass Bob Moog Musikgeschichte geschrieben hat.
Es waren besonders Musiker wie Ralf Hütter und Florian Schneider von KRAFTWERK, die den Minimoog auf ihren Alben intensiv einsetzten, beispielsweise bei ihrem Hit „Autobahn“ von 1974. Ohne den Minimoog kein KRAFTWERK, könnte man fast plakativ sagen. NEW ORDER begründeten ihren Welterfolg 1983 mit „Blue Monday“ und dessen Bassline stammt aus einem Moog Source und einem Powertran Sequencer, den Bernard Sumner selbst gebaut hat. Die Bedeutung des Minimoog für die Musikwelt ist schier unendlich, sie reicht von DEPECHE MODE, TANGERINE DREAM, Jean-Michel Jarre, Thomas Dolby („She blinded me with silence“), PINK FLOYD („Wish you where here“), Edgar Froese bis hin zu AIR, Trent Reznor von NINE INCH NAILS und sogar Bob Marley, der ihn beim Song „Stir it up“ verwendete.