GRÜNES VINYL

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Ein Interview zu Schallplatten und Nachhaltigkeit

Andreas „Kanzler“ Kohl betreibt seit fast 25 Jahren etwas außerhalb von Berlin das Label Exile On Mainstream. Noch länger arbeitet er im Indie-Musikgeschäft und kümmert sich seit vielen Jahren um die Produktion. Nicht selbst an der Maschine stehend, sondern die Aufträge von Labels koordinierend. Aktuell beschäftigt er sich stark mit dem Nachhaltigkeitsaspekt der Tonträgerherstellung, konkret geht es um Vinyl, das nicht mehr aus fossilen Rohstoffen hergestellt wird. Wir haben uns das alles mal erklären lassen.

Andreas, dich kennt man schon ewig als den Macher des feinen Labels Exile On Mainstream. Seit wann machst du das schon, was hast du aktuell raus oder in Arbeit?

Exile On Mainstream gibt es seit 1999. Wir feiern 2024 unseren 25. Geburtstag. Das fühlt sich ein wenig surreal an. Ich hätte nie gedacht, dass wir so lange durchhalten, aber wie es mein guter Freund Arne von Noisolution mal formuliert hat: Wir müssen nicht die Besten sein, sondern einfach nur übrig bleiben, ha! Momentan arbeiten wir an der neuen Platte von THE MOTH, einer Doom/Sludge-Band aus Hamburg. Sie gehören schon lange zum erweiterten Freundeskreis des Labels und deshalb bin ich sehr froh, dass sie ihre neue Platte bei uns machen. Sie wird Ende September erscheinen. 2024 bringt uns dann neue Scheiben von SONS OF ALPHA CENTAURI oder Conny Ochs und einige Überraschungen wie zum Beispiel unseren ersten Gedichtband.

Als Labelmacher hast du wohl irgendwann so viel über die Herstellung von Vinyl lernen müssen, dass du die Seiten gewechselt hast: vom Pressauftraggeber zum Pressauftragnehmer. Du warst lange bei einem großen deutschen Presswerk angestellt. Wie erinnerst du deinen sicher auch mal Lehrgeld kostenden Werdegang und das „Hineinfuchsen“ in das Verstehen des Vinylpressvorgangs?
Zunächst einmal ist die Liebe für Vinyl irgendwie in meiner DNA angelegt. Ich habe immer Platten gekauft, geliebt und Musik fast ausschließlich auf Vinyl gehört. Ich habe bis heute weder einen Spotify-Account noch irgendwelche Tracks auf meinem Handy, Sticks oder sonstige Player. CDs waren immer ein irgendwie notwendiges Übel für mich. Ich mag die Konzentration auf die Musik, die einem Vinyl abverlangt. Sie ist nie Beiwerk. Man muss sich in einen Raum begeben, in dem sich Plattenspieler, Lautsprecher und Verstärker befinden. Die Spielzeit verbietet es, große, aufmerksamkeitsschluckende Handlungen nebenbei zu vollführen. Exile On Mainstream wurde als Vinyllabel gegründet, in einer Zeit, in der wenige Labels überhaupt Vinyl gemacht haben. In meinem Job für Southern Records in UK habe ich damals auch die Herstellung für Labels wie Dischord, Constellation, Crass oder Wrong abgewickelt und mich da irgendwie eingearbeitet. Zum anderen bin ich technisch sehr affin. Ich mag Maschinen und mein Lieblingsfach in der Schule war Physik. Deshalb kann ich mit der hochkomplexen Herstellung von Schallplatten eine Menge anfangen. Es wird nie langweilig. Die Probleme und Herausforderungen sind so detailliert, dass man tatsächlich jeden Tag etwas dazulernt, auch nach fast zwanzig Jahren. Na ja, und diese physikalische Seite, gekoppelt mit dem kulturellen Effekt und Musik an sich ist einfach mein Traumjob, das kann ich nicht anders sagen. Deshalb ist der Begriff Lehrgeld vielleicht etwas zu negativ. Es wird nie langweilig und jeden Tag kommt etwas Neues dazu. Das ist so unglaublich großartig. Ich bin dafür sehr dankbar. Als ich 2013 meine Promo- und Bookingagentur geschlossen habe, wollte ich tatsächlich „was mit Herstellung“ machen und da kam das Angebot von Optimal Media gerade recht. Nach zehn Jahren hatte ich nun Lust auf was Neues, aber im selben Metier. Nun arbeite ich für einen sogenannten Broker. Die in UK ansässige Firma Keyproduction wickelt Aufträge von vorwiegend Independentlabels ab und arbeitet mit so ziemlich allen Presswerken in Europa zusammen. Ich bin nun in der glücklichen Lage, alle kennen zu lernen. Neben der Abwicklung von Aufträgen machen wir aber noch viel mehr: technische Beratung, Entwicklung von Konzepten zur Nachhaltigkeit und Prozessoptimierung.

Apropos, hast du ein paar Dos und Don’ts oder „Fails“ für uns, wo bei dir oder anderen mal was richtig daneben ging bei einer Pressung? Was sind da gern genommene Fehler? Hier und da gibt es ja mal Platten mit der falschen Band auf einer Seite und so weiter ...
Dos und Don’ts zu verallgemeinern ist immens schwierig, weil die Herstellung ja sehr komplex ist und es ganz besonders davon abhängt, wie die einzelnen Glieder der Kette aus Musik, Aufnahme, Abmischung, Mastering, Überspielung, Presswerkzeugerstellung, Pressung, Verpackung und Transport ineinandergreifen. Die Liste zeigt es schon: Wir haben es mit vielen verschiedenen Einflüssen zu tun, für die es allesamt keine technischen Normen, manchmal nicht einmal festgelegte Toleranzen gibt. In einer Welt, in der wir sowohl technologisch, aber auch ökonomisch und soziologisch „digitalisiert“ sind, unsere Entscheidungen also nach „Strom fließt/Strom fließt nicht“ fällen und alles irgendwie in Kategorien nach schwarz/weiß einordnen wollen, hat es Vinyl mit seinen Nuancen sehr schwer. Pressfehler, unzureichendes Mastering oder auch nur die Frage danach, wie wellig eine Platte nun sein darf, ordnen sich diesen Einschätzungen unter. Mich persönlich stört zum Beispiel eine Platte mit 3 bis 4 mm Höhenschlag überhaupt nicht. Ich weiß, dass rein physikalisch jeder handelsübliche Tonarm diese Welligkeit ausgleichen kann und mehr oder weniger exakt abtastet. Ich kann aber auch verstehen, dass es jemanden nervt, wenn die teuer gekaufte Platte auf dem Teller rumwabbelt. Der von dir angesprochene Fehler von vertauschten Etiketten, Mastern oder Pressmatrizen kommt höchst selten vor. Dafür sind Presswerke heute mit Produktionsplanungssystemen ausgestattet, die das Risiko drastisch reduzieren. Trotzdem passieren solche Fehler natürlich auch mal. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Plattenherstellung auch 2023 nicht so automatisiert ist, wie man sich das vielleicht vorstellt. Es sind hier Menschen am Werk – mit all ihren Fehlern und subjektiven Einschätzungen. Ich möchte nicht in den Verdacht kommen, Lobbyarbeit für die Plattenindustrie zu betreiben, aber es ist eben einfach eine Tatsache, dass viele Entscheidungen hinsichtlich Qualität, vertretbarer Fehler oder auch den Klang betreffend, von Menschen getroffen werden und diese Wahrnehmungen und Einschätzungen sind einfach subjektiv.

Vinyl steht bei manchen Menschen in der Kritik, weil es eben aus Polyvinylchlorid besteht, einem Erdölprodukt. Sinngemäß las ich schon Social-Media-Kommentare der Art „Ihr scheiß Boomer, ihr fahrt nicht nur SUVs und fliegt in den Urlaub, ihr verballert für eure Alte-weiße-Männer-Musik auch noch fossile Rohstoffe!“ Wie schuldig fühlst du dich, müssen wir Neuvinylkäufer uns fühlen?
Auch die Antwort auf diese Frage ist extrem komplex. Sie hat zunächst erst einmal eine soziologische und philosophische Komponente: Musik ist ein entscheidender Bestandteil unserer Kultur. Kultur ist Zivilisation. Und Kultur beansprucht Ressourcen und gestaltet damit das Habitat um, in dem wir leben. Und diese Umgestaltung ist irreversibel. Sie vernichtet Ressourcen, die wir zum Leben und Überleben brauchen. Ich will hier jetzt keinen Aufsatz über nachhaltige Kultur schreiben und die Notwendigkeit der Aufzeichnung kultureller Äußerungen, wie zum Beispiel ob wir uns eine Diskussion darüber erlauben dürfen, ob Helene Fischer-Platten gepresst werden sollten oder nicht, was „Alte-weiße-Männer-Musik“ ist und wie hoch der Anteil der Vinylindustrie am Verbrauch fossiler Rohstoffe ist. Es ist überaus schwer, Zahlen zur Speicherung und Nutzung von Schallplatten und zum Beispiel Streaming zu vergleichen – da geht es um Daten zum Energieverbrauch, Transport, Herstellung, Administration. Die Frage ist: Was können und dürfen wir uns als Gesellschaft erlauben? Wie wägen wir zwischen Erhalt unserer Kultur und unseres Habitats ab? Ich habe darauf keine Antwort, das gebe ich ehrlich zu. Und deshalb kann ich auch nicht pauschal sagen, ob ich mich schuldig fühle oder nicht. Im Einzelfall bemerke ich das aber schon, wenn ich zum Beispiel eine 7“ kaufe, die ich unbedingt haben wollte, die ich dann aber nur ein paar Mal abspiele. Muss das sein? Auf der anderen Seite sehe ich dann aber auch die Künstler dahinter, die natürlich jede Menge Arbeit und Enthusiasmus da reingesteckt haben, um etwas Bleibendes zu schaffen. Nähere ich mich der Problematik von dieser Seite, sehe ich die Schallplatte als durchaus nachhaltiges Produkt. Sie kann faktisch unbegrenzt genutzt werden, ist ein bleibendes Gut und seien wir mal ehrlich: sie wird eher selten weggeworfen oder muss recyclet werden. Sie ist in der Herstellung derzeit noch wenig ressourcenschonend, in ihrer Nutzung aber durchaus. Und an der Herstellung arbeiten wir fieberhaft. In den nächsten Wochen werden die ersten Platten erscheinen, die auf Material gepresst sind, das zwar immer noch PVC-basiert ist, aber das zur PVC-Herstellung nötige Ethylen stammt nicht mehr aus Erdöl, sondern aus zum Beispiel altem Frittenfett. Erdölfreies PVC wird in den nächsten Jahren zum Standard werden, da bin ich mir sicher. Hinzu kommt, dass PVC als ältestes Thermoplastik gerade in der Herstellung und im Recycling sehr gut erforscht ist und im Vergleich zu anderen Kunststoffen unter verhältnismäßig energiearmen Bedingungen recyclet werden kann. Wenn man dann noch in einer Region lebt, in der es eine gut ausgebaute Infrastruktur zur Sammlung und Aufbereitung gibt, ist PVC gar nicht mal so scheiße, wie man denkt. Landet aber zum Beispiel eine Platte im Hausmüll oder gemeinsam mit anderen Kunststoffen in einer Verbrennungsanlage ohne entsprechende Rohstoffrückgewinnung, wie das zur PVC-Herstellung notwendige Chlor, wird PVC wiederum zu einem nahezu untragbaren Material. Doch nicht nur daran wird geforscht. In Großbritannien bereitet derzeit die Firma Evolution Music die Markteinführung eines neuen Materials vor, das nicht mehr auf PVC basiert, sondern auf den nachwachsenden Rohstoffen Maisstärke und Milchsäure. Keyproduction hat in diese Firma investiert und wir arbeiten eng mit den Forschenden zusammen. Die Qualität der gepressten Platten ist noch nicht ganz auf dem Level, das wir uns wünschen, wir sind aber zuversichtlich, das in den Griff zu bekommen. Auch hier wird es wieder philosophisch: Sind Käufer jetzt schon bereit, eine Platte auf einem nachhaltigen Kunststoff zu akzeptieren, die etwas teurer ist und in etwa so klingt wie eine herkömmliche Picture Disc? Eine allgemeingültige Antwort kann es darauf nicht geben.

Und was ist mit Recycling-Vinyl? Das hat ja einen schlechten Ruf, angeblich knistert das. Aus was wird das hergestellt? Und klingt es wirklich nicht so gut, wenn man Grindcore auf Recycling-Vinyl hört ...?
Zunächst muss man natürlich erst mal klären, was Recycling-Vinyl eigentlich ist, denn schon hier gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen. Wir verstehen unter dem Begriff Vinyl, das aus Abfällen in der Produktion in den Presswerken entsteht – also Randabschnitte und Platten, die die Qualitätskontrollen nicht bestanden haben. Das Material wird granuliert und wieder für die Produktion eingesetzt oder beigemischt. Diese Platten können inzwischen qualitativ locker mit solchen aus frischem, sogenanntem Virgin Vinyl hergestellten mithalten – natürlich abhängig davon, wie die jeweiligen Werke ihr Handwerk verstehen. Ein schlechter Ruf sollte also nicht dem Material anhaften, sondern den Herstellern. Platten aus 100% recycletem Material werden aktuell nur von einigen wenigen Herstellern angeboten und deren Platten finde ich persönlich absolut in Ordnung. Das physikalisch nachweisbare, etwas erhöhte Grundrauschen wird in den meisten Fällen durch die Musik überdeckt. Hat man es mit hochdynamischem Audiomaterial zu tun, das zum Beispiel sehr leise Passagen hat, kann es störend wirken, aber auch hier gilt: Subjektive Wahrnehmung im Zusammenspiel mit guter Qualitätskontrolle, Handwerk und Erwartungshaltung. Es gibt einfach Musik, die prinzipiell nicht vinyltauglich ist, wenn man sie möglichst rein und sauber genießen will. Dafür wurde ja einst die CD erfunden. Das Recycling älterer Platten verbietet sich übrigens, weil die meisten vor 2010 gepressten Platten Stoffe als Stabilisatoren enthalten, deren Verarbeitung zumindest in der EU nicht mehr gestattet ist – aus gutem Grund. Eine andere denkbare Form des Recyclings wäre noch das Verbrennen von Platten mit Chlor-Rückgewinnung, das dann zur Herstellung von neuem, frischem Material verwendet wird – ein Verfahren, das in der PVC-Industrie längst angewendet wird, nur noch nicht bei Schallplatten. Ich denke aber, auch das wird in absehbarer Zeit kommen.

Ist Green Vinyl ein „Orchideenthema“, ein Steckenpferd von dir, von der Firma, für die du arbeitest? Oder ist das Grundlagenarbeit, denn aus PVC besteht ja auch das Vinyllaminat in der schicken neuen Wohnung oder die neuen Thermofenster, ohne die eine Wärmepumpe im Altbau sinnlos ist?
Für diese Frage muss ich noch mal zurückgehen zu den Antworten, die ich vorher gegeben habe. Zuerst einmal: „Green“ ist ein Begriff, der mir genauso auf den Wecker geht wie „Bio“ oder „Eco“. Für mich ist eine Verwendung dieser Begriffe ohne eine nachgestellte Erklärung blankes Greenwashing. Wir müssen endlich dahin kommen, für die Verwendung dieser Begriffe Erklärungen einzufordern und sie vor allem auch zu liefern. „Green Vinyl“ ist dann noch mal doppelter Nonsens, weil der Begriff aktuell für Ideen und Materialien verwendet wird, die nicht aus Polyvinylchlorid hergestellt sind – die sind also nicht „Vinyl“. Aktuell findet man unter dem Begriff eine niederländische Firma, die ein vielversprechendes Verfahren entwickelt hat, Platten aus PET mittels Spritzgusstechnik herzustellen – also nicht gepresst, sondern in einem der CD ähnlichen Verfahren. Das Material ist PET, also theoretisch ist die Fertigung aus 100% recycleten Plastikflaschen möglich. Die Platten klingen gut, aber sie sind nicht „Vinyl“ und „Green“ sind sie auch nicht, sondern in allen möglichen Farben erhältlich. Ob sie ökologisch beziehungsweise nachhaltiger sind als herkömmliche Schallplatten, ist noch nicht restlos geklärt, da zum Beispiel Informationen über den tatsächlichen Energieverbrauch, die Ausschussrate etc. fehlen. Die Pressmasse, in deren Entwicklung die Firma investiert hat, für die ich arbeite, heißt aktuell Evomix, also nicht Green Vinyl. Es basiert auf synthetischen Polymeren, sogenanntem PLA (Polylactid), das auf Basis nachwachsender Rohstoffe wie Maisstärke und Milchsäure synthetisch hergestellt wird. Ebenfalls entwickelt wird derzeit ein Material mit dem wohlklingenden und einfach zu merkenden Namen Polyhydroxyalkanoate, kurz PHA. Dieses ist aber noch weit davon entfernt, für Schallplatten tauglich zu sein. PHA ist ein Biopolymer, das von Bakterien gebildet wird und ebenso wie PLA schon länger in der Lebensmittelindustrie bei Einwegverpackungen Anwendung findet. Beide Stoffe, PLA und PHA sind biologisch abbaubar und damit nachhaltig. So schön, so gut. Aber hier sind die Probleme: Für die Schallplattenpressung muss das Material eine ganz besondere Güte haben, die noch nicht erreicht ist. Aber es wird geforscht, getestet und neu rezeptiert. Ich bin guter Hoffnung, dass wir noch in diesem Jahr die ersten Platten auf PLA erleben werden. Ob PHA jemals funktionieren wird, können wir aktuell noch nicht sagen. Die biologische Abbaubarkeit ist ein anderes Problem: Macht man so ein Rohmaterial heimkompostierbar, wird es unter Umständen so instabil, dass es sich bei nicht idealen Lagerbedingungen zersetzt. Das will man bei einer Platte natürlich nicht haben. Macht man es hingegen so, dass es in speziellen Kompostieranlagen recyclet werden kann, braucht man ein vernünftiges Konzept der Kompostierung und Sammlung. So eine Platte im Hausmüll wäre dann kontraproduktiv und würde eventuell sogar gegen eine Standard-PVC-Platte den Nachhaltigkeitswettstreit verlieren. Und damit haben wir die Kurve geschlagen zu deiner Frage: Alle diese Probleme sind für die Schallplattenfertigung neu, für die Gesamtheit der plastikverarbeitenden Industrie sind sie jedoch Tagesgeschäft und beschäftigen uns bereits seit Jahrzehnten.

Welcher Aufwand an Forschung und Entwicklung, an Trial & Error, steckt in eurem „Green Vinyl“ ... und behaltet ihr das Produkt für euch oder wird das gesamten Branche zugänglich gemacht?
Die Entwicklung läuft jetzt seit etwa vier Jahren. Es gab mehrere Testreihen, an denen verschiedene Presswerke beteiligt waren. Natürlich soll das Material der gesamten Branche zugänglich gemacht werden.

Wie sieht das von der finanziellen Seite her aus? Vinyl ist ja schon massiv teurer geworden in der jüngsten Zeit – und dann noch „Öko-Aufschlag“ ...? Ist das auf DIY-Basis noch bezahlbar?
Die letzten Jahre haben uns gezeigt, dass eine Antwort auf so eine Frage unlauter wäre. Die Rohstoffmärkte für Material, Energie etc. sind so schwankend und instabil, dass man unmöglich absehen kann, wie sich die Preise entwickeln. Danke, Kapitalismus! Und wie es eben so ist: Forschung und Entwicklung sowie eine neue noch nicht breit angewendete Technologie müssen finanziert werden. Deshalb werden diese Platten anfangs mit ziemlicher Sicherheit teurer sein. Die Entwicklung findet aktuell noch nicht unter der Beteiligung großer Konzerne statt und es bleibt abzuwarten, ob sie Interesse zeigen oder nicht. Es ist also alles noch „independent“, wobei sich das vor allem auf das Material bezieht. Die Pressung selbst wird auf handelsüblichen Pressmaschinen laufen und damit den Kosten unterliegen, die Presswerke haben, und eben auch den damit verbundenen Steigerungen aus Energiepreisen, Personal, etc. Hier sehen wir aktuell aber deutliche Zeichen für Entspannung.

Wie ist der ökologische Fußabdruck von „Green Vinyl“ im Vergleich zu Erdöl-Vinyl? Letztlich ist ja auch der Energieeinsatz bei der Pressung ein Faktor, und da ist Kohlestrom oder Windstrom sicher auch maßgeblich.
Das Konzept des „CO2-Fußabdrucks“ ist eine ganz hübsche Erfindung des Mineralölkonzerns BP, der ich durchaus skeptisch gegenüberstehe, weil mit einer Kompensation über Zertifikatehandel etc. die Probleme nicht gelöst werden können. So sehr ich den Einfluss des CO2-Ausstoßes auf das Klima verstehe und eine Reduzierung als absolut dringend notwendig erachte, sollten wir andere ökologische Problematiken nicht aus den Augen verlieren, wie zum Beispiel Abfall. Konzentrieren wir uns bei der Frage also rein auf das Material an sich, sind alle drei hier vorgestellten Konzepte prinzipiell schon nachhaltiger: erdölfreies PVC, PET-Spritzguss oder PLA-basierte Pressmasse. In der Verarbeitung werden sie über einen Vergleich der Plattenherstellung selbst betrachtet und da lohnt sich dann der Blick auf die jeweiligen Nachhaltigkeitskonzepte der Presswerke: Wo kommt der Strom her, woher das Gas? Gibt es einen geschlossenen Kühlkreislauf, wird die Abwärme genutzt? Wie funktioniert die Aufbereitung von Abfällen intern? Unterstützt das Werk entsprechende Projekte, wie zum Beispiel lokale Aufforstung, Wasserschutz. Ich sehe gerade in den letzten Jahren eine Menge Forderungen an die Werke, sich hier mehr zu engagieren. Das ist absolut nötig, aber die Verantwortung allein auf die Hersteller abzuwälzen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Auch die Labels, Künstler und wir Konsumenten sind gefordert. So kann man als Label sich ja auch ein Projekt suchen, das man direkt unterstützt – Aufforstung zum Beispiel. Und letztlich müssen wir Konsumenten uns auch an die Nase fassen, wie bewusst wir in Zukunft Musik hören – Bewusstsein und bewusst machen. Und das hatte ich ja am Anfang schon gesagt, Vinyl bietet da tolle Voraussetzung, weil es eben die Konzentration fordert und fördert.

Letzte Frage: Wer kontrolliert eigentlich das Mittelloch? Gefühlt ist heute bei jeder zweiten LP das Mittelloch zu klein, so dass die Platte nur mit Gewalt oder nach Nachbearbeitung auf den Dorn passt ... Nervt mich total. Aber das merken ja nur die Leute, die ihre LPs auch abspielen ...
Das Mittelloch einer Platte ist einer der wenigen tatsächlichen Standards, die es Schwarz auf Weiß gibt, allerdings mit einer Toleranz. Die Recording Industry Association of America schreibt ein Mittelloch von 7,26 mm vor, mit einer Toleranz von +0,02/-0,05 mm. Die existiert, weil eine exakte Stanzung technisch nicht möglich ist. Es kann eben manchmal etwas zu groß oder zu klein sein. Es ist ein mechanischer Vorgang. Und jetzt kommt’s: Die Plattenspielerhersteller fühlen sich zwar an diese Norm gebunden, müssen sie aber nicht erfüllen. Oder mit anderen Worten: Niemand kontrolliert es, weil eben in der Fertigung des Mitteldorns der Plattenspieler ebenso Toleranzen auftreten können. Und daher ist es eben nicht immer ganz einfach herauszufinden, ob jetzt vielleicht der Dorn zu dick oder das Mittelloch zu klein ist. Ich persönlich ärgere mich eher über zu große Mittellöcher, weil dann die Gefahr eines Seitenschlages besteht, der den Musikgenuss schon merklich trüben kann. Ein zu kleines Mittelloch kann man vorsichtig nacharbeiten und dann sitzt die Platte fest und gut zentriert auf dem Teller. Zu deiner Frage: Es ist natürlich unmöglich, die Größe des Mittellochs bei jeder einzelnen gepressten Platte zu überprüfen. Die Kontrolle erfolgt stichprobenartig, durch ausgebildete Mitarbeiter, die Platten produktionsbegleitend abhören und dazu handelsübliche Plattenspieler benutzen. Ist ein Mittelloch zu klein, wird das bei einer solchen Kontrolle natürlich bemerkt – weil eben handelsüblicher Plattenspieler!

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PVC Für die Herstellung von Vinylschallplatten wird seit ca. 1948 ein Granulat aus Polyvinylchlorid, kurz PVC verwendet. Dieses wird in einem Extruder erwärmt und zu kleinen „Kuchen“ geformt, welche in einer Schallplattenpresse zwischen zwei Matrizen unter Hitze und hohem Druck sich verflüssigen und somit den Rillen der Matrizen anpassen. Polyvinylchlorid ist vielseitig einsetzbar, ob als Bodenbelag, für Rohre oder auch für Schallplatten. Doch schon seit längerem steht der Kunststoff in der Kritik. Für die Herstellung wird Erdöl/Erdgas und Steinsalz benötigt, dass diese Rohstoffe uns nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen und der Abbau und die Förderung nicht besonders gut für unsere Umwelt sind, sollte bekannt sein. Die Herstellung von PVC hat sich seit 1940 nicht wirklich verändert und trägt ihren Teil zum weltweiten CO2-Ausstoß bei. Für eine Schallplatte wird etwa 135 g PVC benötigt, wobei für die Produktion 0,5 kg CO2 anfällt, ohne Verpackung und Transport, so die Universität Keele.