JEFFREY LEE PIERCE & THE GUN CLUB

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Die Geschichte des Delta-Blues-Punk

... wäre ohne Jeffrey Lee Pierce fraglos eine andere. Ohne seinen Schmerz, ohne sein(e) Leiden hätte es auch die Spielart „Americana“ so kaum gegeben. Auf seiner letzten Promotour (für „Lucky Jim“) erzählte er mir am 03.04.1993 im Monopol auf der Hamburger Reeperbahn davon, sein seit jeher geplantes Buchprojekt noch realisieren zu wollen. Dieses Buch hätte sicher viele Fragen beantwortet.

Jeffrey Lee Pierce (geb. 27.06.1958 in Montebello, CA, gest. 31.03.1996 Los Angeles) lebte vor gut vierzig Jahren in New York, spielte in Bands aus der CBGB-Szene, wie E-TYPES oder RED LIGHTS, lernte dort Deborah Harry und Chris Stein kennen, als deren Band BLONDIE noch für jedermann im Vorprogramm auftrat. Pierce wurde der Leiter des Fanclubs, BLONDIE schafften den Durchbruch. Harry/Stein wünschten sich, dass es dem drogensüchtigen Pierce ebenfalls gut gehen sollte. Also drängten sie ihn dazu, selbst eine Band zu gründen. Pierce zierte sich, doch letztlich begann im Los Angeles des Jahres 1980 die musikalische Geschichte, die im Folgenden verhandelt wird. Pierce gründete die Formation CREEPING RITUAL, um seinem Kumpel Brian Tristan die Chance zu geben, Gitarre zu spielen. Aus Tristan wurde Kid Congo Powers (später Gitarrist bei NICK CAVE & THE BAD SEEDS), aus CREEPING RITUAL der GUN CLUB. Powers wechselte umgehend zu THE CRAMPS, stieg später dennoch oft bei GUN CLUB wieder ein und aus. Pierce sagte 1993 dazu: „Kid war auf den ersten GUN CLUB-LPs nicht zu hören. Er war auf ‚Mother Juno‘, ‚Las Vegas Story‘, ‚Pastoral Hide & Seek/Divinity‘ dabei, aber das ist Vergangenheit.“

Pierce engagierte im Verlauf der Bandhistorie zwangsläufig oft neue Musiker:innen, die er (siehe Rob Ritter, Terry Graham, später Patricia Morrison) gerne von der L.A.-Punk-Combo THE BAGS rekrutierte. Nachträglich betrachtet hatte er wenig Glück mit seinen Auserwählten. Aus diesem Grund versagte er ihnen manchmal die Credits, wie beim 1983 aufgenommenen Live-Album „Danse Kalinda Boom“. Pierce 1993: „Natürlich weiß ich den Namen des damaligen Schlagzeugers noch. Doch ich wollte ihn nicht durch eine Nennung ehren, denn er hatte uns seinerzeit mitten in einer Frankreichtour verlassen. Er nahm das Geld und verschwand. Wir saßen da und konnten nicht absehen, wie wir die vertraglichen Verpflichtungen erfüllen sollten.“

Die Tonträger-Karriere vom GUN CLUB begann 1981 mit „Fire Of Love“ (Last Call/Slash). Das Debüt enthielt die späteren Klassiker „Sex beat“, „Preaching the blues“, „Good by Johnny“ sowie „Fire spirit“. Zur Band gehörten neben Pierce Ward Dotson (gt), Rob Ritter (bs), Terry Graham (dr). 1982 folgt „Miami“ auf Animal Records. Das Label gehörte Chris Stein, der das Album zudem produzierte. Debbie Harry ist als D.H. Lawrence Jr mit einigen Backing Vocals zu hören. „The fire of love“ avanciert zum Klassiker, „Carry home“ wurde später von Pierce’ Kumpel, dem Ex-SCREAMING TREES-Sänger Mark Lanegan, auf dessen Soloalbum „I’ll Take Care Of You“ gecovert. 1983 folgt die „Death Party“-EP.

Den musikalischen Zenit der eigenen Delta-Punk-Ära erreichten GUN CLUB 1984 mit „The Las Vegas Story“ (die dritte/letzte Animal-Veröffentlichung). Pierce gab zu jener Zeit kaum Interviews, war aber jeglichen Varianten von Alkohol/Drogen gegenüber anscheinend sehr offen. Kid Congo Powers (Gitarre) war wieder an Bord, Patricia Morrison (später auch SISTERS OF MERCY) am Bass, Terry Graham trommelte, verließ die Band aber im Verlauf der folgenden Europatour in Paris (siehe obiges Zitat von JLP). Es folgten Abschiedskonzerte in London, wo Pierce seine spätere Lebensgefährtin/Bassistin Romi Mori kennen lernte.

1985 versuchte Pierce sich vorerst erstmals als Solokünstler, veröffentlichte „Wildweed“ (Statik/Virgin), unter anderem mit Ex-THE CURE-Drummer Andy Anderson. „Sex killer“ wurde zum Underground-Hit, und ist seither von den „Mixtapes“ des Autors dieser Zeilen kaum noch wegzudenken. „‚Sex killer‘ mag ich überhaupt nicht!“, erklärte Pierce recht angewidert im erwähnten Hamburger Interview. „Damals fehlte noch ein Song, also schrieb ich ‚Sex killer‘!“

1987 folgte die erste GUN CLUB-Reunion. Mit „Mother Juno“ (WSFA) gelang letztmalig ein Blues-Punk-Album. In den Berliner Hansaton Studios eingespielt, mit Blixa Bargeld (EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, NICK CAVE & THE BAD SEEDS) als Special Guest („Yellow eyes“). Die darauffolgende Deutschlandtour begleiteten drei junge Berserker als Support, die später als DINOSAUR JR selbst Geschichte schreiben sollten. Beim Konzert am 04.11.1987 in Bremen spielte das Trio dermaßen laut, dass einige Konzertbesucher das Set des GUN CLUB lediglich noch als Pfeifton wahrnahmen. Pierce selbst bestach durch eine besondere Körperfülle. Man sah ihm definitiv an, dass er einen „besonderen“ Lebensstil pflegte.

1990 folgte „Pastoral Hide & Seek“, doch es wurde ruhiger um Pierce. Wie ein Phönix aus der Asche entsprang dann plötzlich ein gutaussehender, junger, schlanker Mann der Vergessenheit, und brachte sich mit „Ramblin’ Jeffrey Lee & Cypress Grove with Willie Love“ zurück in jedwede Kritiker-Favoriten-Liste. All seine Leiden, all der Blues seiner Seele fanden in jenem Meisterwerk Ausdruck. Doch es war das letzte große Aufflackern. 1993 erschien mit „Lucky Jim“ (WSFA) zwar ein letztes GUN CLUB-Meisterwerk, das jedoch anstatt rauher Punk-Riffs größtenteils ebenfalls dem Blues huldigte. Pierce (1993):„Obwohl ich mit dem gesamten Album zufrieden bin, denke ich, dass mir ‚Lucky Jim‘, ‚Kamata Hollywood City‘ und ‚Anger blues‘ am meisten bedeuten.“

Musikalisch hatte der Meister seinen Frieden gefunden. Wolf Kampmann, Buchautor, in den frühen Neunzigern Chefredakteur des Berliner Fanzines NM! Messitsch, interviewte JLP zu den beiden letztgenannten Releases. Er sollte später erzählen, dass zwischen den beiden Gesprächen kaum ein Jahr lag, er beim zweiten Treffen Pierce jedoch nicht wiedererkannte. Pierce war schwer krank, durch Medikamente aufgeschwemmt, sichtlich angeschlagen. Auch das in diesem Text zitierte Interview vom 03.04.1993 schien ihm schwerzufallen. Er sprach leise. Sehr leise, manchmal fast unverständlich. Seine Faszination war jedoch ungebrochen. Der verantwortliche Promoter Max Dax (später Spex-Chefredakteur) hatte sein Schedule locker vollbekommen. Einige der im Hotel Monopol anwesenden Autoren, darunter Arne Willander (Rolling Stone), ließen sich Magazine signieren. Ein legendärer Tag.

Zwei Monate später performten GUN CLUB in der Hamburger Markthalle. Pierce verausgabte sich, landete anschließend unter der Sauerstoffmaske. Der Körper begann zu streiken. Die letzte Deutschlandtour im Dezember 1993 führte auch nach Bremen, wo der Offene Kanal („Brachial TV“) vor dem Konzert im Wehrschloss noch ein intensives GUN CLUB-Interview abfilmen durfte, bevor die österreichische Band BILLION BOB den Abend als Support eröffnete. GUN CLUB-Schlagzeuger Nick Sanderson und Romi Mori kamen sich stetig näher, verlobten sich gar 1994, verließen die Band. Pierce stürzte in Depressionen, kehrte später nach L.A. zurück. Seine Gesundheit verschlechterte sich, er benötigte eine Nierentransplantation – die er sich jedoch nicht leisten konnte. 1996 spielte er drei letzte Shows mit Kid Congo Powers, doch der Akku war leer. Pierce reiste zu seinem Vater nach Utah, um sich zu erholen, erlitt dort jedoch einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 31.03.1996 – vor nun 25 Jahren – während einer Operation an einem Blutgerinnsel im Gehirn verstarb.

Jeffrey Lee Pierce träumte bis zuletzt davon, sein Buch zu vollenden ... nun war es zu spät. Pierce sagte 1993: „Ich konnte mich all die Jahre nicht dazu durchringen, die Arbeit an dem Buch zu beginnen. Mittlerweile ist es wieder wirklich wichtig für mich geworden. Ich habe das Buch trotzdem noch nicht begonnen, weil es so viele Themen dafür gibt. Mir schwebt etwas in der Art von ‚Naked Lunch’ vor. Es könnte jedoch genauso gut von Liebesexperimenten, Alkohol oder vom Zigeunerleben handeln.“
Wie wahr. Buchmanuskripte erschienen 1998 zusammen mit Songtexten unter dem Titel „Go Tell The Mountain“ in Henry Rollins’ Verlag 2.13.61.

Nachtrag: Viele der genannten Künstler würdigen Pierce’ Songs auf dem Album „We Are Only Riders – The Jeffrey Lee Pierce Project“. Willander wurde später Redaktionsleiter beim deutschen Rolling Stone. Dax schaffte es, dem legendären Magazin Spex zeitweise wieder zu inhaltlicher Qualität zu verhelfen. Beide Blätter hievten im Januar 2010 TOCOTRONIC auf den Titel. Diese wiederum widmeten Pierce 2007 einen Song namens „Andere Ufer“. Die Welt ist klein.