GUIDED BY VOICES

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Die letzten Zehn

Die GUIDED BY VOICES der Jahre 2016 bis 2020 haben schon personell nicht viel mit der Band gemeinsam, die für die Klassiker „Propeller“ (1992) „Bee Thousand“ und „Alien Lanes“ (beide 1994) verantwortlich war. Auch könnte man den Charme der ehemals skizzenhaften, kaputten LoFi-Produktion heute wohl nicht so einfach ohne Authentizitätsproblem wiederaufleben lassen. Dennoch ist die Band aus Dayton, Ohio seit ihrer letzten Wiederauferstehung vor fünf Jahren produktiver als je zuvor.

In der Folge wurden zwischen 2016 und Ende 2020 zehn packende GUIDED BY VOICES-Platten veröffentlicht. Dazu erschienen vier Alben von CASH RIVERS AND THE SINNERS, Pollards nicht ganz ernst gemeintes Country-Projekt, bei dem die derzeitige GBV-Inkarnation ebenfalls als Backing-Band dient. Die von vielen als „new classic line-up“ bezeichnete Besetzung ist integral für den heutigen GBV-Sound und besteht aus Kevin March (dr), Mark Shue (bs), Doug Gillard (gt) und Bobby Bare Jr. (gt), auch wenn Pollard als so charismatischer wie rätselhafter Frontmann und Hauptsongwriter die wichtigste Konstante bleibt. Der veröffentlichte neben Soloalben unter seinem eigenen Namen unzählige Platten mit BOSTON SPACESHIPS, ESP OHIO oder CIRCUS DEVILS, um nur ein paar aus der jüngeren Vergangenheit zu erwähnen. Selbst im Corona-Jahr 2020 entschleunigte die Band nicht, ganz im Gegenteil: Mit „Styles We Paid For“ erschien im Dezember Platte Nummer drei innerhalb eines Jahres. Hier nun die zwischen 2016 und 2020 erschienenen Alben.

„Please Be Honest“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2016)

„Please Be Honest“ markierte nach der letzten Auszeit der Band die Reaktivierung des Namens GUIDED BY VOICES. Das Material wurde von Pollard im Alleingang geschrieben und eingespielt. Es scheppert und fiept durchweg, die verschroben-schönen Melodien tun sich trotzdem hin und wieder auf. Seine Genialität scheint in den recht unfertigen LoFi-Nummern also durch, man muss aber Geduld haben und in der passenden Stimmung sein, da die Platte an einigen Stellen wirklich enervierend ist. Unterm Strich entbehrlich. Und doch, ein so hartes Urteil fällt angesichts eines tollen Songs wie „My Zodiac companion“ schwer. Technisch gesehen Pollards zweite Soloplatte 2016, denn mit „Of Course You Are“ erschien im selben Jahr auch noch ein Album unter seinem Namen.

„August By Cake“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2017)

Bob Pollards 100. Release! Der Anteil an überdurchschnittlich gutem Material ist auf diesem Doppelalbum mit einer Spielzeit von 71 Minuten absolut beachtlich. Von Pollard selbst stammen dabei „nur“ 22 der 32 Tracks, da hier alle Bandmitglieder eigene Songs beisteuerten. Daraus ergibt sich die musikalische Vielfalt dieses vertonten fahrenden Zirkus, der sich zwischen Lo- und MidFi-Sound ansiedelt. Einer der überraschenden Höhepunkte ist der fluffige Indie-Hit „Overloaded“, der aus der Feder des Drummers Kevin March stammt. Knüpft beinahe an die glorreiche Zeit Anfang bis Mitte der 1990er an und erinnert stellenweise an Platten wie „Bee Thousand“ und „Alien Lanes“. Das beste Album der letzten Jahre.

„How Do You Spell Heaven“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2017)

Das Sandwich-Album zwischen den beiden überaus starken Releases „August By Cake“ und „Space Gun“ verdeutlicht, wie manche GBV-Platte unverdient beinahe untergeht, die in den Diskografien anderer Bands wohl eine Ausnahmestellung einnähme. „How Do You Spell Heaven“ hat Wumms, ist direkter als der Vorgänger und mit Classic-Rock-Einlagen gespickt. Bis auf den Instrumental-Track kann ich hier eigentlich nichts Entbehrliches entdecken. Vor allem das letzte Drittel der Platte ist auf extrem hohen Niveau: „Steppenwolf mausoleum“ und „Low flying perfection“ etwa fallen für mich in die Kategorie „GBV-Neo-Klassiker“.

„Space Gun“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2018)

„Space Gun“ bildet eine Ausnahme, da es 2018 die einzige im Verlauf eines Jahres veröffentlichte GBV-Platte bleibt. Da die Band so zufrieden mit dem Ergebnis war, wollte man den Hörer nicht durch zusätzliches Material ablenken – wenngleich 2018 eine CASH RIVERS AND THE SINNERS-Platte erschienen war. Die Songs sind ausgegorener, geradliniger und teils deutlich länger, der Sound ist unheimlich warm und harmonisch. Der exzellente Track „That’s good“ (in akustischer Version auf der 2009er Compilation „Suitcase 3“ zu finden) wurde komplett neu arrangiert und kratzt mit seinem pompös in Szene gesetzten Synth-Streicher-Ende doch arg an der Kitschgrenze. Trotzdem: Von solchen Songs, solchen Platten träumen andere. Extrem starke Veröffentlichung.

„Zeppelin Over China“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2019)

Die 32 Songs des zweiten Doppelalbums wurden ausschließlich von Bob Pollard geschrieben. Produziert wurde die weitgehend düstere und ernste Platte vom zeitweiligen GBV-Kollaborateur und langjährigen Wegbegleiter Travis Harrison, der mit Pollard und Gillard auch bei ESP OHIO spielte. Einige Songs sind Überbleibsel der „Space Gun“-Sessions, die dort fehlplatziert geklungen hätten. Der Titel stammt von Pollards Ende der Siebziger geschriebenen Song „Zeppelin over China (And everybody thinks it’s a raincloud)“. Passend ist der Titel für dieses 74-minütige Monster auch deswegen, weil es einem unweigerlich die Assoziation zu LED ZEPPELIN aufs Auge drückt. Und tatsächlich deutet ein Song wie „Charmless Peters“ mit seinen subtilen Prog-Rock-Anleihen schon an, in welche Richtung es später bei „Sweating The Plague“ geht.

„Warp And Woof“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2019)

Auf „Warp And Woof“ wurden vier 7“s namens „Winecork Stonehenge“, „100 Dougs“, „Umlaut Over The Özone“ and „1901 Acid Rock“ gebündelt, die 24 Songs umfassen und kurz vor „Zeppelin Over China“ erschienen sind. Der dünne Gitarrensound Gillards trägt viel zum luftigen Klang dieser poppigen Platte bei, die es auf gerade mal 37 Minuten bringt – die langen Kompositionen der Vorgänger sind also verschwunden. Mit „Cohesive scoops“ ist ein Instant Classic gelungen, der vor allem durch die unterhaltsame Intonation sofort hängenbleibt. Der Opener greift den Plattentitel „The Same Place The Fly Got Smashed“ von 1990 auf, an dessen fragmentarische Herangehensweise „Warp And Woof“ auch anknüpft.

„Sweating The Plague“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2019)

Unter den fünfzig Lieblingsalben Pollards finden sich unter anderem Klassiker von BEATLES, David Bowie, WIRE, KING CRIMSON, YES und THE WHO. „Sweating The Plague“ ist ein Paradebeispiel für diesen Schmelztiegel an unterschiedlichen Einflüssen – vor allem das Thema Prog-Rock nimmt hier einen gewissen Raum ein. Im Songwriting unterscheidet es sich von vielen Vorgängerproduktionen, da die Band hier viel mehr auf das genauere Ausarbeiten der Songs aus war. Auf das typische Anhäufen von Songs wurde ausnahmsweise mal verzichtet – eine 12-Song-Platte gab es zuletzt 1987 mit „Sandbox“. Und wieder ist es Drummer Kevin March, der die Überraschung und den heimlichen Hit der Platte liefert, indem er den Gesang übernimmt bei „Your cricket is rather unique“ und dabei wirklich großartig klingt.

„Surrender Your Poppy Field“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2020)

Die erste Platte 2020 gibt sich ähnlich ambitioniert wie „Sweating The Plague“ und ist doch grundverschieden. Während der Vorgänger sich auf einen bestimmten Sound konzentriert, kommen die Stil-, Stimmungs- und Tempowechsel hier doch arg abrupt. So wirkt sie bei allem Ideenreichtum weniger kompakt und ausgereift und erreicht nicht deren Durchschlagskraft. Mit der Ballade „Volcano“ im PIXIES-Style findet sich hingegen einer der Überhits der neueren Bandgeschichte, der jedoch auch recht radiotauglich geraten ist. Keine schlechte Veröffentlichung, aber doch einer der schwächeren Beiträge der qualitativ sehr dichten letzten Jahre.

„Mirrored Aztec“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2020)

Obwohl „Mirrored Aztec“ für mich das beste GBV-Album 2020 ist, leidet es unter der Neigung Pollards, zu viel Material auf einer Platte unterbringen zu wollen. Manche Songs hätte es hier einfach nicht gebraucht. Im Gegenzug sind mit „Thank you Jane“, „To keep an area“ und „Show of hands“ außerordentlich starke, straighte Nummern vertreten. Das Remake des älteren Stücks „Bunco men“ stellt als zweiter Track den frühen Höhepunkt der Platte dar. Für ein GBV-Cover unüblich, aber wunderschön und perfekt zum Psych-Powerpop-Sound passend, ist das bunte Flower-Power-Grafik der aus Dayton, Ohio stammenden jungen Künstlerin Courtney Latta.

„Styles We Paid For“
(CD/LP, Guided By Voices Inc., 2020)

Anfang des Jahres 2020 plante Pollard ein GBV-Album mit dem Titel „Before Computers“, das ausschließlich mit analogem Equipment aufgenommen werden sollte. Dann kam die Zeit der Isolation und auch GBV waren gezwungen, ihre Parts separat aufzunehmen und später zusammenbasteln zu lassen. Das Songwriting bleibt auf hohem Niveau, es scheitert nur ein wenig daran, nicht den richtigen Sound gefunden zu haben. Der könnte weniger steril und starr sein für die meist sehr entspannt geratenen Songs. Als Notlösung trotzdem immer noch ein überdurchschnittlich gutes Album.