YEAR OF THE KNIFE

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Auf Messers Schneide

Der schlimme Verkehrsunfall von THE GHOST INSIDE vor acht Jahren dürfte vielen noch im Gedächtnis sein. Ein ähnliches Schicksal ereilte vor wenigen Monaten die US-amerikanische Hardcore-Band YEAR OF THE KNIFE. Glücklicherweise kamen alle Bandmitglieder mit dem Leben davon. Wie es nun weitergeht und welche langfristigen Folgen mit dem Unfall verbunden sind, erzählt Bassist Brandon Watkins.

Salt Lake City, Ende Juni 2023. Die vierköpfige Gruppe tourt gerade durch die Staaten, macht sich im Van auf den Weg zur nächsten Show. Plötzlich ein Knall auf der Straße. Das Fahrzeug kollidiert mit dem Heck eines Lkw-Anhängers, die gesamte Front wird bis zur Unkenntlichkeit zusammengedrückt. Es ist reines Glück, dass alle Insassen überleben, wenn auch zum Teil mit schwerwiegenden Verletzungen. Sängerin Madison Watkins hat es am heftigsten erwischt. In kritischem Zustand wird sie mit einem schweren Schädel- und Wirbelsäulentrauma, beidseitig gebrochenem Kiefer sowie Brüchen an Rippen, Oberschenkel und Knöchel ins Krankenhaus gebracht und dort zur weiteren Behandlung ins künstliche Koma versetzt. Die anderen Bandmitglieder kommen mit verschiedenen Knochenbrüchen, Gehirnerschütterungen und einer durchtrennten Arterie kaum glimpflicher davon. Seitdem ist die vollständige Genesung aller Bandmitglieder das primäre Ziel. „Allen geht es seit dem Unfall schon viel besser. Aaron und Andy können beide wieder ohne Hilfe laufen. Madi hat noch eine Menge zu tun. Aber ihre Knochen heilen und auch mental ist sie auf dem Weg der Besserung“, beschreibt Madis Bandkollege und Ehemann Brandon Watkins den aktuellen Status.

Eine essentielle Hilfe dürfte dabei die Unterstützung durch Fans und die Community sein. Im Zuge einer Spendenkampagne auf der Plattform „GoFundMe“ hat die Band bereits über 250.000 Dollar gesammelt. Geld, das für die Behandlungskosten dringend gebraucht wird in einem Land, in dem eine Krankenversicherung ein Luxusgut darstellt: „Wir zahlen hier für unsere Gesundheitsversorgung. Sie ist nicht gerade billig, die Beiträge, die wir aus eigener Tasche berappen müssen, sind verrückt. Außerdem müssen wir ja auch noch leben. Madi und ich sind arbeitslos, bis sie wieder fit ist. Ich habe keine Ahnung, wie wie lange das dauern wird. Ohne die Spendensammlung hätte ich nichts. Wir wären wirklich am Arsch. Es hält Madi und mich am Leben“, erklärt der Bassist. Neben diesem finanziellen Aspekt ist es auch der emotionale Zuspruch und die Anteilnahme, die die ganze Band überwältigt: „Die Hardcore- und Metal-Gemeinschaft ist wirklich fantastisch. Uns begegnen jeden Tag zufällig Menschen, die uns sagen, dass sie den Unfall in den Nachrichten gesehen haben und dass sie an uns denken, die uns wissen lassen, dass sie Hoffnung für unsere Zukunft haben. Das ist wundervoll“, so Brandon. Dazu gehört auch die Unterstützung von befreundeten Bands. THE ACACIA STRAIN verkauften limitierte T-Shirts, deren Erlös an YEAR OF THE KNIFE ging, und andere Gruppen organisierten ein Benefizkonzert.
Auch die Album-Einnahmen der aktuellen Veröffentlichung „No Love Lost“ sollen vollständig dem Genesungsprozess zugutekommen. Das eigentlich geplante Release-Datum wurde aufgrund des Unfalls bereits auf den Herbst verschoben. „Es war dennoch sehr schwer, die Entscheidung zu treffen, die Platte zu veröffentlichen, während sich Madi noch erholt. Ursprünglich sollte das Album schon im Juli erscheinen, aber nach allem, was passiert ist, hielten wir es für das Beste zu warten. Jetzt, da Madi besser realisiert, was vor sich geht, denke ich, dass das eine positive Aufregung für sie ist“, meint ihr Ehemann, der stellvertretend für sie spricht. Nicht zuletzt aufgrund des Wechsels im Line-up dürfte „No Love Lost“ tatsächlich eine besondere persönliche Bedeutung für Madi Watkins haben, da es die erste LP ist, auf der sie für YEAR OF THE KNIFE das Mikro in der Hand hält, nachdem die vorherige Bassistin den früheren Frontmann Tyler Mullen ersetzte. Darüber hinaus war sie auch maßgeblich am Songwriting beteiligt. Neben diesem Wechsel in der Besetzung zählt für Brandon als weitere auffälligste Neuerung der Verzicht auf ein bis dato intensiv verwendetes Effektpedal, das HM-2, das gerne genutzt wird, wenn es darum geht, so zu klingen wie Death Metal in den frühen Neunziger Jahren. In Person von CONVERGE-Urgestein Kurt Ballou wurde der neue musikalische Output mit einem äußerst erfahrenen Produzenten technisch umgesetzt: „Wir haben mit Kurt bereits an unserer letzten Veröffentlichung ‚Internal Incarceration‘ gearbeitet und die Zusammenarbeit mit ihm sehr genossen. Wir hatten das Gefühl, dass sein Stil und seine Vision wirklich zur Band passen, und wir lieben es, wie das Album klingt.“ Die einschneidenden Erfahrungen der letzten Monate dürften wiederum Auswirkungen auf zukünftige Veröffentlichungen haben. Schließlich ist Kreativität ein mögliches Ventil, um persönliche Schicksalsschläge zu verarbeiten, und vielleicht sogar um den laut Brandon auftretenden posttraumatischen Belastungsstörungen etwas entgegenzusetzen. Wie das konkret aussehen könnte, ist für Brandon selbst noch unklar: „Alles ist jetzt anders für uns. Wir sind jetzt anders. Ich bin mir sicher, dass es sich auf unsere Musik auswirken wird. Ich weiß nur nicht wie.“ Weniger Interpretationsspielraum bietet dagegen die Tatsache, dass die Gruppe zukünftig auch wieder live zu sehen sein wird. Das ist gleichzeitig Motivation und Ziel der Hardcore-Band. „Ich weiß noch nicht, wann wir auf die Bühne zurückkehren können. Aber es wird geschehen“, ist sich der Musiker sicher. „Zudem trage ich durch das Touren zum Haushaltseinkommen bei. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn ich den ganzen Tag zu Hause sitze. Wir kommen wieder.“