PORK PIE

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Das Berliner Ska-Label feiert seinen Zwanzigsten

Im Ox #79 gab es einen kleinen Einblick über die aktuellen Aktivitäten des Labels. Heute möchte ich mit euch einen Streifzug durch die Firmengeschichte machen und euch dabei den Macher Matthias „Matzge“ Bröckel vorstellen. Mit der ersten Pork Pie-Veröffentlichung, „Ska ... Ska ... Skandal No. 1“ von 1989, hatte die damalige deutsche Ska-Szene erstmalig ein Aushängeschild, das aus dieser deutschen Subkultur nicht mehr wegzudenken ist. Was wäre wohl mit Ska in Deutschland passiert, hätte es diesen Sampler nie gegeben? Mit dieser Zusammenstellung brachte Pork Pie einen Stein ins Rollen, der die Entwicklung einer Ska-Szene in Deutschland erst ermöglichen sollte. Daraufhin folgten weitere erfolgreiche Alben mit nationalen Bands wie SKAOS, EL BOSSO & DIE PING PONGS, THE BRACES, NO SPORTS oder THE BUSTERS und internationalen Größen wie Laurel Aitken, Derrick Morgan, BAD MANNERS, THE TOASTERS, THE PORKERS oder SPITFIRE, um nur einige zu nennen. Aber einmal abgesehen von den so genannten One-Artist-Alben, sticht Pork Pie vor allem mit den außerordentlich superben „Ska ... Ska ... Skandal“- und den internationalen und sehr variationsreichen „United Colors Of Ska“-Compilations hervor. Was ursprünglich aus der „Skinheads Against Racial Prejudice“-Bewegung (S.H.A.R.P.) hervorging, entwickelte sich in den letzten zwanzig Jahren zum dienstältesten deutschen Ska-Label. Für sehr moderne und neue Bands, die nur ansatzweise mit Ska zu tun haben, hat Matzge im letzten Jahr Flat Daddy Records gegründet. Wie sich das Mosaik Pork Pie und deutsche Ska-Geschichte Steinchen für Steinchen in all den Jahren zusammengefügt hat, erzählt uns Matzge in den folgenden Zeilen.

Fragt man Matzge, wann und wo er geboren und wie er aufgewachsen ist, antwortet er: „Nach der großen Depression, als Sohn schwäbisch-kreolischer Einwanderer in der Karibik. Aufgewachsen bin ich mit den Rudeboys im württembergischen Eastend.“ Wenn man so will, waren also Erziehung, kultureller Hintergrund und sein Umfeld ausschlaggebend, dass Matzge Ende der Siebziger in der damaligen Musikmetropole Berlin (West) landen sollte, in der gerade Punk, New Wave und 2Tone angesagt waren. „Damals war das Revolution, sowohl musikalisch als auch vom Spirit her.“ War bis dato Hippiemucke allgegenwärtig, „gab es auf einmal Bands wie THE SPECIALS, MADNESS oder BAD MANNERS. Eine Ska-Szene, wie man sie seit Anfang der neunziger Jahre in Deutschland kennt, gab es damals noch nicht. Es gab Teds, Punks, Popper und auch ein paar Skins, mit denen ich aber nicht unbedingt was zu tun haben wollte. Die S.H.A.R.P.-Skinhead-Szene („Skinheads Against Racial Prejudice“) ist ja erst einige Jahre später entstanden.“ Zwar trug Matzge damals schon seine Haare kurz und war von Ska hin und weg, feierte aber doch lieber gemeinsam mit (Fun-)Punks, mit denen er die Band PANZERKNACKER AG (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Band aus Österreich) gründete, in der er Keyboards spielte und sang.

Neben dem Feiern studierte Matzge Elektroakustik „und alles, was man so an technischem Wissen als Toningenieur braucht. Wir haben Tourneen organisiert, PA-Verleih und Demos in unserem Kellerstudio gemacht.“ Die erste Platte war 1983 der Funpunk-Sampler „20 schäumende Stimmungshits“, unter anderem mit den heute prominenten Leuten Farin Urlaub und Bela B. von DIE ÄRZTE, sowie Campino und Kuddel von den frisch gegründeten TOTEN HOSEN. „DIE ÄRZTE wollten damals schon reich und berühmt werden. ‚Hört sich gut an‘, dachten wir und haben das Vielklang Label gegründet. Dass die damit Recht behalten würden, wusste damals natürlich keiner.“

„Spätestens mit MADNESS’ Pop-Hit ‚Our house‘ war die 2Tone-Ära auch erst einmal vorbei und Ska wurde wieder Insider-Musik. Allerdings gründeten sich in diesem Zeitraum viele Bands wie BLECHREIZ, THE BUSTERS oder SKAOS, ohne die sich eine Ska-Szene in Deutschland nie entwickelt hätte. In Berlin kristallisierte sich um das Skintonic-, später Skin Up-Fanzine eine Ska- und antirassistische Skinhead-Szene heraus.“, erzählt der Wahl-Berliner. Mit all den Faktoren gab es von nun an ein starkes Fundament, auf dem sich ein neues Label aufbauen ließ. Mit dem „Ska ... Ska ... Skandal No. 1“-Sampler von 1989, der zugleich die erste repräsentative Zusammenstellung deutscher Ska-Bands darstellte, wurde das neue Sublabel von Vielklang, das Ska-Label Pork Pie geboren. Mittlerweile besitzt dieses musikalische Zeitdokument in der Ska-Szene weltweiten Kultstatus. Mit vielen Bands auf diesem Sampler arbeitete Matzge an weiteren, eigenständigen Veröffentlichungen.

Während andere Labels binnen zwanzig Jahren hundert(e) Platten veröffentlichen, hält es sich bei Pork Pie in einem überschaubaren Rahmen. „Die Bands erwarten zu Recht, dass man sich in gewissem Umfang um sie kümmert. Diesem Anspruch kann man schwer gerecht werden, wenn man zu viele Bands unter Vertrag hat oder mit Leuten arbeitet, wo die Chemie nicht stimmt. Außerdem wollte ich auf Pork Pie nur Bands veröffentlichen, die auch meinen persönlichen Geschmack repräsentieren. Hinzu kommt, dass gute Arbeit eine Menge Geld und Zeit kostet. Besonders deutlich wird das an Samplern. Wenn man da herausragen will, muss man allerbeste Qualität anbieten. Dann wirkt das Ganze wie ein guter Nighter, den man sich auch zu Hause bei der privaten Party anhören kann. Das ist es, was ich bei meinen ‚... Skandal‘- und ‚United Colors‘-Samplern versuche.“

Erst seit wenigen Monaten arbeitet Matzge mit Pork Pie wieder in einem eigenen Büro. Viele Jahre hat Marita Fabiunke von Vielklang die Promotion-Arbeit für Pork Pie erledigt. Marita ist seit einigen Jahren mit Rabazco Musik Promotion selbständig zugange und kümmert sich um diverse Labels und Bands. Heute wird Matzge von Praktikanten unterstützt. Er erinnert sich: „Es ist ja nichts Neues, dass das Internet und die digitale Technik die komplette Geschäftswelt, insbesondere die Musikbranche umgekrempelt haben. Als ich mit Pork Pie 1989 startete, gab es noch kein Windows. Verträge und Infos wurden mit der Schreibmaschine oder mit einem DOS-PC getippt, im Copyshop kopiert, gefaxt oder mit der Post geschickt, E-Mails gab es auch noch nicht. Der Kontakt mit Fanzines aus aller Welt lief über die normale Post oder, wenn es mal eilig war, über Telefon. Die Herstellung einer Platte dauerte Wochen und war richtig teuer. Man brauchte fürs Cover einen Grafiker, einen Schriftsetzer, einen Layouter und eine Reprofirma für die Druckvorlagen. Die Aufnahmen mussten in teuren 24-Spur-Tonstudios produziert und von Hand geschnitten werden. Dann ging es damit ins Vinyl-Schneidestudio, in die Galvanisierung und letztendlich in die Pressung. Wenn an einer Stelle ein Fehler passierte, mussten oftmals alle Schritte noch einmal durchlaufen und der Veröffentlichungstermin der Platte verschoben werden. Alles war viel langsamer und zeitaufwändiger. Für Bands war es entsprechend schwierig, das alles selbst zu organisieren und zu finanzieren. Dafür waren die Verkaufszahlen auch wesentlich höher als heute, so dass das Label auch mehr Geld für das Studio oder das Marketing ausgeben konnte. Heute sehe ich ein Label neben dem guten Namen als Marke eher als Service-Firma, die Bands mit einem guten Vertriebsnetz für Tonträger und Downloads, Promotion und reichlich Knowhow unterstützen kann.“

Was das bevorzugte Format zur Präsentation von Ska angeht, ist sich Matzge sicher, dass die Tage der CD gezählt sind: „Die Generation, die heute anfängt, sich mit Musik zu beschäftigen, kommuniziert und konsumiert fast nur noch übers Internet. Der Handel konzentriert sich zunehmend auf Chart-Material. Die Vertriebskette über den konventionellen Handel ist viel zu teuer. Für Band und Label bleibt davon nur ein geringer Prozentsatz. Was den käuflichen Download angeht, ist der Anteil im Genre Ska in den letzten Jahren zwar gewachsen, ersetzt aber bei weitem nicht die Verluste, die durch den Absatzeinbruch der CD entstanden sind. Vinyl wird es zumindest für die Fans des traditionellen Ska weiterhin geben, immerhin ist Vinyl ein wesentlicher Bestandteil des Kults. Angesagt sind ja inzwischen Modelle, bei denen der Vinylkäufer mit einem Zugangscode belohnt wird, mit dem er die gleichen Songs noch einmal für seinen mp3-Player downloaden kann. Das halte ich für einen interessanten und fairen Weg, den ich bei meiner nächsten Vinylveröffentlichung auch anbieten werde.“

Aber auch die positiven Aspekte der Entwicklung neuer Medien weiß Matzge zu schätzen. „Durch Internet und Digitaltechnik ist die CD-Produktion mit akzeptablem Sound prinzipiell wesentlich billiger geworden. Ein Album kann man heute mit Laptop und ein paar guten Mikros im Übungsraum aufnehmen, wenn man einen guten Toningenieur oder Produzenten hat, der weiß, wie’s geht. Übers Internet kann ich als Label beispielsweise eine ‚United Colors Of Ska 4.0‘ mit zig Ska-Bands aus entlegenen Ecken der Welt zusammenstellen. Die Aufnahmen kann ich mir per E-Mail schicken lassen. Für richtig gute und erfolgreiche Bands sind die Produktionsbedingungen heutzutage eher besser geworden.“

Nicht nur die Arbeitsbedingungen haben sich verändert, auch die Variationen im Ska-Genre sind moderner und vielfältiger geworden. Mit Veröffentlichungen von Bands wie DALLAX, PORKERS oder SPITFIRE bewegt er sich immer wieder im modernen Fahrwasser und bereichert meiner Meinung nach damit die Ska-Szene. „Auch wenn ich mir damit bei der ‚Ska-Polizei‘ keine Freunde mache: ich finde es absolut wichtig, dass Ska sich weiter entwickelt. Wenn wir nicht wollen, dass Ska mal ein ähnlich verstaubtes Image wie Blues oder Dixieland-Jazz kriegt und nur noch 70-Jährige zum Konzert kommen, gibt es ja eigentlich keine Alternative. Wenn man den 2Tone-Bands verboten hätte, Ska aus Jamaika mit Punk und New Wave zu kombinieren, hätten wir auf 2Tone-Ska und Bands wie MADNESS und SPECIALS verzichten müssen.“

Die mitunter erfolgreichsten Veröffentlichungen auf Pork Pie, die beiden Sampler-Serien „Ska ... Ska ... Skandal“ und „United Colors Of Ska“, sprechen für Matzges Philosophie. Früher hätte er gerne einmal mit MADNESS zusammengearbeitet. „Wenn man sich jetzt allerdings unsere Idole von einst, und damit meine ich nicht nur MADNESS, live oder mit neuen Veröffentlichungen anhört, ist bei einigen für mich doch etwas von ihrem damaligen Glanz verloren gegangen.“

Heute ist Matzge am wichtigsten, dass er persönlich mit den Leuten klar kommt, dass alle Beteiligten an einem Strang ziehen und die Bands etwas zu sagen haben. „Junge Bands müssen heute selbst sehr viel mehr Initiative und Geld aufbringen, um erfolgreich zu werden. Als ich mit Pork Pie angefangen habe, gab es in Deutschland vielleicht zwanzig Ska-Bands, die überregional bekannt waren. Heute gibt es bereits in Berlin doppelt so viele Bands, die irgendwie mit Ska in Verbindung gebracht werden. Das bedeutet, man muss als Band fleißiger als andere sein, mehr Engagement und Zeit zum Proben und Touren aufbringen und sich ständig im Internet präsentieren. Das kann ein Label den Bands nicht abnehmen.“

Durch all diese Argumente stellte sich mir irgendwann die Frage, ob Pork Pie in all den Jahren ein Skinhead-Label geblieben ist. „Wenn es darum geht, nur Musik von Skinheads für Skinheads zu veröffentlichen, wäre die Antwort natürlich ein klares Nein. Andererseits ist Pork Pie aus der S.H.A.R.P.-Szene Deutschland entstanden und damals habe ich mich als S.H.A.R.P.-Skin verstanden. Wenn man jahrelang eine bestimmte Tradition gelebt hat, ist das wie ein Tattoo, das man nicht so einfach wieder ablegen kann.“

Während aber andere Skinhead-Labels auch Oi!- oder (Northern) Soul-Platten präsentieren, geht Matzge unbeirrt seinen eigenen Weg, ohne Trends hinterherzulaufen. Artverwandtes veröffentlicht er auf seinem neuem Label Flat Daddy Records. Sollte ihm eine Oi!-Band zusagen, würde Matzge nicht abgeneigt sein, ansonsten aber sieht er den Markt mit ausreichend guten Labels, auf denen Oi! veröffentlicht wird, gesättigt. Das alleine ist für ihn Grund genug, nicht umfangreicher einzusteigen. „Privat höre ich eher mal einen alten Oi!-Klassiker als aktuelle Sachen.“

Mit den Dänen NAPOLEON SOLO hatten Pork Pie bereits 1989 einen Vertreter in Sachen Ska meets Soul. „Insofern ist das nichts Neues.“ Auch hier gilt, würde Matzge eine interessante Band für sich entdecken: „Ich kann ich mir ein Soul-Album sehr gut vorstellen. Allerdings weniger, um damit an Chart-Erfolge von Amy Winehouse anzuknüpfen. Diese Rechnung geht garantiert nicht auf. Das wäre dieselbe dämliche Politik, die Major-Firmen andauernd machen. Ein neuer Act wird erfolgreich bei der Konkurrenz. Dann nehme ich mir die perfekte Zweitausgabe davon, schmeiße die gleiche Marketing-Maschine an und kassiere ab. Das kann’s nicht sein, mal abgesehen davon, dass gerade heutzutage irrsinnige Budgets erforderlich sind, die ich natürlich nicht habe.“

Matzges Augenmerk richtet sich derzeit auf Finnland. Ein neues Ska-Paradies will er dort entdeckt haben: „Nachdem bereits die VALKYRIANS dort sensationelle Erfolge hatten und inzwischen auch hierzulande einen super Namen haben, drehen dort im Moment alle durch wegen einer jungen Band namens CAPITAL BEAT.“ Wenn alles klappt, erscheint im Herbst ein Album auf Pork Pie.

Konzentrieren wir uns auf die Szene in Deutschland. Was hat sich da über die Jahre aus Matzges Sicht verändert? „Die Ska-Szene ist im Wesentlichen frei von Rassisten und ähnlichen Hohlköpfen. Das haben wir zu einem guten Teil der S.H.A.R.P.-Bewegung aus den neunziger Jahren und den Bands dieser Zeit zu verdanken. Schade finde ich, dass sich die Rudeboy-Szene bis auf seltene Ausnahmen zurückgezogen hat. Eigenartig finde ich, wenn sich neuerdings Leute bei Ska-Konzerten in der Pause auf den Boden setzen. Was gar nicht geht, aber leider in den letzten Jahren zugenommen hat, ist der Umstand, dass der Nachwuchs von Rechts sich zunehmend und fast schon stilsicher smarte Rudeboy-Klamotten oder wahlweise auch Anarcho-Punk-Sachen anzieht und versucht, sich damit zu Unrecht eine ‚credibility‘ zu erschleichen.“ Mit dieser Unart hat mittlerweile jede eigenständige (Sub-)Kultur zu kämpfen und es liegt an uns, ob wir ihnen den Weg durch apathisches und lethargisches Verhalten ebnen oder ihnen Kontra geben. Vielleicht erlebt dadurch ja die S.H.A.R.P.-Bewegung ein Revival.

Aber zu guter Letzt noch einmal Matzge ganz privat, ohne Geschäftsgebaren und Labelpolitik. Was treibt eigentlich Herr Bröckel, um sich von einem stressigen Bürotag zu erholen? „Früher war ich immer nur am Feiern. Seit einigen Jahren betreibe ich zunehmend Funsport-Arten wie Windsurfing, Wake- oder Snowboarden.“ Matzges ultimativer Tip in Sachen Stressausgleich ist und bleibt jedoch ein gutes Ska-Konzert. Zum Jubiläum wird es das ganze Jahr über regionale Konzerte mit Pork Pie-Bands geben, mit etwas Glück auch in anderen Ländern. Und natürlich einen „20 Jahre Spirit Of Ska“-Sampler. Auf die nächsten zwanzig Jahre!