United Worldwide

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Widerstand in Belarus

Anfang März 2020 machte das Label Audiolith einen kleinen Ausflug nach Minsk, um dort das Abschiedskonzert von WHAT WE FEEL zu sehen. Es spielten unter anderem die belarussische Streetpunk-Band MISTER X und die Italiener LOS FASTIDIOS. Es war ein sehr berührender Abend. Dass Tage später die Corona-Pandemie alles verändern sollte und die Präsidentschaftswahl in Belarus und die daraus resultierenden Repressionen unsere Freunde treffen würden, haben wir uns nicht ausmalen können. Wir möchten mit dem Sampler „United Worldwide“ unsere Freund:innen und ihre Familien unterstützen und ihnen eine Stimme geben. Wir haben MISTER X-Gitarrist Alex aka „SlepOi!“ gebeten, einen Text über die Situation vor Ort zu verfassen. Natürlich würden wir am liebsten allen helfen, aber das ist nicht einfach. Was wir tun können, ist den Schwächsten zu helfen – den Familien und Kindern von Demonstrant:innen, die von den Behörden unterdrückt werden. (Einleitung: Lars, Audiolith)

Seit den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 finden in Belarus anhaltende Proteste statt. Viele von uns haben die Ereignisse von Anfang an verfolgt. Aber was passiert jetzt nach all dieser Zeit? Wie ist die Situation in Belarus heute?

Seit einiger Zeit haben die belarussischen Behörden mit der aktiven Verfolgung von Bürger:innen begonnen. Aktuell befinden sich etwa 150 politische Gefangene in Haft, ihre Zahl nimmt jedoch weiter zu. Die Gesamtzahl der Personen, gegen die Strafverfahren eingeleitet wurden, beträgt mehr als 1.000. Die Behörden setzen die Praxis der gewaltsamen Auflösung friedlicher Protestdemonstrationen und der Anwendung von Gewalt gegen ihre Teilnehmer:innen fort. Die Gesamtzahl der seit Anfang August wegen Teilnahme an den Protesten inhaftierten Personen beträgt mehr als 30.000 Personen.

Bis heute wurden keine Strafverfahren eingeleitet wegen Tatbeständen wie wiederholtes und brutales Schlagen und Folterung von Inhaftierten, insbesondere in der Zeit vom 9. bis 12. August. Mehr als 450 Fälle von Folter während der Haft wurden offiziell registriert, wie aus einem UN-Bericht hervorgeht. Es wurden inzwischen mehr als 4.000 Anträge eingereicht, um den Sachverhalt der Polizeigewalt gegen Inhaftierte, auch Minderjährige, zu untersuchen. Die Straflosigkeit hat dazu geführt, dass die Polizei bis heute harte, unmenschliche und demütigende Behandlung von Inhaftierten anwendet.

Ebenso wurden bis heute auch keine Strafverfahren wegen des Todes von vier Personen während der Proteste im Zeitraum von August bis November eröffnet. Das Schicksal von mindestens sechs Personen, die seit Beginn der Wahlen vermisst werden, ist immer noch noch unbekannt. Darüber hinaus wird offiziell erklärt, dass Ermittlungsverfahren aufgrund fehlender Beweise nicht eingeleitet werden. Insgesamt gibt es in Belarus bis heute eine Zunahme der Repressionen und eine enorme Verschlechterung der Menschenrechte im Land.

Laut dem OSZE-Bericht des Völkerrechtlers Prof. Dr. Wolfgang Benedek vom 29. Oktober ist es notwendig, folgende Tatbestände als zweifelsfrei erwiesen anzuerkennen: „Einschüchterung und Schikanierung von politischen Aktivist:innen, Kandidat:innen, Journalist:innen, Medienschaffenden, Anwält:innen, Arbeiter:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen sowie Inhaftierungen von potenziellen Kandidat:innen; Wahlbetrug; Einschränkungen des Zugangs zu Informationen, einschließlich der Sperrung des Internets; übermäßige Gewaltanwendung gegen friedliche Demonstrant:innen; willkürliche und illegale Verhaftungen und Inhaftierungen; Schläge; sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt; Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen; Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafung sowie weitverbreitete Straflosigkeit für die Urheber aller oben genannten Handlungen“.

Im Oktober und November haben die Behörden die strafrechtliche Verfolgung von Bürger:innen aus politischen Gründen spürbar ausgeweitet. In Verbindung mit der Initiierung von Streiks oder dem Vorhaben, sie durchzuführen, hat der Druck der Behörden auf Bürger:innen, die sich aktiv an ihnen beteiligen oder sie befürworten, zugenommen. Wiederholte Fälle von Entlassung vom Arbeitsplatz und Ausschluss aus Bildungseinrichtungen aktiver Teilnehmer:innen der Streikbewegung wurden registriert. Strafrechtliche Untersuchungen gegen einige Aktivist:innen wurden eingeleitet.

Es wurde wiederholt festgestellt, dass sich bei friedlichen Protesten die größte Aufmerksamkeit und offene Brutalität der Polizei gegen Menschen mit Tätowierungen, Piercings, anderem Aussehen richtet und Menschen, die sich mit einer Subkultur identifizieren. Im Oktober und November begannen die Behörden, Vertreter:innen der antifaschistischen und anarchistischen Bewegung aktiv und systematisch zu verhaften. Beispielsweise kam die Polizei am frühen Morgen des 20. Oktober in die Wohnung von Igor Bancer, dem Sänger der Band MISTER X. Der Polizeibesuch gab vor, dass Bancer sich verstecke und sich weigere, eine Geldstrafe zu bezahlen. Aber in Wirklichkeit war es ein Vorwand, um ihn zum Präsidium zu bringen, wo ihm mitgeteilt wurde, dass er ein Verdächtiger in einem Kriminalfall sei, aufgrund der Organisation von Gesetzlosigkeit. Am Abend desselben Tages wurde Bancer wegen eines weiteren Vergehens angeklagt, diesmal des Hooliganismus. Am 22. Oktober wurde Igor Bancer bis zur Verhandlung in Untersuchungshaft genommen. Der Termin für die Gerichtsverhandlung ist derzeit noch nicht bekannt. Nach Ermessen der Polizei wird Bancer einer forensisch-psychiatrischen Zwangsuntersuchung unterzogen.

In der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober wurden vier Anarchisten an der Grenze zur Ukraine festgenommen: Igor Alinevich, Dmitry Dubovsky, Dmitry Rezanovich und Sergey Romanov. Nach ihrer Verhaftung wurden sie in mehreren Straftatbeständen einschließlich Terrorismus angeklagt. Am 12. November wurde ein weiterer bekannter Anarchist, Nikolai Dedok, festgenommen. Er wurde in einem Strafverfahren wegen der Organisation von Unruhen angeklagt. Es ist anzumerken, dass er in dem Video mit seinem Schuldbekenntnis mit hinter dem Rücken gefesselten Händen sitzt und es so aussieht, als ob er mehrfach geschlagen worden war, was vermuten lässt, dass das Geständnis nicht legal zustande gekommen war.

Die strafrechtliche Verfolgung von Mitbürger:innen ist seit der Wahl und bis heute vielleicht eine der schwersten Repressionen der belarussischen Behörden. Beispielsweise wurden bei einer der friedlichen Protestdemonstrationen am 8. November mehr als 1.000 Menschen festgenommen, was nach dem 9. bis 12. August die größte Masseninhaftierung war. Später wurden mehr als 230 dieser Inhaftierten verschiedener Vergehen verdächtigt. Ebenfalls im November wurden neun Mitglieder einer unabhängigen Student:innenorganisation wegen Verdachts auf verschiedene Straftatbestände festgenommen. Unabhängig davon sind die zahlreichen Verhaftungen unabhängiger Journalist:innen zu erwähnen, von denen einige auch als Verdächtige verhaftet und wegen Straftaten angeklagt werden. All dies spricht leider für eine tiefe Menschenrechtskrise im Land.

Trotz der harten Maßnahmen der Behörden haben die friedlichen Protestdemonstrationen in Belarus bis jetzt nicht aufgehört. Zu den Sonntagsdemonstrationen, die bereits zur Tradition geworden sind, versammeln sich jedes Mal eine große Anzahl von Teilnehmer:innen. An Wochentagen gibt es Solidaritätsaktionen von Ärzt:innen sowie Demonstrationen von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen. Jeden Monat werden mehrere tausend Menschen bei friedlichen Demonstrationen festgenommen und gerichtlich zu Geldstrafen verurteilt. Natürlich kommt es unter diesen Bedingungen bei den Prozessen zu erheblichen Rechtsverstößen. Die Gerichte eröffneten Strafverfahren in Fällen von Gewalt gegen Polizisten, die Verurteilten erhielten Haftstrafen von zweieinhalb bis vier Jahren.

Zusätzlich wollen wir anmerken, dass mehrere Personen wegen des Graffitis „Wir werden nicht vergeben!“ zu Haftstrafen von eineinhalb bis zweieinhalb Jahren verurteilt wurden. „Wir werden nicht vergeben!“ ist denjenigen gewidmet, die bei den Protesten im August und November ums Leben gekommen sind. Im Allgemeinen ist die Situation in Belarus vor allem unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte fragwürdig. Die Behörden beachten Alter, sozialen Status und Verdienste nicht. Jugendliche im Alter von 13 bis 15 Jahren, Menschen über achtzig, berühmte Sportler:innen und Olympiasieger:innen, Lehrer:innen von Universitäten und Wissenschaftler:innen, Vertreter:innen von Kultur und Kunst sowie Vertreter:innen christlicher Konfessionen werden bei friedlichen Demonstrationen festgenommen.