JOHN LYDON / PUBLIC IMAGE LTD.

„My body and mind is the SEX PISTOLS, but my heart and soul is P.i.L.“

Will man die Frage beantworten, wer die ultimative Ikone des Punkrocks ist, landet man jenseits persönlicher Geschmacksempfindungen und musikwissenschaftlicher Diskussionen zwangsläufig bei den SEX PISTOLS und ihrem karottenhaarigen, stachelfrisurigen Frontmann mit dem stechenden Blick: Johnny Rotten. Der Mann verkörperte 1976/77 für die Massenmedien in England und weltweit die furchterregende Aussage einer wildgewordenen Jugendbewegung, „I am an antichrist. I am an anarchist. Don’t know what I want, but I know how to get it.“

Zwar schickte sich bald der selbstzerstörerische Sid Vicious an, Rotten die Führung in Sachen medialer Präsenz und „ungehörigen Verhaltens“ streitig zu machen, aber nach der Auflösung der Pistols Anfang 1978 und Sids Drogentod im Februar 1979 war nur noch Rotten übrig, der sich vom manipulativen Manager Malcolm McLaren distanzierte und mit PUBLIC IMAGE LTD. aka P.i.L. noch ’78 begann, statt seiner rebellischen seine eher kreative Seite zu zeigen.

P.i.L. war letztlich ein viel längeres Leben beschieden als den SEX PISTOLS, Lydon erwies sich als fähiger, ernsthafter Musiker und Sänger, und die Alben „First Issue“ (1978), „Metal Box“ (1979), „Flowers Of Romance“ (1981), „This Is What You Want ... This Is What You Get“ (1984), „Album“ (1986), „Happy?“ (1987), „9“ (1989) und „That What Is Not“ (1992) konnten zwar nicht den kommerziellen Erfolg der krawalligen Vorgänger wiederholen, doch mit den Singles „This Is Not A Love Song“ (1983) und „Rise“ (1986) gelangen Lydon in den Achtzigern zwei recht erfolgreiche Hits.

Nach dem letzten Album wurde es ruhig um die Band, Lydon begann 1993 die Arbeit an seiner Autobiografie, die 1995 unter dem Titel „Rotten – No Irish, No Blacks, No Dogs“ erschien, und 1996 kam dann der Paukenschlag, der die Punks weltweit wahlweise elektrisierte oder Schlimmstes befürchten ließ: Die Reunion der SEX PISTOLS mit Steve Jones, Glen Matlock und Paul Cook. Die Reaktionen auf die Konzerte waren gemischt, 2002/03 sowie 2007/08 folgten weitere Konzerte, und im September 2009 schließlich kündigte Lydon die Reunion von P.i.L. an, mit den beiden frühen Bandmitgliedern Bruce Smith und Lu Edmonds. Ende 2009 gab es Konzerte in England, und im Frühjahr 2010 Auftritte in den USA, denen im August eine Deutschlandtour folgen sollte, die aber Anfang Juli abgesagt wurde – wegen schleppend anlaufendem Vorverkauf, wie man vermuten darf.

Diese geplante Tour nahm ich zum Anlass, um beinahe scherzhaft bei der Konzertagentur nach einem Interviewtermin mit John Lydon zu fragen, in Erwartung einer Absage. Doch es kam anders: Einen Tag später durfte ich Lydon anrufen, und auch wenn mir sonst Lampenfieber angesichts eines Interviewtermins fremd ist, war es diesmal anders. Ich hatte mich umfassend über Lydon informiert, mir unzählige Anekdoten über seine feindselige Attitüde durchgelesen, YouTube-Ausschnitte pampiger TV-Interviews angesehen, war mir vorzugsweise seitens britischer Massenmedien kolportierter zweifelhafter Aussagen über diverse Themen und Personen bewusst und entsprechend bereit, mich mit einsilbigen Antworten auf elaborierte Fragen abfertigen zu lassen. Doch es kam anders: Lydon bestand auf mindestens 30 Minuten Interviewzeit statt der angefragten 20 – und redete letztlich 40 Minuten wie ein Wasserfall, schnitt ungefragt so ziemlich alle Themen an, zu denen ich etwas wissen wollte, und erwies sich als höflicher, eloquenter Gesprächspartner, was die Frage aufwirft, inwiefern der Herr zwar einerseits sicher gerne mit den britischen Massenmedien auf „Bild“-Niveau spielt, ob der aber nicht auch von quotengeilen Redakteuren und Journalisten gerne als krawalliger Blödmann dargestellt wird, in dem man sich eben nur jene lauten Passagen aus seinen jeweiligen Statements herauspickt.

Wie auch immer, hier nun die Abschrift meines Interviews mit dem Mann, der seit den Siebzigern mit Nora Forster verheiratet ist, was ihn zum Stiefvater jener Frau macht, die unter dem Namen Ari Up als Sängerin der legendären Frauen-Punkband THE SLITS bekannt ist. Lydon lebt in Los Angeles.

Guten Morgen, John.

Guten Morgen. Hast du es es vorhin schon mal versucht? Da hat jemand kurz vor sieben versucht mich zu erreichen?

Nein, das war ich nicht – und wenn, würde ich es jetzt möglicherweise nicht zugeben, haha.

Schon klar, ich suche ja auch nur nach einem Schuldigen. Aber du weißt doch, man sollte immer die Wahrheit sagen. Ich habe es als klügste Verhaltensweise erkannt, auch wenn man sich damit viele Feinde macht – aber das ist es wert.

So ein Verhalten kann einem aber auch schnell als Groß- und Lautmäuligkeit ausgelegt werden.

Ich bin weder das eine noch das andere. Aber ich verteidige mich. Ich bin eigentlich ein freundlicher und offener Mensch, und ich nehme das, was mir Menschen sagen und erzählen, so lange als die Wahrheit, bis sich das Gegenteil beweist. In dem Fall allerdings verwende ich das gegen sie, denn ich mag es nicht, an der Nase herumgeführt oder getäuscht zu werden.

Woher kommt diese Einstellung?

Das geht auf die Erkrankungen in meiner Kindheit zurück. Ich hatte Meningitis und war ein Jahr lang im Krankenhaus, und von vier Monaten dieser Zeit fehlt mir jede Erinnerung. Ich brauchte dann vier Jahre, um meine Erinnerung wieder herzustellen, ich hatte sogar vergessen, wer meine Eltern sind. Ich musste in dieser Zeit lernen, anderen Menschen, die ich als Fremde ansah, absolut zu vertrauen. Und diese Erfahrung hat mich nie wieder losgelassen. Ich kann absolut nicht verstehen, warum sich Menschen gegenseitig anlügen. Wir als Spezies können uns nicht weiterentwickeln, wenn wir uns dieses Teils unserer Natur nicht entledigen.

Nun gibt es aber Verhaltensforscher, die Täuschung als evolutionsgeschichtlich nützlichen Teil der menschlichen Natur ansehen.

Ich stimme dem nicht zu. Zu täuschen ist ein erlernter Trick, aber nicht Teil unserer Natur. Zu lügen und zu täuschen ist unnötig und verkompliziert nur dein Leben. Ich habe viel zuviel Wichtiges zu erledigen in meinem Alltagsleben, mit meiner Frau, meinen Freunden, meiner Familie, meinen Enkeln. Da bleibt keine Zeit für Lügen! Und ich habe definitiv kein Interesse an Lügen in Bezug auf meine Arbeit, der Teil meines Lebens, auf den ich am meisten stolz bin. Ich bin stolz darauf, Songs geschrieben zu haben, die einfach nur sagen, was Sache ist. Damit meine ich nicht, andere anzuklagen oder anderen für irgendwas die Schuld zu geben. Stattdessen gebe ich mir oft an Stelle anderer selbst die Schuld. Wenn jemand irgendwas total Falsches und Böses tut, muss man sich immer bewusst sein, dass man auch selbst dazu hätte fähig sein können. Und wenn man das verstanden hat, also dass diese Fähigkeit in jedem Menschen angelegt ist, ist das eine wirklich befreiende Erkenntnis. Manche Menschen allerdings mögen es nicht, wenn man sie dazu bringt, sich ihrer eigenen Unaufrichtigkeit bewusst zu werden, doch wenn jemand so reagiert, ist er sowieso keiner, den man in seiner näheren Umgebung braucht, dann gibt man sich mit den falschen Leuten ab. Warum sollte man versuchen, Lügner, Fälscher und Täuscher zu beeindrucken? Ich weiß, ich weiß, ich tendiere dazu, mir über solche Dinge zu viele Gedanken zu machen, aber um es auf den Punkt zu bringen: Ich habe nicht die Energie zu lügen, und wenn ich es doch mal tue, fühle ich mich schlecht. Aber ich bekomme das eben auch nicht aus mir raus, das sind wohl meine irischen Wurzeln, das Geschichtenerzählen liegt mir im Blut. Wir Iren sitzen einfach gerne beisammen, trinken und fantasieren herum. Außenstehende fassen solche Gespräche dann gerne mal als Unterhaltung über Reales auf – was es nicht ist. Storytelling ist einfach ein sehr gutes Mittel zur Reinigung der Seele.

Wo hast du diese Fähigkeit her? Von deiner Familie?

Von meiner Familie, meinen Freunden – aus meiner Lebenserfahrung, aus der Fähigkeit zu und dem Spaß am Kommunizieren. Du musst verstehen, diese Krankheit in meiner Kindheit war ein Schlüsselerlebnis: Als ich mit acht aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wollte ich alles wissen und lernen, und diese Neugier habe ich mir bis heute bewahrt. Ich bin allerdings nicht an jedem winzigen Detail einer Sache interessiert, denn das würde den kreativen Prozess töten. Kreativität speist sich zu 90% aus Unwissenheit, aus der Bereitschaft und dem Interesse, mehr zu erfahren. Wenn man zu viel weiß, stellt sich oft Arroganz ein, andererseits weiß ich lieber zu viel als zu wenig. Ich sehe die Welt also oft noch mit den Augen eines Achtjährigen, und ich habe auch noch sehr exakte Erinnerungen an bestimmte damalige Erlebnisse. Man würde meinen, die seien mit der Zeit verblasst, aber da sie für mich so wichtig sind, ist das nicht der Fall. So was brennt sich einem ins Gehirn ein, wie Schmerz oder Freude auch. Wenn ich es schaffe, diese Gefühle exakt in einem Lied zum Ausdruck zu bringen, dann macht mich das sehr glücklich. Und ich denke, PUBLIC IMAGE LTD. schaffen genau das. Ein Abfolge monotoner Beats und Töne ergeben in einer abstrakten Weise zusammengefügt eine Imitation der Natur. Wir werden es nie schaffen, die Natur zu bezwingen, aber es ist eine annähernd exakte Imitation, so nah man an das Original herankommen kann, und das ist für mich momentan sehr befriedigend, denn ich habe bislang noch nicht das perfekte Album gemacht, sofern das überhaupt möglich ist.

Ist absolute Perfektion überhaupt wünschenswert?

Ich habe dazu mal ein interessantes Gespräch geführt mit einem arabischen Teppichhändler. Der erzählte mir, dass in jeden Teppich ein Fehler eingearbeitet wird, denn vor Gott dürfe nichts perfekt sein. Damals hielt ich diese Aussage für lächerlich, habe aber später verstanden, was er damit meinte: Man kann eine Sache auch ruinieren, indem man sie zu perfekt macht.

Das Streben nach Perfektion kann einen verrückt machen ...

Jajaja, oder es wird ein Mercedes oder ein BMW daraus, hahaha. Deshalb fahren meine Frau und ich einen Volvo, wobei ich selbst sowieso nicht fahre – sie fährt mich. Meine Frau kommt ja aus Deutschland, und für sie sind Mercedes und BMW Autos, die man als Taxi fährt, aber nicht privat. Und meine Frau hat mir auch deutschen Humor erklärt, den man oft nicht als solchen erkennt und der ja international ja nicht gerade berühmt ist.

Ach echt? Ich finde ja, deutscher Humor ist sehr nah dran am britischen Humor ...

Hahaha, sicher. Über die Japaner wird ja auch gesagt, sie seien humorlos, aber das stimmt nicht. Wenn man einmal die Kulturbarriere überwunden hat, öffnen sich die Menschen, und das ist eine erstaunliche Erfahrung. Ich spreche ein paar Brocken Japanisch, weil ich so oft da war. Das ist wie eine zweite, na ja, dritte ... äh, vierte Heimat für mich. Ich bin einfach ein Zigeuner, das liegt mir von der Familie meines Vaters her im Blut. Der kommt aus Galway im Westen von Irland und hatte Tinker und Zigeuner in der Familie. Mir ist davon der Drang geblieben, ständig unterwegs zu sein, immer eine neue Umgebung um mich herum zu brauchen. Deshalb gehe ich auch so gerne auf Tour. Ja, ich hasse die Panik direkt vor dem Auftritt, aber jeden Tag eine andere Stadt zu sehen und zu erkunden, das liebe ich. Allerdings ist das bei mir nicht immer einfach, ich bin einfach zu bekannt, und nicht jeder respektiert die Privatsphäre. Bekannt zu sein hat auch seine Nachteile, macht aber auch viel Spaß, denn manchmal hat man ganz erstaunliche Begegnungen und gerät in höchst spannende Gespräche.

Interessant, dass du dein Auftreten in der Öffentlichkeit erwähnst: Wenn man mal im Internet nach Videos von irgendwelchen TV-Auftritten deinerseits sucht, bekommt man eine Menge Treffer und viele Interviewschnipsel, die dich als recht krawalligen Kerl dastehen lassen. Gleiches gilt für das, was die britische Boulevardpresse über dich schreibt. Würde man dich danach beurteilen ...

... wäre das ein Fehler, oder? Das Problem sind die ganzen Paparazzi, und ich denke, dass sich dieses Phänomen, bezogen auf England, auf dem Rücken der SEX PISTOLS entwickelt hat. Die Fotografen und Journalisten sind uns gefolgt, bis nach Amerika, und die erfanden ihre Geschichten und Schlagzeilen einfach. Anfangs störte mich das noch, irgendwann wurde es mir dann egal, ich habe die einfach machen lassen, was sie wollten. Unglücklicherweise erkennt man rückblickend jetzt, für was damals die Wurzeln gelegt wurden – für etwas, das wirklich böse ist. Es wurde damals einfach die Wahrheit manipuliert, um mehr Zeitungen zu verkaufen, und es wurde immer schlimmer. Heute sind die Paparazzi ein ernsthaftes Problem, da sie oft Menschen auch körperlich angreifen. Vor ein paar Jahren war ich bei den Comedy Awards in England eingeladen, und als ich das Gebäude verließ, blickte ich in hunderte Blitzlichter. Ich habe allerdings eine gewisse Neigung zu Epilepsie, und das eine Foto, auf dem mein Hirn wegen dieser Blitzlichter gewissermaßen „furzt“ und ich entsprechend seltsam aussehe, ist das Foto, das gedruckt wurde, mit der Unterzeile, ich sei betrunken gewesen.

Andererseits vermeidest du die Öffentlichkeit auch nicht.

Warum sollte ich? Allerdings ist es mir sehr wichtig, meine Familienmitglieder zu schützen. Um jeden, der denen nachstellt oder irgendwelchen Mist über sie schreiben will, kümmere ich mich ganz ernsthaft. Und in der Regel wird das das Einschalten eines Anwalts beinhalten. Ansonsten verfolge ich die Taktik des passiven Widerstands, denn ich halte Gandhi für ein wirkliches Genie. Er hat das Leben auf eine dramatische Weise anders gesehen, und er ist politisch wie persönlich ein sehr großer, beruhigender Einfluss auf mich.

Wie soll ich das verstehen? Dass du ruhiger geworden bist? Diesen Eindruck habe ich nicht unbedingt.

Ich meine das im Sinne eines beruhigenden Einflusses auf mein Herz und meine Seele. Das bedeutet nicht, dass mich das Leiden Unschuldiger, Gewalt gegen Tiere, die Konzentrationslager-Attitüde gegenüber Strafgefangenen und viele andere Dinge weniger wütend machen. So was entsetzt mich, ich habe das Gefühl, aufstehen zu müssen, um sie stellvertretend zu verteidigen. Wut bedeutet Energie! An dieser Erkenntnis habe ich lange gearbeitet. Wut ist nicht gleichbedeutend mit Gewalt, denn das ist die unglückliche Nebenbedeutung dieses Wortes. Ich habe es für mich geschafft, meine Wut positiv zu kanalisieren und zu fokussieren. Man muss eben viel über die Dinge nachdenken, wachsam und aufmerksam sein, aufgeschlossen sein gegenüber anderen Philosophien – und das bedeutet: Bücher lesen, entdecken, was andere Leute denken, das mit dem vergleichen, was man selbst denkt. Nur so lernt man dazu, und vor allem darf man nie davon ausgehen, dass man immer Recht hat. Wenn man aber festgestellt hat, etwa in vorherigen Auseinandersetzungen, dass man richtig liegt, dann hält man an seiner Meinung fest, bis man das Gegenteil bewiesen bekommt. Und ich bin wirklich glücklich, mein Leben nach diesen Prinzipien zu leben.

Was hat es gebraucht, um dich zu dem Menschen zu machen, der du heute bist?

Eine Menge Kalamitäten. Und das fängt schon mit dem Tag meiner Geburt an. Ich habe es irgendwie geschafft, die Musikindustrie zu infiltrieren und mich nicht manipulieren zu lassen, was wiederum mein Label unglaublich ärgert und in mangelndem Support ihrerseits resultiert – in einem Ausmaß, das man schon beinahe als Sabotage bezeichnen könnte. Ich befinde mich in einer Situation, wo die versuchen, mich ständig in den roten Zahlen zu halten, so dass ich nie etwas verdiene. So sieht die Realität aus, und ich bin nicht der einzige Musiker, der von so was betroffen ist.

Jüngere, neue Bands haben das erkannt und versuchen sich heute mit einem eigenen Label zu behelfen.

Ja, aber die wenigsten machen das wirklich selbst, die meisten haben Anwälte, die das für sie tun. Wenn das bedeutet, dass immer mehr Anwälte Musik machen, würde ich keinem raten, sich so was anzuhören, hahaha. Und wenn erst die Buchhalter anfangen, Songs zu schreiben, haben wir bald ein noch größeres Problem.

Kommen wir mal konkret zum Thema Musik: Wie kommt es zu dieser ersten Europatour von P.i.L. seit vielen Jahren?

Diese Konzerte sind Teil einer weltweiten Tournee, und die bisherigen Konzerte liefen sehr gut. Zu den Besuchern zählen einerseits die P.i.L.-Devotees, die schon ewig unsere Fans sind und die ich wirklich liebe, aber es kommen auch jede Menge neue, junge Leute, darunter viele Frauen – und alte Leute, die uns früher keine große Beachtung geschenkt haben. Gerade die vielen jungen Frauen im Publikum finde ich überraschend, denn das beweist, dass sie erstmal Musik hören, die nicht komplett hirnlos ist. Denn ja, es gibt eine Alternative zu Britney Spears und solchem Teenie-Pop. Ja, man kann Spaß an Musik haben und tanzen, die auch eine ernsthafte Seite hat. Da fühlt man sich intellektuell doch auch gleich viel besser. Wenn ich heute die Musik in den Charts höre, stoße ich immer auf Einflüsse, die auf meiner Musik beruhen, für die ich aber noch nie irgendeine Art der Anerkennung erfahren habe. Ich finde das schlimm, dass irgendwer einfach ganze Teile aus einem meiner Songs kopieren darf, ob nun einen Beat oder eine Textzeile. Das regt mich auf, denn es zeigt mir, dass jemand, der so was tut, es nicht einmal für nötig hält, sich selbst etwas auszudenken und sein Werk stattdessen aus Bestandteilen anderer Werke zusammenkopiert. Und dabei mag ich Popmusik, die Top 30, Dance Music, ja ich mag fast alle Arten von Musik – nur solche nicht, die nicht eigenständig ist. Auf Kopien und Imitationen reagiere ich sehr unnachsichtig.

Originäres schafft man durch das Veröffentlichen neuer Songs. Können wir mit einem neuen P.i.L.-Album rechnen?

Ja, Ende des Jahres, und hoffentlich nicht auf dem Label, auf dem ich derzeit noch bin, denn deren Desinteresse an mir kommt mittlerweile wirtschaftlichem Selbstmord gleich. Whatever ... Fuck ’em. Um es höflich auszudrücken. Ich habe wirklich viel für Virgin getan, aber die sind völlig frei von jedem Gefühl der Anerkennung dafür, das ist echt lächerlich.

Was werden P.i.L. 2010 Innovatives und Interessantes zur Musikgeschichte beizutragen haben?

Fakt ist, dass die meisten anderen Akteure in der Musikwelt keine Chance haben, zu uns aufzuschließen. Ich hätte mir auch 30 Jahre Auszeit gönnen können und wäre der Meute immer noch voraus. Und das deshalb, weil ich einem ganz simplen Prinzip folge: Ehrlichkeit. Und Inhalte. Und wenn man mich in irgendeine musikalische Schublade stecken will, dann kommt dafür nur Folk Music in Frage, schon wegen meiner irischen Herkunft. Ein Folk-Song ist ein Lied, das von einem normalen Menschen aus dem Volk für eben solche Menschen geschrieben wird. Der muss eine Bedeutung haben für dich, er muss dir bei der Bewältigung deiner Probleme helfen können, und er muss zeitlos sein, frei von modischem Beiwerk. Ein Folk-Song ist zeitlos, das zeichnet ihn aus. Und das Wenigste von dem, was P.i.L. geschaffen haben, wird jemals altern. Es wird immer Biss haben, denn es ist originär, ehrlich und kommt von Herzen. Denn ich sage, was ich denke, und das bedeutet eine Menge. Es ist schwer, so viel von seinen Zweifeln und Geheimnissen preiszugeben. Und das zeichnet gutes Songwriting aus – es unterscheidet sich darin nicht von der Arbeit eines guten Schriftstellers. Und es hilft immer, bei sich selbst mit der Suche nach Ursachen anzufangen, als andere für sein Schicksal verantwortlich zu machen. Wenn man die Schwächen anderer sieht und dann reflektiert, dass man selbst den gleichen Weg hätte einschlagen können, dann hilft das weiter, man lernt zu vergeben. Wobei Vergeben nicht gleichbedeutend ist mit Vergessen. Lerne zu vergeben! Deshalb schreibe ich ein Lied wie „Disappointed“, in dem es um eine enttäuschte Freundschaft geht. Aber Freunde sind dazu da zu vergeben. Und wenn sie einen mehrfach enttäuschen, kann man sie immer noch eliminieren, haha.

Freunde: Ein gutes Stichwort, um auf deine Mitmusiker des Jahres 2010 zu sprechen zu kommen.

Lu Edmonds spielt Gitarre und ist ein echtes Genie, schon rein menschlich gesehen. Der könnte keiner Fliege was zuleide tun. Bruce Smith ist ein unglaublicher Drummer, und wir drei verstehen uns auf der Bühne in einer Weise, die schon beinahe beängstigend ist. Wenn einer von uns sich beim Spielen hinwegtragen lässt, schaffen wir es immer, ihm zu folgen, und Scott Firth, der neue Bassist, ist genauso drauf, der versteht uns perfekt. Der hat von Steve Winwood bis zu den SPICE GIRLS schon mit allen gespielt, und so eine musikalische Bandbreite abdecken zu können, sowie ein völliges Fehlen musikalischer Vorurteile, das verleiht einer Band große Stärke. Mehr kann man nicht verlangen von einem Musiker.

John, mich beeindruckt deine unglaubliche Begeisterung, wenn du über deine Musik sprichst.

Ha, meine Begeisterung ist heute so groß wie damals, als ich gefragt wurde, ob ich Sänger der SEX PISTOLS sein wolle. Das war für mich das bislang Beste, was mir in meinem Leben passiert war. Aber dann die Erkenntnis: „Autsch, ich kann ja gar nicht singen! Was jetzt?“ Also musste ich meine eigene Art zu singen entwickeln, und anstatt irgendeinen anderen Rock’n’Roll-Sänger zu imitieren, ging ich meinen eigenen Weg. Dabei half mir, dass ich Texte schrieb und über Dinge sang, die mich wirklich beschäftigten. Sowohl die Texte der Songs der SEX PISTOLS wie die von P.i.L. sind kein achtlos dahingesungenes Geplapper, um Platten zu verkaufen. Die bedeuten etwas, die sind ehrlich, und ein guter Song schafft es, das äußere Image zu überwinden, schafft es, richtig tief einzuschneiden, in dein Herz wie deine Seele. NIRVANAs „Teen Spirit“-Single war in dieser Hinsicht absolut fantastisch. So ein Song sprengt die Grenzen von Posen, er inspiriert ungeheuer, der befreit das Hirn und nimmt dich mit in eine Traumlandschaft. Bands, die so was schaffen, sind wundervoll. ROXY MUSIC schafften das damals bei mir mit ihrer ersten Single „Virginia Plain“, obwohl sie so alberne Kleidung trugen. Himmel, wie dieses Lied es schaffte, meine Gedanken in eine andere Umlaufbahn zu katapultieren! Und genau das ist für meinen Umgang mit Musik wichtig: Nur wenige Bands und Songs schaffen es, solche Gefühle hervorzurufen. Dieses Erlebnis mit ROXY MUSIC ist der Grund dafür, weshalb ich Brian Ferrys Karriere seitdem aufmerksam verfolge, und ich gestehe, dass ich sogar seine Soloalben liebe, die sonst keiner hören will, haha. Ein anderer Verrückter, den ich sehr schätze, ist Marc Almond von SOFT CELL: Als der anfing, Soloalben zu machen, wollte die keiner hören – aber ich fand sie sehr offenbarend und berührend und interessant, denn er singt da über sein Leben und seine Erfahrungen, auch wenn manche hart an der Grenze des Erlaubten sind. Es sind faszinierende Einsichten in die Art und Weise, wie ein anderes menschliches Wesen das Universum wahrnimmt. Ganz wundervoll! Und genau deshalb liebe ich Popmusik.

Gibt es denn irgendwelche aktuellen Punkbands, die dein Interesse wecken konnten?

Wirklich abstoßend – und ich will da nicht auf persönlicher Ebene grausam zu ihnen sein – finde ich GREEN DAY. Ich hasse sie. Sie sind einfach Kleiderständer. Die ziehen sich etwas über, was eine gewisse Ähnlichkeit mit Punk hat, die Lederjacken, die schwarze Kleidung, und so weiter, und ahmen dann nach. Und dabei haben sie sich nie die Sporen oder das Recht verdient, das zu tun. Wo waren die vor 30 Jahren, als Punk eine Rolle spielte? Ja, ich weiß, wahrscheinlich noch nicht oder gerade erst geboren, aber sie verstehen eben nicht, dass die Gewalt von Punk sich genau gegen solche Typen wie sie richtete, die sich so kleideten. Das finde ich erstaunlich. Und ja, ich habe die Kampfwunden, um zu beweisen, dass es so war. Ich wurde damals mit dem Messer angegriffen, man warf Flaschen auf mich, Gangs überfielen mich, doch ich stand das alles durch. Und dann kommen solche Typen daher und reduzieren Punk auf diese Bubblegum-Aspekte. Die äffen nur nach, was wir damals gemacht haben.

Inklusive eines Broadway-Musicals ...

Ja, auch das noch. Come on ... really! Wie wäre es, mal eine Sache voranzubringen?

John, vor kurzem starb Malcolm McLaren.

Und kurz davor starb mein Vater. Meine Gedanken galten nur meinem Vater. Können wir es dabei bewenden lassen?

Kein Problem. Ich erreiche dich in Los Angeles – du lebst dort auch?

Ja, wegen des Wetters. Hier ist es immer über 20 Grad warm und das bedeutet, dass ich nicht ständig krank bin. Seit ich als Kind so krank war, bin ich sehr empfänglich für Nasennebenhöhlenentzündungen, und das Klima in England führte dazu, dass ich dort ständig krank war und kaum zum Arbeiten kam. Also lebe ich jetzt hier, wo mir das Wetter weniger anhaben kann. Ich lebe auch nahe am Strand, weit weg von den Dieselschwaden von Downtown Los Angeles. Und weit weg vom Londoner Nebel, von dem man schneller Arthritis bekommt, als man denkt. Außerdem hat das Klima den Vorteil, dass ich mir meine Stimme bewahrt habe, die ist in Topform und ich singe heute besser als je zuvor, und zusammen mit der besten Band, die ich je hatte, ist es ein absolutes Vergnügen, Konzerte zu spielen. Ich mache das erste Mal in meinem Leben die Erfahrung, dass ich mich darauf freue, auf die Bühne zu gehen, anstatt wie früher panisch diesem Moment entgegenzublicken, immer in der Angst, dass alles falsch läuft. Ich weiß, dass ich mich auf diese Band verlassen kann, und denen geht es mit mir genauso. Im Übrigen war für mich die Persönlichkeit eines Musikers schon immer wichtiger als seine Fähigkeiten, denn wenn man es nicht erträgt, mit jemandem auf engstem Raum zusammen zu sein, sollte man mit so jemandem nicht arbeiten. Und es hilft auch nicht, getrennt zu reisen – das macht alles nur noch schlimmer. Dummerweise hatten wir uns mit den SEX PISTOLS seinerzeit genau in diese Situation manövriert: Wir reisten alle separat, und das ist ganz, ganz dumm.

Mit P.i.L. reist ihr also gemeinsam, was mich zur Frage bringt, ob man denn als Fan all die Songs erwarten kann, die man gerne hören würde.

Wir spielen ungefähr zwei Stunden, und wir werden von den frühesten Anfängen bis zum letzten Album alles spielen, was wir zu bieten haben, und zwischendurch gibt es ein paar Songs von meinem Soloalbum. Die Songs passen alle gut zueinander, keine Sorge, doch wer nur Sachen aus einer bestimmten Phase oder einem Album erwartet, der wird überrascht sein und feststellen, dass alle Songs in einer klaren Verbindung zueinander stehen und eine Entwicklung darstellen. Größtenteils sind die Stücke in chronologischer Reihenfolge ihrer Entwicklung, aber je nach Lust und Laune gehen wir auch mal unvermittelt in ein anderes Stück über. Das hängt von der Stimmung und dem Publikum ab, wir stehen nicht so sehr darauf, angebrüllt zu werden, wir sollten doch diesen oder jenen Song spielen. Wenn der Vibe stimmt, dann ergeben sich die besten Momente eines Konzertes, und ich liebe diese Momente. Das sind dann wieder diese Augenblicke von „Dreamscapes“, denn P.i.L. live sind Trance pur. Man sollte da einfach nur mit geschlossenen Augen dastehen und genießen. Musik kann die Seele heilen, ich glaube fest daran. Dazu passt, dass ich über die Jahre unter anderen Namen auch Rave-Musik gemacht. Ich bewundere KRAFTWERK, schon von Anfang an. Diese stoische Art, in der sie ihre Musik vortragen, hat zu meiner Begeisterung nur noch beigetragen. Ihr Konzept war wirklich einzigartig, doch leider haben sehr viele Electronica-Bands versucht, diese Haltung zu imitieren, und es hat immer nur ansatzweise funktioniert. Ich will keine KRAFTWERK-Imitate sehen! Leider gibt es immer noch Plattenfirmen, die solche Kopisten unter Vertrag nehmen. Alles zweite Liga ...

Und die erste Liga? Bands, die dich derzeit begeistern?

Derzeit höre ich keine Musik, denn ich arbeite an meiner eigenen und da kann ich keine Ablenkung von außerhalb meines kleinen Universums brauchen. Einflüsse von außen könnten die Botschaft kontaminieren, so was stört die Konzentration. Das ist meine Art zu arbeiten, und ich bezweifle, dass der Rest der Band meine Einstellung teilt, die letztlich nur Folge meiner Unfähigkeit ist, anders zu arbeiten. Ich muss meine Ohren verschließen, die Außenwelt aussperren. Dazu habe ich in der Vergangenheit versucht, mir beizubringen, wie alles funktioniert, wie man eine Platte aufnimmt. Ich habe ja schon mehrere Platten im Studio produziert, und ich weiß, dass dieses Wissen ein schreckliches ist, denn seitdem kann ich sofort erkennen, wie andere Leute ihre Lieder zusammengefügt haben. All die technischen Tricks und Gerätschaften – ich erkenne sie, konzentriere mich beim Zuhören auf diesen Aspekt und verpasse die eigentliche Message. Andererseits: Vielleicht haben solche Songs auch keine. Mein Hirn lässt sich bei so was leicht ablenken, leider. Das war übrigens auch Sids Problem: Er hat sich unheimlich leicht ablenken lassen, er hat nie lange genug darüber nachgedacht, was er tut, und das führte zu seinem schrecklichen Tod.

Der auch mit Drogen zu tun hatte. Wie ist dein Verhältnis zu Drogen und Alkohol?

Derzeit bevorzuge ich Red Stripe-Bier aus Jamaika. Das trank ich auch gerne, als ich jung war, und dazwischen trank ich sehr viel Corona, doch davon habe ich jetzt die Nase voll. Red Stripe ist allerdings recht stark und nicht überall zu bekommen. Ich trinke aber generell nur noch wenig, ich kann mir das nicht leisten, wenn ich auf Tour bin, denn es greift die Stimme an. Mein einziges Laster sind Zigaretten, ich kann es einfach nicht lassen. Wenn ich nicht rauche, nage ich mir stattdessen die Finger ab, ich bin einfach ein nervöser Typ. Aber ich habe mein Ritual: Zwei Stunden vor einem Auftritt rauche ich nicht, und dann erst wieder in der kurzen Pause vor der Zugabe. Dann muss ich eine Zigarette haben, und ich liebe diesen Moment. Seltsamerweise gibt mir das einen richtigen Kick, um wieder auf die Bühne zu gehen und drei, vier, fünf Songs am Stück zu spielen. Ich brauche diesen Nikotin-Kick, und ich weiß, dass es kindisch ist, aber so ist das eben. Und außerdem bin ich ja kein Kettenraucher.

Willst du noch was loswerden?

Ja, kommt alle zu unseren Konzerten und gebt nichts auf schlechte Presse über mich. Lest die Berichte über die Auftritte in England und den USA, bei denen die Presse erstmals nicht lügen konnte im Zusammenhang mit meiner Person, denn es waren bemerkenswerte Events, mit so einem warmen Gefühl zwischen Fans und Band! Es ist ein ganz anderes Universum, es ist wirklich herrlich und so verschieden von dieser anderen Seite meiner Persönlichkeit, den SEX PISTOLS. Beide Teile haben ihre Berechtigung, beide machen das, was sie tun, aus den richtigen Gründen, aber auf verschiedene Weise: My body and mind is the SEX PISTOLS, but my heart and soul is P.i.L. Das sind zwei komplett verschiedene Universen, die aus dem Hirn einer Person stammen, in dem auch noch anderes vor sich geht. Ich sehe darin übrigens nichts Kompliziertes, wir haben doch alle die Fähigkeiten zu solcher Vielfältigkeit, nur nutzen wir sie nicht, weil wir uns nicht trauen, uns kreativ auszuleben, sie mit anderen zu teilen, daraus zu lernen. Ich habe zwei Hände, eine linke und eine rechte, und ja, ich will beide.

John, besten Dank für deine Zeit. Ich war echt nervös und wusste nicht, was mich erwartet – du hast meine Befürchtungen völlig widerlegt.

Es gibt ja auch Menschen, die guten Grund haben, nervös zu sein, wenn sie mit mir reden – und das sind Menschen, die hinterlistig sind. Du dagegen bist ein aufgeschlossener Mensch, deshalb: Alles Gute und Goodbye. May the road rise to meet you.