No Wasted Paper

Foto© by Bastian Bochinski

Thorsten Nagelschmidt über das Lesen und Schreiben

Seine ersten Texte schrieb Thorsten Nagelschmidt in Rheine für die Lokalzeitung, dann gründete er mit Christian Wiesmann das Wasted Paper-Fanzine, das einige Jahre parallel zu MUFF POTTER veröffentlicht wurde. 2007 erschienen sein erster Roman „Wo die wilden Maden graben“, 2012 folgte „Was kostet die Welt“, 2018 „Der Abfall der Herzen“ und 2020 „Arbeit“. Aktuell arbeitet Thorsten, der seinen alten Punk-Namen Nagel abgelegt hat, an einem neuen Roman. Ich nahm das im August erscheinende neue MUFF POTTER-Album zum Anlass, mit Thorsten ergänzend zum „Musik-Interview“ über das Schreiben zu reden.

Thorsten, ich sehe dich in einem Zimmer sitzen, an der Wand hohe Regale voller Bücher. Warum hast du Bücher und nicht einen E-Book-Reader?

In Deutschland lesen die meisten Menschen tatsächlich noch auf Papier. Das ist ein bisschen anders als in der Musikbranche, wo irgendwann MP3 aufkam und dann alle Leute ihre Plattensammlung verkauft haben. Das Buch hat noch einen anderen Stellenwert, der Prozentsatz an eBooks ist immer noch erstaunlich gering. Die Haptik eines Buchs ist anders konnotiert. Die Leute wollen da etwas in der Hand halten, was Menschen wie du und ich ja bei der Musik genauso behaupten würden. Natürlich hören wir wohl alle auch mal Musik über unsere Smartphones, wenn wir in der Bahn sitzen oder auf dem Fahrrad oder wo auch immer, aber wir wissen es zu schätzen, eine Vinylschallplatte auszupacken.

Oder ein gedrucktes Fanzine ...
Ganz genau. Ich habe also zwei Leidenschaften, für die ich viel Geld ausgebe und die mich auch hier zunehmend einengen in meiner Wohnung, und das sind Platten und Bücher. Neulich habe ich mich sogar verletzt, als ein Bücherstapel umgefallen ist. Meine Freundin rollte nur mit den Augen, weil es wirklich auch zunehmend enger wird hier. Ich bin kein Messie, Bücher und Platten sind Sachen, mit denen man sich gerne umgibt, die ich wirklich gerne anfasse und so ein Buch immer wieder mal aufschlage, etwa um nachzulesen, was ich da angestrichen habe. Ich bin da nicht so „japanisch“ drauf, dass ich sagen würde, so, ich habe jetzt alles da rausgezogen, seinen Zweck hat dieses Buch erfüllt, jetzt gebe ich es weiter. Sondern ich finde es gut, dass mich diese ganzen Sachen umgeben.

Nun gibt es aber eine Tendenz zu einem „cleanen“ Leben. Leere Wohnungen ohne was drin, schon gar nicht hunderte Bücher und tausende Platten. Nichts kaufen, nichts besitzen, alles streamen – das neue Ideal. Da fühlt man sich als jemand, der gerne Dinge kauft und hat, fast schon asozial mit seinem Konsumverhalten. Wie geht dir das?
Das kann ich für mich nicht bestätigen. Darauf würde ich mich nicht einlassen. Da hätte ich auch politisch einiges einzuwenden gegen so eine super verkürzte Konsumkritik. Es ist ja keine Systemkritik, die uns irgendwie politisch oder wirtschaftlich weiterbringen würde. Ich als Linker hätte einiges dazu zu sagen, aber nicht auf so einer Ebene. Nein, da muss man sich, glaube ich, gar nicht drauf einlassen. Musste ich bisher zum Glück auch noch nicht. Ich würde immer Partei ergreifen für Menschen, die irgendwie versuchen, sich das Leben schön zu machen. Das muss man auch nicht moralistisch beurteilen, indem man sagt, du hast hier aber das Falsche gekauft, dies ist der gute Konsum und das ist der schlechte Konsum. In solchen Bereichen sollte man sich als linker Mensch nicht verrennen und auch nicht in die Falle tappen, anderen ihr Leben madig zu machen oder irgendwas zu neiden, was sie haben. Bevor man sich mit so was abgibt, haben wir noch andere Baustellen, die man sich erst mal anschauen sollte.

Es war ein guter Einstieg, dass du vor diesem Regal sitzt, das offensichtlich kein gefaketer Zoom-Hintergrund ist.
Nein, und siehst du, wenn ich die Kamera drehe, sind da noch mehr Bücher.

Eines der wichtigsten Bücher, die ich kenne, ist „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury. Da leben Menschen in einer Orwell-artigen Welt, in der Bücher verboten sind, und einige haben sich in den Wald geflüchtet, das sind „lebende Bücher“, jede:r von denen kann ein Buch auswendig. Keine wirkliche Dystopie mehr, wenn wir sehen, wie in Diktaturen wie Russland oder China der Zugang zu bestimmten Medien und Websites vom Staat massiv erschwert oder verunmöglicht wird. In diesem Kontext gewinnt der physische Besitz eines Mediums und damit der Zugang zu dessen Inhalt eine neue Bedeutung.
Ja, in gewisser Weise schon. Ich war vor ein paar Jahren auf Kuba und habe mich da mit vielen Leuten unterhalten, auch gerade darüber. Da fand zufällig gerade eine Buchmesse statt. In Kuba wird sehr stark reguliert, was überhaupt gedruckt wird. Du findest in jedem Touristenhotel zwanzig Bücher über Che Guevara und Fidel Castro und den glorreichen Kampf, den sie geführt haben und so, und ansonsten wird ganz vieles abgelehnt, überhaupt gedruckt zu werden. Mit der Begründung, es gibt nicht genug Papier, und dann die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und natürlich auch die Sanktionen seitens der USA und deren Blockade. Da wird Zensur schöngeredet. Das fand ich sehr augenöffnend, das wirklich mal zu sehen und mit Leuten darüber zu sprechen, was für eine Bedeutung Bücher dann haben. Etwa spanischsprachige Bücher, die vielleicht von Exilkubanern geschrieben werden und dann wieder ins Land kommen. Da gibt es immer Perioden der Öffnung, wo mehr möglich ist, und dann gibt es rigidere Phasen. Ich glaube, dass wir hier im Moment nicht in einer Welt leben, wo dein Argument ausschlaggebend wäre, aber grundsätzlich ist da was dran.

Fing das Schreiben bei dir einst mit dem Wasted Paper an oder ging das schon früher los?
Ich sage ja immer gerne, dass ich schon geschrieben habe, bevor ich lesen konnte, was natürlich nicht stimmt und was auch gar nicht möglich ist. Ich habe angefangen zu schreiben mit selbst ausgedachten Geschichten über Pop- und Rockbands, in denen ich der Frontmann war. Das war von Bravo, Pop Rocky, Popcorn und solchen Zeitschriften inspiriert. Ich bin 1976 geboren und in den Achtzigern mit Popbands wie A-HA und DURAN DURAN aufgewachsen und fand irgendwann zu FRANKIE GOES TO HOLLYWOOD und Bands, die ich heute noch gut finde, wie THE CURE und TALK TALK. Das Schreiben kam also über die Musik und dann kam das Wasted Paper, da war ich 15, als wir das gegründet haben. Und ungefähr zu der Zeit habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben. Das ist natürlich kein „literarisches Schreiben“ und auch kein Schreiben, das jemals dazu gedacht war, veröffentlicht zu werden. Aber es ist ein sehr intensives Schreiben, und ich habe das Gefühl, dass das Schreiben für mich immer schon sehr wichtig war. Ich habe dann, beeinflusst von dieser ganzen Social Beat-Geschichte, die es in den Neunzigern gab, sowie amerikanischer Literatur angefangen, Songtexte zu schreiben und auch Gedichte – solche, die sich nicht gereimt haben.

Bukowski-Gedichte?
So was in der Richtung, klar. Das Schreiben war also immer schon sehr wichtig für mich, aber ich kann nicht genau sagen, woher ich das habe. Es gab zwar eine Schreibmaschine bei uns zu Hause, aber ich komme nicht aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus. Es gab kaum Bücher bei uns daheim, man ist auch nicht ins Theater gegangen und schon gar nicht auf Lesungen. Das war also etwas, das ich mir selbst angeeignet habe, und ich glaube, dass Musik einen ganz großen Einfluss darauf hatte, also Songtexte und so was. Und das erste Mal an die Öffentlichkeit mit meinen Texten ging ich dann mit dem Wasted Paper.

Was war damals deine Motivation? Zum einen gibt es Menschen, die in erster Linie für sich und „nach innen rein“ schreiben, aber zumindest später war das Wasted Paper eher krawallig und meinungsstark unterwegs.
Zunächst war da so ein jugendliches Unzufriedensein mit der Welt, wie man sie vorfindet, und der Wunsch zu sagen, damit bin ich nicht einverstanden. Man möchte irgendwie Einfluss nehmen, nimmt eine politische Haltung ein, will sagen, das läuft doch hier alles falsch und ich weiß alles viel besser – und das natürlich immer mit sehr viel jugendlicher Arroganz. Aber es ging natürlich auch darum teilzunehmen, also zu sagen, ich bin hier nicht nur ein Spielball und wurde hineingeboren in eine Welt, mit der ich mich gefälligst abzufinden habe. Ich mache die Schule fertig, dann erlerne ich einen Beruf, heirate und baue ein Haus – so wie man das vorgelebt bekommt. Oder sagt man, das gefällt mir nicht, ich möchte was anderes machen. Und dann fängt man an, sich umzuschauen und wie man einen eigenen Ausdruck finden kann, wie man reagieren und auch mal agieren kann. Ich glaube, das sind ganz wichtige Momente der ... ich hätte fast Selbstermächtigung gesagt, aber ich habe ein Problem mit diesem Wort, weil da so viel neoliberale Agenda mitschwingt. Ich habe eine gewisse Scheu, solche Wörter zu benutzen, weil die so vergiftet sind von der politischen Gegenseite. Aber wenn man in einer kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen lebte, wo man nicht einfach alles konsumieren konnte wie in größeren deutschen Städten, in denen es einen coolen Plattenladen gab, ein cooles AJZ oder eine coole Indie-Disco, dann musste man alles selbst finden und sich erarbeiten, mit allen Fehlern, die man dabei macht. Es ging uns mit dem Wasted Paper also schon darum zu zeigen, dass es mich und meine drei Kumpels hier auch noch gibt und wir jetzt hier was machen. Das ist eine sehr ähnliche Motivation wie die, in dem Alter eine Band zu gründen. Was für mich noch dazukam und bis heute Bestand hat, ist der Umgang mit Sprache. Auch wenn bei uns zu Hause nicht viel gelesen wurde, hatte ich schon früh eine hohe Sensibilität für Sprache – und für die Macht der Sprache, was man mit Sprache machen kann, wie die Sprache wirken kann. Und viel davon kam durch Musik und durch Songtexte. Auf einmal eine DEAD KENNEDYS-Platte in der Hand zu haben und die Hälfte zwar nicht zu verstehen, aber verstehen zu wollen, das war wichtig. Das war übrigens schon bei FRANKIE GOES TO HOLLYWOOD so, das habe ich auch schon nicht wirklich verstanden, worum genau es da ging. Ich wusste aber, bei „Relax“, bei „Two tribes“, da war was, das waren Crossdresser, schwule Männer, die verhalten sich anders, das kenne ich hier nicht, das finde ich erst mal aufregend. Und den Text von „Holiday in Cambodia“ oder „Soup is good food“, da habe ich Jahrzehnte später erst wirklich verstanden, dass es ein Song über Kapitalismus und und die Verwertung von Arbeit und Arbeitern ist. Das hatte auf mich einen wahnsinnigen Impact und ich habe da verstanden, was man mit Sprache machen kann.

Bist du in Bezug auf Schreiben und Musik Autodidakt?
Ja, ich bin Autodidakt in allem. Ich kann keine Noten lesen, ich hatte nie einen Creative-Writing-Kurs, ich habe nicht Literatur studiert oder irgendwas in der Art, sondern ich versuche irgendwie, mir das zu erschließen. Wenn ich irgendwas gefunden habe, was ich gut fand, habe ich immer versucht, das irgendwie für mich umzusetzen: Wenn die das können, dann kann ich das ja vielleicht auch. Vielleicht muss ich dafür ja gar nicht studieren, vielleicht kann ich das ja einfach mal ausprobieren und gucken, wie weit ich damit komme. Mit der Methode kommt man teilweise auch mal nicht so weit oder läuft vor die Wand, aber man kriegt schnell eine Reaktion. Es geht ja auch gar nicht um große Auflagen oder dass du viele Leute erreichst, aber du bekommst eine Reaktion, und in dem Moment findest du statt. In dem Moment nimmt die Welt dich wahr. Und das kann total befriedigend sein. Deswegen ist Punk immer gut dafür gewesen, ganz schnell zu einem Ergebnis zu kommen. Einfach machen und dann gehe ich damit nach draußen und dann wird schon irgendwas passieren. Das ist natürlich ultra verlockend, weil auf einmal ist die Welt nicht mehr so klein, auf einmal findet man statt, auf einmal kriegt man eine Reaktion. Und das ist, glaube ich, gerade für einen Jugendlichen total aufregend, noch dazu für einen Jugendlichen, der nicht in der coolen Großstadt lebt.

Euer Wasted Paper war damals durchaus bekannt dafür, sehr meinungsstark zu sein, sprich allen gegenüber erst mal schon ganz schön laut die Fresse aufzureißen und auszuteilen. Und das sage ich wertfrei, weil das ist eben auch Punk. Aber wenn ich mir so manch alte Ox-Rezensionen durchlese aus den Neunziger Jahren, denke ich mir manchmal: Okay, was habe ich da denn damals rausgehauen? Du warst damals zwischen 15 und Anfang 20, das ist 25, 30 Jahre her. Wie geht es dir heute mit deinen Sachen, die du damals geschrieben hast? Sagst du, ja klar, würde ich jederzeit wieder so schreiben?
Nein, das ist ganz klar nicht der Fall. Ich habe schon lange nicht mehr in die Hefte reingeschaut, zum letzten Mal vor ein paar Jahren. Da war ich gerade zum Fischer Verlag gekommen und hatte einen neuen Lektor, mit dem ich jetzt immer noch zusammenarbeite. Albert war bei mir in Berlin, wir hatten uns gerade erst kennen gelernt, arbeiteten an dem Buch, das dann „Abfall der Herzen“ geworden ist. Da geht es viel um Rheine und um das Jahr 1999, um die Welt von damals. Und in dem Zusammenhang hatte ich die Wasted Papers rausgeholt, das war bis heute das letzte Mal, dass ich die in der Hand hatte. Ich habe die Albert gezeigt, der ein paar Jahre jünger ist als ich und nicht aus der Punk-Szene kommt und so, der hat da drin rumgeblättert, gerade in den letzten beiden Nummern. Es gab acht Ausgaben des Fanzines, verteilt auf acht Jahre – eigentlich relativ wenig Hefte für so eine echt lange Zeit. Er hatte die in der Hand und meinte, das sei ja eigentlich Kunst. Das war positiv gemeint, haha, das muss man vielleicht dazusagen. Und es stimmt. Denn es ging ja nicht nur um die Texte, es ging auch ums Layout und ums Artwork. Und damit kommen wir natürlich zu den alten DEAD KENNEDYS-Platten und dem Schnipsel-Layout, Collagen und so was. Speziell auch was Wiesmann in dem Heft gemacht hat, diese ganzen Atompilze ... Wo der die alle her hatte, das weiß ich bis heute nicht. Der ist in Mülleimer reingekrochen, wenn wir auf Tour waren und hat da alte Pornos rausgeholt und da Sachen draus gemacht – der hat wirklich Einsatz gezeigt, muss man sagen. Ich habe das auch teilweise gemacht, aber er viel exzessiver. Ich bin froh, dass die Hefte auf Papier rausgekommen sind und so nicht für immer im Internet sind, weil natürlich auch viel dummes und super überhebliches Zeug drinsteht, und man lag auch mal daneben. Aber ich muss auch sagen:. Das hat in einem bestimmten Raum stattgefunden, dieser „Raum“ war eine bestimmte Szene oder vielleicht sogar eine Subszene einer Szene. Das heißt, man hat sich gekannt. Wir haben gewusst, wir haben keinen Einfluss auf die Gesellschaft mit diesen Heften, aber auf diese kleine Miniatur-Gesellschaft, in der wir uns bewegen, da können wir einen Effekt erzielen. Und deswegen ist alles immer sehr in diesem Moment entstanden. Ingo vom Ventil Verlag hat mich vor einiger Zeit mal gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, so ein „Best of Wasted Paper“ als Buch rauszubringen, aber irgendwie ist das im Sande verlaufen. Ich weiß nicht, ob das Sinn ergibt, weil die Bezugspunkte müssen ja stimmen, und einfach nur so ein nostalgisches Betrachten von dem, was man damals gemacht hat, bringt nichts. Was wir damals machten, hat einfach nicht mehr den Wert, den es damals hatte, weil man bestimmte Sachen ohne den Kontext gar nicht mehr verstehen kann. Nicht mal Freunde von mir könnten das heute noch irgendwie verstehen.

Es müsste dann tatsächlich zu jeder abgebildeten Seite eine Kommentarseite mit einer Interpretation geben.
Ganz genau. Und in dem Moment würde ich Teil meiner eigenen Musealisierung sein. Dann sind wir im Museum angekommen, und das ist immer etwas, das mir suspekt ist. Ja gut, das kann man irgendwann machen, und natürlich ist Punk längst im Museum angekommen, vielleicht zu Recht. Gleichzeitig ist es aber nicht das, was mich aktuell interessiert. Ich lebe aktuell in einer Welt, in der ich mich verhalten möchte, und ich bin vielleicht noch nicht alt genug dafür, um an diesem Punkt meiner Musealisierung angelangt zu sein. Das können meinetwegen andere irgendwann mal machen.

Das Wasted Paper gibt es nicht mehr, aber die Band MUFF POTTER, die damals parallel existierte. Wie würden die damaligen Wasted Paper-Macher Wiesmann und Nagel heute auf die wieder existierende Band schauen? Das eine Ding ist abgehakt, das andere gibt es wieder und weiterhin.
Das Wasted Paper war ja keine in sich gleichbleibende Geschichte, sondern das Heft hat sich sehr verändert. Als wir das erste Heft gemacht haben, kannte ich den Begriff Fanzine noch nicht mal. Wiesmann und Mongo, mit denen ich das gestartet habe, sind zwei Jahre älter als ich. Das hat damals einen Riesenunterschied gemacht. Wir haben uns kennen gelernt, weil die örtliche Tageszeitung eine monatliche Jugendseite hatte. Dafür wurden Leute gesucht, da bin ich hingegangen und habe die beiden kennen gelernt. Ich habe da so Revoluzzer-Sachen geschrieben, über TON STEINE SCHERBEN und über den Staat, den sie da in ihren Texten bekämpfen. Und einen Artikel über die Chaostage in Rheine, die ich auch mitorganisiert hatte, wo die Polizei kam und dann auch Leute verhaftet hat. Und diese beiden Texte wurden zensiert, also da wurden bestimmte Sätze rausgenommen. Und dann haben wir gesagt, wir werden ja hier zensiert, wir machen jetzt unsere eigene Zeitung. Das war der Ursprung, die Initialzündung fürs Wasted Paper. Wiesmann kannte schon den Begriff Fanzine und die Punk-Szene, der wusste, wie das mit dem Copyshop geht. Ich fand die Idee genial! Natürlich wusste ich auch, so ein selbergemachtes Heft lesen viel weniger Leute als die Jugendseite der Tageszeitung, man war ja auch auf Wirkung bedacht. Ich habe es immer schon mit dieser BLUMFELD-Textzeile gehalten: „Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ Man will ja nicht nur unter sich bleiben. Das ist mir schon damals eher langweilig vorgekommen. Im ersten Wasted Paper waren dann halt einfach paar Bandinterviews drin. Wir haben jede Band interviewt, die irgendwo gespielt hat, egal ob wir sie vorher kannten oder nicht. Und dann kam noch ein bisschen Meinung dazu, etwa „Osterfeuer ist doch scheiße, weil da verbrennen Igel drin“. So was steht im ersten Wasted Papers, unfassbar naiv, aber irgendwie auch echt sweet. Dazu kann ich heute noch stehen. Natürlich würde ich das heute nicht mehr so schreiben, aber ich finde es irgendwie aus Situation heraus, in der es entstanden ist, auch jetzt noch gut. Das Wasted Paper hat sich dann ja zu etwas ganz anderem entwickelt, in den letzten Ausgaben sind eigentlich überhaupt keine Bandinterviews mehr drin. Deswegen kann man nicht sagen „Das war die Wasted Paper-Zeit“, sondern das war die Adoleszenz, da verändert man sich von einer Woche zur anderen und sieht auf einmal Sachen völlig anders. So betrachtet bin ich stolz drauf, was wir da gemacht haben. Und es geht nicht darum, ob wir das alles wieder genauso machen würden, sondern da ist für mich eine logische, eine interessante Entwicklung drin.

Um zu meiner Frage zurückzukommen ...
Ich glaube, dass ich glücklich gewesen wäre, wenn mir jemand, als ich 17, 18, 19 war, gesagt hätte, schau mal, das wirst du machen, wenn du 45 bist. Du wirst schreiben, du wirst Bücher rausbringen, du wirst eine Band haben. Du wirst mit Leuten, die du schon dreißig Jahre vorher kanntest, teilweise noch zu tun haben, aber auch viele neue Leute kennen gelernt haben, und ihr werdet gemeinsam Sachen auf die Beine stellen. Und – das darf man auch nicht vergessen – du wirst davon leben können. Allein zu wissen, ich werde nicht nach dem Motto „Birth School Work Death“ durchs Leben gehen, das hätte mich glücklich gemacht. Du wirst dem entkommen sein – mit diesem Wissen hätte ich erst mal leben können.

Was ist also die Moral von der Geschicht’? Dass man einfach akzeptieren muss, dass man zu jeder Lebensphase eine bestimmte Meinung hat, bestimmte Aussagen trifft und dann dazu stehen können muss?
Ich kann das für mich an ganz kleinen Banalitäten festmachen. Ich habe mit 15 eine Band gegründet, also vor MUFF POTTER, die hieß SEXTON AND THE FRUSTIES. Da habe ich Bass gespielt und da war auch Brami schon dabei, der Schlagzeuger von MUFF POTTER. Mit dem mache ich seitdem zusammen Musik. Das ist ein riesiges Geschenk, das ist nicht selbstverständlich, das muss man sich manchmal bewusst machen. Und dann habe ich mir irgendwann gedacht, ich gründe jetzt eine Band, wo ich auch singe und die Texte schreibe. Ich hatte auch vorher schon ein paar Texte geschrieben, aber ich wollte mich selbst ans Mikrofon stellen und meine Texte singen. Ich habe mir also mit 15 einen Bandnamen ausgedacht, mit dem ich mich auch jetzt noch problemlos auf eine Bühne stellen kann. Das ist nicht selbstverständlich. Das muss man einfach mal sehen. Dafür muss man sich nur mal irgendeinen Deutschpunk-Tape-Sampler anschauen.

DIE ARSCHGEFICKTEN GUMMIZOFEN wäre in dieser Hinsicht weitaus weniger gut.
Genau. Und natürlich würde ich nicht jeden Text wieder genauso schreiben. Man lernt auch irgendwie dazu, entwickelt sich weiter und hat manches vielleicht sehr vereinfacht. Das ist aber auch das gute Recht der Jugend. Das soll sie auch machen. Und niemand würde zu irgendwem sagen: „Was hast denn da mit 15 gemacht?“ Das Problem ist, die meisten Leute sagen: Okay, da war ich 15, damit habe ich gar nichts mehr zu tun. Bei mir gibt es aber diese Kontinuität, dass ich schon sehr lange eine Band habe und die hat sogar noch denselben Namen wie damals. Und da könnte man, wenn man sehr böse wäre, natürlich sagen, schau doch mal hier, diese Textzeile, dieser Artikel, was du da geschrieben hast ... Aber das macht eigentlich keiner, das passiert mir nicht. Da müsste man wirklich schon sehr kurz denken, um das zu tun. Bisweilen fällt einem das eben auf, und ich denke mir heute, ist doch genial, ich bin mit diesem Typen, der damals am Schlagzeug saß, heute noch auf eine Bühne und habe diese Band. Wir machen neue Musik, die wir gut finden und die nicht nur davon lebt, dass wir unsere Hits von 1997 noch mal versuchen auf die Bühne zu bringen. Solche Bands gibt es ja auch. Nein, wir sind hier an was dran und das weiß ich wirklich sehr zu schätzen. Das ist ein schönes Gefühl.

Wie hat sich dein damaliges Schreiben und Texten denn in deinem literarischen Werk niedergeschlagen?
Das erste Buch „Wo die wilden Maden graben“ von 2007 hat sich tatsächlich aus dem Wasted Paper ergeben. Nicht direkt, denn es lagen acht oder neun Jahre zwischen der letzten Wasted Paper-Ausgabe und meinem ersten Roman. Mich hat damals Jörn Morisse angerufen, der dann einige Jahre mein Literaturagent war und der in den Neunzigern ein Fanzine namens Kaleidoskop gemacht hatte. Der sagte, er habe das Wasted Paper immer gut gefunden, ob ich nicht Bock hätte, einen Roman zu schreiben. Und natürlich hatte ich Bock, ein Buch zu schreiben, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich das machen könnte, dass es irgendwer rausbringen würde, und dass es irgendwen interessieren könnte. Und dann habe ich halt angefangen. Es war dann wie bei vielen anderen Schriftstellern auch: Der erste Roman ist immer sehr autobiografisch und man schöpft erst mal aus dem, was man erlebt hat, aus dem direkten Leben, was einen umgibt. Ich hatte damals nicht so einen Heidenrespekt vor diesem Format Roman, ich kannte das Schreiben ja schon. Ich hatte dann relativ schnell einen Vertrag mit dem Ventil Verlag, ein kleiner linker Verlag mit Subkulturverhaftung, und ich hatte nicht das Gefühl, ich müsse irgendwem irgendwas beweisen. Das war also anders als bei vielen Leuten, die Literatur studiert haben, etwa in Hildesheim oder in Leipzig, für die ist das erste Buch ein Riesending, weil die sich mit ganz anderen Sachen messen. Und leider merkt man diesen Büchern das auch oft an, finde ich. Da schwingt ein gewisser Druck und vielleicht auch Angst mit. Ich ging ans Schreiben mit der Einstellung ran, na ja, ich habe schon ein Fanzine gemacht, ich kann einen Satz an den anderen reihen, ich weiß, wie das geht. Dann bekommt man ein Lektorat und merkt, okay, so ein Roman ist schon ein bisschen was anderes, als nur ein Fanzine zu machen. Dann hält man irgendwann das Buch in der Hand und irgendwie fühlt es sich anders an als ein Fanzine. Also es ist nicht alles gleich, aber dieser Einstieg, den ich da hatte, diese gewisse Unbekümmertheit, die resultierte aus den vorherigen Erfahrungen. Ich will jetzt nicht rührselig klingen, aber wenn man zwei oder drei Jahre später reflektiert, dann fällt einem das auf und man weiß das zu schätzen, weil man sieht, das ist nicht selbstverständlich. Es gibt Leute, die mühen sich zwanzig Jahre lang ab mit dem ersten Roman, der gleich irgendwie perfekt werden soll, und diesen Anspruch nicht zu haben und einfach mal drauflos zu machen, das ist natürlich was anderes.

Ist das Punkrock?
Das kann man Punk nennen, aber man muss nicht Punk dafür in seiner Biografie haben. Das kann auch bei Leuten so sein, die einen HipHop -oder Techno-Background haben. In meinem Fall ist es eben Punkrock und so eine Idee von DIY – einfach mal machen und schauen, wie weit man damit kommt. Wenn man so eine Sozialisation hat, wie wir sie haben, nimmt man das als selbstverständlich hin, man kennt es ja nicht anders – und wird dann aber auch mal „eingeordnet“ und sieht, es ist überhaupt nicht selbstverständlich. Es ist also was wert.

Das ist tatsächlich so eine Erfahrung, die ich immer wieder mache. Dass man Menschen, die eine Idee haben, als Ratschlag mitgibt: „Ja, mach doch einfach!“ Wenn Menschen diesen DIY-Background nicht haben, tun sie sich oft schwer bei der Umsetzung ihrer Ideen.
Ich schätze bei der Arbeit mit meinem Verlag S. Fischer, wo meine beiden letzten Bücher herausgekommen sind, dass man da einen Lektor bekommt, der auch Zeit hat. Er muss nicht zehn Bücher gleichzeitig machen, sondern kann sich wirklich kümmern. Wir haben an den letzten beiden Büchern immer so lange gearbeitet, bis ich wirklich das Gefühl hatte, ja, so ist es gut. Und gleichzeitig sehe ich da, dass so eine Sozialisation oder so eine Herangehensweise, die ich zum Beispiel habe, überhaupt nicht selbstverständlich ist. Ich kann das an ganz konkreten Dingen festmachen, zum Beispiel am Cover. Typischerweise werden da Agenturen beauftragt, und es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass dabei auch mal ein gutes Cover rauskommt. Aber wenn du in die Buchhandlung gehst, schau dir mal deutsche Romane an, wie scheiße die aussehen. Und schau dir mal dagegen deine Plattensammlung an: Die ersten zehn Platten, die du rausziehst, sehen besser aus als die ersten zehn Bücher, die du siehst. Weil bei der Platte die Haltung ist, dass das dazugehört und Teil des Kunstwerks ist. Bei Büchern ist es oft „nur der Umschlag“, und der soll verkaufen. Und das müssen Profis machen. Als ich dann meinte, nee, ich habe eine Idee fürs Cover von „Arbeit“ und ich habe eine Freundin, die ist Fotografin, und eine andere Freundin, die kennt sich super mit Typografie aus, ich habe eine Idee und die beiden können das gut umsetzen – das wollte da erst mal keiner hören. Man muss aber auch sagen, dass viele Schriftsteller:innen gar kein Interesse daran haben, sich da einzubringen. Und es ist ja auch okay, wenn man sagt, nein, ich will einfach nur schreiben, ich habe meinen Teil getan, jetzt macht ihr mal euren. Ich will das gar nicht verurteilen, ich kann nur sagen, bei mir ist es nicht so! Für mich gehört das zusammen und ich reagiere auch darauf. Und ich finde auch amerikanische Buchcover schöner als deutsche. Haptik ist mir wichtig und ich habe ein ästhetisches Empfinden. Und das ist natürlich alles geschult durch DEAD KENNEDYS-Platten. Da gehörte alles zusammen. Es wäre für eine Band wie MUFF POTTER auch immer völlig undenkbar gewesen, dass wir ins Studio gehen und dann geben wir das Masterband irgendeinem Label. Da müssten wir erst mal fragen, welchem Label überhaupt, weil wir die Master selbst rausgebracht haben. Aber selbst als wir bei einem Major waren, war es völlig undenkbar, dass wir aus dem Studio kommen und sagen, so, hier ist die Musik, jetzt macht ihr mal euren Job. Nein, natürlich wissen wir schon, wie das Cover aussehen soll, wie das Booklet aussehen soll und die ganzen Kleinigkeiten. Das hat was mit der Sozialisation zu tun, und dieses Interesse an all diesen Details ist in der Literaturwelt, in der Buchbranche weit weniger üblich als für uns eher Musiksozialisierte. Wenn dein Buch scheiße aussieht, dann hast du dich vielleicht einfach nicht genug gekümmert.

DIY als das hehre Ideal also?
In gewisser Weise finde ich auch die Perspektive fortschrittlich, Sachen abzugeben. Vor dem Hintergrund, dass heutzutage von Kreativen verlangt wird, dass sie sich total selbst ausbeuten, dass sie alles können müssen, dass sie die Promo natürlich selbst machen über ihre Social-Media-Kanäle, dass jeder immer Selbstdarsteller und Unternehmer in eigener Sache ist. Das ist die Ideologie dieses Jahrhunderts, in dem wir jetzt leben, und klar, man kann das immer alles verklären als Punk oder DIY, aber oft ist es natürlich nur ein Euphemismus für totale Selbstausbeutung. Daher kommt auch, dass ich als jemand, der immer alles selbst gemacht hat, es als Fortschritt empfindet, mit Leuten zusammenzuarbeiten zu können, die gut sind in dem, was sie machen. Und so Sachen abgeben zu können und nicht alles selbst machen zu müssen. Aber natürlich will ich dabei das letzte Wort haben. Das wird auch nicht mehr verschwinden aus meinem Leben. Aber ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass ich bei diesem Verlag bin. Und wenn die Musikbranche nicht so wäre, wie sie ist, dann wäre ich mit der Band wirklich gerne bei einer anderen Plattenfirma als unserem eigenen Label Huck’s Plattenkiste. Es geht wirklich nicht darum, das unbedingt selbst machen zu müssen. Ich finde die Idee schön, ein „Zuhause“ zu haben und über längere Zeiträume mit Menschen zusammenzuarbeiten, denen man vertraut und die man kennt. So ein Umfeld zu haben, das halte ich auch politisch betrachtet für eine bessere Idee als dieses „Kill the middle man“, wir brauchen keine Labels mehr, wir brauchen keine Plattenläden mehr. Jede Band verkauft nur noch über ihren Bandshop und macht ihre Promo selbst bei Instagram und so weiter.

Schaut man sich aber mal an, mit wem man so zu tun hat, merkt man oftmals, wie viele Leute dann doch dahinter stecken – und eben nicht die Band selbst die Arbeit macht.
Es sind eben überall Söldner und Freelancer zugange, die machen mal dieses Projekt und dann jenes. Kaum jemand beschäftigt noch Leute fest, und alle müssen immer schauen, wo sie bleiben. Das macht die Leute krank. Das ist vulgärer Kapitalismus, der die Leute krank macht. Denn natürlich sind sie nicht in der Gewerkschaft, natürlich können sie keinen „gelben Schein“ mehr einreichen, sondern alle arbeiten irgendwie bis zum Umfallen. Und wer es nicht schafft, wer da nicht mithalten kann, wer krank wird, der hat Pech gehabt und kann eventuell noch nicht mal jemandem die Schuld geben, sondern macht das mit sich selbst aus, denkt, ach, wärst du doch mal stärker gewesen. Also wir überlegen jetzt mit Huck’s Plattenkiste auch, was wir da machen. Wir sind ja kein Label, wir bringen einfach nur die neue MUFF POTTER-Platte aus. Wir arbeiten hier mit ein paar Leuten zusammen, und wenn das gut funktioniert, könnte man vielleicht doch mehr daraus machen. Etwas, wo man eine andere Perspektive hat und nicht jeder nur Söldner in eigener Sache ist. Ich bin jetzt kurz davor, diese neue Platte rauszubringen, und bin jetzt doch wieder das Label. Dabei hatte ich mir bei der letzten Platte geschworen, das nie wieder selbst zu machen, denn das hat uns auseinandergerissen damals. Also der finanzielle Druck und die Schulden, die damit einhergehen, die ganze Arbeit und die Verantwortung. Parallel erlebe ich, dass ich mein drittes Buch wieder mit demselben Verlag mache, das hatte ich auch noch nie. Ich erlebe hier zwei sehr unterschiedliche Welten und die haben beide Vor- und Nachteile. Man kann das nicht im Detail vergleichen, es sind unterschiedliche Branchen, die funktionieren teilweise anders, aber ich finde es wirklich interessant, beide Welten zu erleben. Jetzt rede ich mit dir und heute Abend habe ich einen Treffen mit meinem Lektor. Ich switche zwischen beiden Welten hin und her. Vielleicht schließt sich da der Kreis in Hinsicht auf das, womit wir angefangen haben. Man lebt in einer bestimmten Welt, aber man nimmt sie nicht als gegeben hin, sondern hat immer noch diesen Drive, aus politischen oder ästhetischen Gründen zu sagen, ich kann mir auch eine andere Welt vorstellen, das ist hier doch nicht die beste aller Welten, in der wir leben können. Ich muss irgendwie hier zurechtkommen, aber das ist ja noch nicht alles, ich will auch darüber hinausdenken: Wie könnte es sein? Wie möchte ich eigentlich leben? Welche Beziehungen möchte ich führen? Wie möchte ich mit den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, umgehen? Und wie möchte ich, dass mit mir umgegangen wird? Wir sind nicht an einem Schlusspunkt, da ist immer noch der Drive da zu sagen, das kann doch nicht alles sein.