MURDER CAPITAL

Foto© by Marcus Prouse Jr

Fortschritt durch Rückschritt

Dublin ist musikalisch wieder einmal in aller Munde, denn die Senkrechtstarter THE MURDER CAPITAL sind gerade dabei, die alternative Szene komplett aufzumischen. Bereits vor ihrem ersten Album „When I Have Fears“ im August 2019 sorgten sie für einen regelrechten Hype und ausverkaufte Shows. Dass nun mit „Gigi’s Recovery“ der Nachfolger erscheint, dürfte eingefleischten Post-Punk-Fans Freudentränen in die Augen treiben. Über die Entstehungsgeschichte und die Magie vertonter Poesie sprechen wir mit Gitarrist Cathal „Pump“ Roper sowie Schlagzeuger Diarmuid Brennan, die gerade in ihrem Proberaum sitzend den bevorstehenden Live-Shows entgegenfiebern.

Eure Bandgeschichte ist ja eine ganz besondere, denn ihr hattet es tatsächlich geschafft, euch bereits eine riesige Fangemeinde zu erspielen, noch bevor ihr überhaupt nur einen einzigen Song veröffentlicht hattet. Das klingt ja fast nach einem Märchen.

Diarmuid: Ja, das stimmt. Wir alle spielten schon seit Teenagerzeiten in verschiedenen Bands, doch plötzlich passte einfach alles zusammen. Anfangs traten wir noch unter dem Namen unseres Sängers James McGovern auf. Dann hat es beim Publikum einfach geklickt und plötzlich wollten alle zu unseren Auftritten kommen. Zuerst konzentrierte sich das nur auf Dublin und Umgebung, aber als wir unser erstes Video veröffentlichten, weckte das plötzlich auch das Interesse im ganzen Land und dann in Europa. Shows zu spielen war für uns einfach schon immer extrem wichtig, gerade weil wir spürten, dass unsere Musik live so gut rüberkommt. Und das alles hat uns sehr geholfen, das Album zu vermarkten. Dabei war es natürlich ein absoluter Vorteil, bereits eine große Fanbase zu haben, und so ging die aufregende Geschichte der Band damals los.

Kanntet ihr euch bereits, bevor es THE MURDER CAPITAL gab?
Pump: Wir lernten uns erst 2018 durch THE MURDER CAPITAL kennen. Aber es war eine Art Fügung des Schicksals, denn wir alle wollten unbedingt diese eine, ganz besondere Musik machen und so entstand direkt eine enge Freundschaft zwischen uns allen.
Diarmuid: Unser Toningenieur Tom aus den Assault & Battery Studios in London war es, der mich auf James, Pump und Damien aufmerksam machte. Er steckte mir deren Demos zu und beim Hören war mein erster Gedanke: „Verdammt, genau das ist es es, was ich machen will!“ Schon nach unserer ersten Probe hatten wir bereits rohe Songversionen fertig, das war magisch. Kurze Zeit später stieß dann noch Gabriel zu uns und wir waren komplett.

Kurz nach der Veröffentlichung eures Debütalbums ging das mit der Corona-Pandemie los. Da ihr, wie du ja schon sagtest, eine absolute Live-Band seid, war das doch bestimmt ganz besonders hart für euch, oder?
Pump: Ja, absolut! Wir hatten gerade eine wirklich großartige Tour durch Europa und UK absolviert und beendeten diese mit einer Abschlussshow in Dublin. Da kamen schon die ersten Leute zu uns und fragten, ob das wirklich so etwas wie unsere vorerst letzte Show gewesen wäre. Wir alle wussten ja nicht, wie schlimm es noch kommen würde. Und dann stand noch unmittelbar unsere US-Tournee bevor, die für uns als Band natürlich ein absolutes Highlight werden sollte. Als Band einmal gemeinsam durch die Vereinigten Staaten zu touren, war ein absoluter Traum. Plötzlich häuften sich die ersten Stornierungen, zum Beispiel vom SXSW oder Coachella, für die wir ursprünglich gebucht worden waren. Aber wir wollten es trotzdem unbedingt versuchen und hatten fest vor, fünf Wochen in den USA zu spielen.
Diarmuid: Am Ende waren wir ganze 48 Stunden in den USA. Eine Show in Boston und eine in New York, nach der man uns direkt mitteilte, wir müssten umgehend wieder nach Hause fliegen. Es fühlte sich an, als hätte man uns diesen Traum einfach entrissen. Wir waren sehr frustriert, aber zugleich war es auch völlig bizarr, dass sich ja alle Menschen auf unserem Planeten nur hinsetzen und tatenlos zuschauen konnten.

Aber das Wissen, dass alle im gleichen Boot sitzen, hat es wahrscheinlich auch nicht wirklich einfacher gemacht, mit der Situation umzugehen, oder?
Diarmuid: Nicht wirklich, nein. Besonders in den ersten Tagen nach unserer Rückkehr saß ich oft herum und dachte, heute sollten wir eigentlich in San Francisco sein und morgen stünde dann noch diese eine große Festivalshow an und so weiter. Es ist einfach Wahnsinn, das ist nun schon drei Jahre her, aber immer noch so präsent.
Pump: Ja, wir hatten ziemlich harte Lockdowns in Irland, aber wir wollten trotz allem so schnell wie möglich wieder mit dem Schreiben neuer Songs beginnen. So sahen wir uns also gezwungen, das Rad der Zeit wieder zurückzudrehen, und hatten erneut die Gelegenheit, uns noch besser kennen zu lernen – sowohl persönlich als auch musikalisch.

Könnte man also sagen, euer neues Album ist ein klassisches Produkt der Pandemie oder hättet ihr dieses so oder so in Angriff genommen – bloß ein wenig später?
Pump: Man wird ja immer irgendwie von der eigenen Umgebung beeinflusst und ich denke, die damalige Situation hat es uns erlaubt, den Fokus ganz klar nach innen zu richten. Als Musiker bist du ohnehin immer auf einem kreativen Weg und kommst irgendwann an den Punkt, dass du ein Album veröffentlichen willst. Ein Punkt, an dem du dich den Dingen stellst, die in dir und um dich herum geschehen. Es war also letztlich nur das, was für uns damals gerade präsent war und wozu uns unser Umfeld inspiriert hat.
Diarmuid: Als der erste Lockdown kam, waren wir erst einmal alle für drei Monate zu Hause eingepfercht. Aber dafür konnten wir uns immer treffen, verbrachten den Sommer gemeinsam in Dublin und schrieben weiter an den Songs. Wir mussten einfach unser zweites Album vorantreiben. Irgendwann fuhren wir alle nach London, um dort den Aufnahmeprozess abzuschließen. Das war unglaublich befreiend, denn wir waren plötzlich nicht mehr so isoliert und das Leben fühlte sich wieder etwas normaler an. So konnten wir den Songs also noch einmal neue Kraft und Frische verleihen, ausgehend von dem Punkt, bis zu dem wir sie bereits zuvor arrangiert und ausgearbeitet hatten.

Stilistisch klingt das neue Album für mich etwas introvertierter und eingängiger als sein Vorgänger. Ganz besonders sticht aber die dynamische, weiche Produktion des Gesangs hervor, die den Songs eine gänzlich neue Tiefe verpasst. Hattet ihr von Anfang ein paar ganz konkrete Dinge im Auge, die ihr bei der Produktion anders machen wolltet?
Pump: Rückblickend gibt es ja immer gewisse Aspekte, die man bei einer neuen Platte anders machen möchte. Tatsächlich wollten wir, dass das Album diesmal deutlich dynamischer wird und die Mischung einfach komplementärer und ausdrucksstärker klingt. Die Musik sollte noch strukturierter und dichter sein. Also so, dass du bei jedem neuen Hördurchlauf neue Kleinigkeiten entdecken kannst. Das trifft bei „Gigi’s Recovery“ vor allem auf den Gesang zu. Während der Lockdowns habe ich unzählige Demos aufgenommen und dabei gelernt, wo manche Sounds im Stereopanorama sitzen müssen, um noch aufregender zu klingen und eine größere Wirkung zu erzielen. Und wenn man dann vergleichend auf die Mixe des ersten Albums zurückblickt und hört, wie die Bandkollegen plötzlich ganz neue Dinge machen, begreift man, wie unfassbar gut das Ganze doch ist. Gerade bei James’ Gesang ist das auf der neuen Platte der Fall. Er klingt absolut präsent, sitzt ganz weit vorne im Mix, aber gleichzeitig singt James völlig sanft und melodisch – das fühlt sich einfach sehr frisch für uns an.

Gibt es eine bestimmte thematische Idee oder ein Konzept, das sich durch „Gigi’s Recovery“ zieht, und stehen die Songs demnach in Beziehung zueinander?
Diarmuid: Ja, es ist definitiv ein Konzeptalbum, aber es ist keineswegs linear. Vielmehr ist es unsere besondere Art, eine bestimmte Geschichte zu erzählen. Genau so, als ob du gedanklich vor und zurück springst, um gewisse Dinge besser verarbeiten zu können. Denn manchmal ist es einfach wichtig, an einen früheren Punkt zurückkehren, weil man merkt, dass man tatsächlich gewisse Kapitel übersprungen hat. Du denkst, du bist mit einer Sache fertig, hast eine schmerzhafte Erfahrung endgültig hinter dir gelassen, aber realisierst, dass es eben doch nicht der Fall ist. Dann musst du dich einfach noch einmal damit auseinandersetzen, um es richtig zu verarbeiten. Rückschritt ist somit ein ganz wesentlicher Teil des Fortschritts und demnach ein Teil unser aller Erfahrung. Das meinen wir, wenn wir sagen, nichts ist linear.

Da wir gerade vom Inhalt des neuen Albums sprechen: Wovon genau muss sich Gigi erholen?
Pump: Im Prinzip geht es um diesen einen metaphorischen Charakter, der den soeben angesprochenen Regressionsprozess durchlebt und sich am Ende einem Ort der Stärke zuwendet. Jeder von uns hatte in den letzten Jahren so viele verschiedene Dinge, auf die er sich konzentrieren und die er verarbeiten musste. Dinge, von denen wir zwar wussten, dass sie existieren, die aber überwiegend im Verborgenen lagen, bis sie irgendwann wie vor Wut die Köpfe reckten. So als ob sie sich zu Wort meldeten und darum baten, endlich behandelt zu werden. Gigi steht also synonym für einen fiktiven Charakter, der endlich wahrgenommen werden will und muss. Und egal, was auch immer Gigi genau repräsentiert – sei es eine bestimmte Emotion oder aber auch eine psychische Erkrankung –, er fleht förmlich danach, wahrgenommen zu werden, um am Ende geheilt zu werden.

Tragt ihr alle zu den Texten bei und schreibt ihr diese gemeinsam?
Pump: James ist einfach wahnsinnig gut darin, bestimmte Dinge aus unserer Umgebung wahrzunehmen und diese dann auf die Form von Songtexten herunterzubrechen. Er liest einfach die Geschehnisse um uns herum, hört Gespräche und so weiter und bringt es mit seinen Worten anschließend auf den Punkt. Daher ist er also meistens derjenige, der unsere Texte schreibt. Er hat einfach ein gutes Gespür dafür, was er inhaltlich gebrauchen und textlich umsetzen kann.
Diarmuid: Im Grunde besteht die Kunst genau darin, das, was du hörst, auf einen gewissen Kern zu reduzieren und ich denke, das ist gleichzeitig auch die größte Herausforderung für einen Songwriter.

Und nun steht ihr quasi in den Startlöchern, um eure neuen Songs endlich ausgiebig live zu präsentieren, ohne dass eure Pläne wieder durchkreuzt werden.
Diarium: Auf jeden Fall, genauso ist es. Wir werden verdammt noch mal hart touren! Sobald das neue Album rauskommt, machen wir eine ausgedehnte Europatournee. Es sind auch zahlreiche Termine bei euch in Deutschland dabei, auf die wir uns sehr freuen – Köln, Hamburg, Berlin, München und so weiter. Danach geht es nach Frankreich, Benelux und zurück nach UK. Und selbstverständlich gibt es wieder ein großes Finale in Dublin. Wir werden also ein vollgepacktes, arbeitsreiches Jahr 2023 haben. Aber wir können es einfach gar nicht mehr erwarten, so viele Shows wie möglich zu spielen, denn die neuen Songs wurden ja bislang noch nie live performt. Und so denke ich, wird sich das Album auch für uns selbst noch ein bisschen mehr offenbaren.